Twitter als Spiel um die Deutungshoheit

»So ist das Game, Nutte«. Das ehemalige Motto des deutschen Politikers Christopher Lauer erfasst perfekt, worum es bei Twitter geht. Einerseits um ein »Game«, ein Spiel – und andererseits um die Deutungshoheit. Wer anderen erklären kann, wie das Spiel zu spielen ist, hat es schon gewonnen.

Lauer kennt das Spiel. Bald wird er nicht nur 100’000 Tweets, sondern unzählige Debatten bestritten haben. Persönliche, tiefgründige, sinnlose. Seine Erfahrung macht ihn zum erfolgreichen Spieler.

Sieht man Twitter als Spiel, so ist damit nicht ein Gesellschaftsspiel gemeint, dessen Regel von einem Autorenteam vorgegeben werden. Orientieren sollte man sich am Verständnis des Sprachspiels, wie es Wittgenstein formuliert hat. In Über Gewissheit heißt es:

Um eine Praxis festzulegen, genügen nicht Regeln, sondern man braucht auch Beispiele. Unsre Regeln lassen Hintertüren offen, die Praxis muss für sich selbst sprechen.

Das lässt sich gut an der Bedeutung von Twitter für die Politik ablesen. Politikerinnen und Politiker nutzen Twitter als Bühne, auf der zitierfähige Aussagen getätigt werden, denen dann von Massenmedien Relevanz und Resonanz zugesprochen werden könnten. Dabei ist klar, dass Erwartungen überschritten werden müssen, damit dies passiert. Nur außergewöhnliche Aussagen generieren die erwünschte Aufmerksamkeit. So ergibt sich denn schnell ein Spiel, das darum dreht, Grenzen auszuloten. »Dummheit ist, wenn man trotzdem twittert«, titelte die NZZ in Bezug auf einen missglückten Versuch einer Politikerin, ein schwieriges Thema mit einem schwer verständlichen Tweet aufzugreifen.

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Jeder Twitterskandal gehört zum Spiel. Zum Eklat kommt es nicht, weil User die Regeln nicht verstanden haben, sondern weil die Spielregeln Eklats herbeiführen und vorsehen. Das kann an zwei Beispielen gezeigt werden:

  1. Der ständige Wechsel des Kontextes. Werden Tweets weitergeleitet oder beantwortet, werden sie für ganz neue User zugänglich. Die Kürze der einzelnen Nachrichten erlaubt kein ausführliches Zitieren und keinen sauberen Nachweis von Quellen. So tauchen Inhalte plötzlich in völlig anderen Zusammenhängen auf und nur mit großem Aufwand ist es möglich zu rekonstruieren, wie sie entstanden sind und gemeint waren. Die Absichten vieler User bleiben notorisch diffus.
  2. Das hängt auch damit zusammen, dass viele Aktionen mehrdeutig sind. Einen Tweet weiterzuleiten – so genanntes »re-tweeten« oder das Favorisieren eines Tweets haben unzählige Funktionen.

Gruppendynamik spielt eine besondere Rolle. »Mir ist auch ganz generell aufgefallen, dass sich bei Internetportalen jeder Art bald Gruppen von Nutzern bilden, die relativ eng kooperieren«, schrieb ein Betroffener eines solchen Eklats in einer Bilanz seiner Twitternutzung. So trivial das klingt – weil Menschen in jeder sozialen Aktivität zur Gruppenbildung tendieren – so bedeutsam ist das für das Twitterspiel: Die mögliche Belohnung, Aufmerksamkeit, wird für die berechenbarer, welche sich an Gruppennormen halten können und wollen.

Aber auch für die, welche bereit sind, Gruppen gezielt zu provozieren. Das sind – nach einer klassischen Terminologie. In meinem Trollaufsatz nutze ich als Definition die von Donath, die das Trollen selbst als Spiel definiert:

Trolling is a game about identity deception, albeit one that is played without the consent of most of the players. The troll attempts to pass as a legitimate participant, sharing the group’s common interests and concerns; the newsgroup members, if they are cognizant of trolls and other identity deceptions, attempt to both distinguish real from trolling postings and, upon judging a poster to be a troll, make the offending poster leave the group.

Trolle weisen auf die Bedeutung der Deutungshoheit hin. Sie ziehen einer Gruppe den Boden unter den Füssen weg. Sie kann sich – füttert sie die Trolle – nicht mehr darum kümmern, den eigenen Status zu bearbeiten, sondern verteidigt sich gegen einen Angriff auf die Kommunikationsweise und Normen der Gruppe.

* * *

»So ist das Game, Nutte.« Oder auch nicht: In dem Moment, wo jemand das Game festlegt, hat es sich schon wieder verändert. Twitter funktioniert immer anders. Wer das Spiel erlernen will, muss es spielen – ohne es zu beherrschen. Und verändert es dadurch. Wer weiß, dass Twitter ein Spiel ist, wird sich auch bewusst, dass er oder sie verlieren kann. Das ist oft brutal, aber gehört zum Spiel – genau so wie Rückzüge aus der Kommunikation, psychologische Konsequenzen die auch getrennt von digitaler Kommunikation spürbar sind, Übergriffe. Zu sagen, dabei handle es sich um ein Spiel, ist keine Verharmlosung, sondern eine Beschreibung der Funktionsweise. Spiele sind real und brutal. Sie vermitteln, dass Kontrolle eine Illusion ist, führen Dilemmata, Abgründe, Zufälle vor.

»Twitter ist wie das richtige Leben.« Ein Spiel.

Was zeigen die Bildverbreitungsexperimente in sozialen Netzwerken?

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https://twitter.com/MrLaythorpe/statuses/430738054626562048

Jeff Laythorpe ist Lehrer in Ontario, Kanada. Er hat auf seinem Twitter-Account obige Meldung veröffentlicht. Er forderte Leserinnen und Leser auf, sie weiterzuverbreiten, um zu zeigen, wie schnell sich Bilder im Netz verbreiten. Er selbst sagt zum Experiment:

We had just started a unit on Personal Safety, and Internet Safety was one of the strands in the curriculum. When we discussed social media one student asked if everyone around the world really see what we post on social media. So we decided to put it to the test.

Offenbar wollte er mit dem Experiment also beweisen:

  1. Dass sich Bilder auf sozialen Netzwerken schnell verbreiten;
  2. sie also eigentlich öffentlich sind, auch wenn sie auf Konten mit geringer Reichweite publiziert werden.
  3. Dass diese Zusammenhänge eine Gefahr darstellen.

Noch mal der Urheber:

The students have learned a lot. We have come to the understanding of how quick a message can travel. We also realize that a message or image can be shared by anyone and it will be out there forever. The class has adopted the phrase »think before you type« as well »say it before you send it« . Both helps us realize the impact our message might have, both positive or negative.

Auch wenn ich medienpädagogisch damit einverstanden bin, dass das Potential der Verbreitung mitbedacht werden soll, wenn Inhalte erstellt werden, scheint mir das Experiment dafür nicht sinnvoll zu sein.

Erstens zeigt es zunächst, wie schnell sich pädagogische Mitteilungen in sozialen Netzwerken verbreiten, nicht Bilder. Niemand wollte ein Bild verbreiten, sondern eine bestimmte Message weiterleiten: Das Internet ist gefährlich und unkontrollierbar. Das Experiment steht für den Glauben vieler Menschen, dass sie soziale Netzwerke nicht kontrollieren können, nicht für die Verbreitungsgeschwindigkeit von Bildern.

Zweitens scheint die Take-Home-Message zu implizieren, dass es generell in Ordnung ist, gedankenlos zu schreiben oder sprechen, dass aber der Anschluss ans Internet besondere Vorsicht erfordert. Von Schülerinnen und Schülern – egal welchen Alters – würde ich erwarten, dass Sie generell überlegen, bevor Sie sich schriftlich oder mündlich äußern.

Drittens ist es ja oft gerade im Sinn der Urheber, dass sich Bilder im Netz verbreiten. Das wollte wohl Mike Schwede seinen Kindern – die hier schon mal Thema waren – zeigen, die folgendes Experiment durchgeführt haben:

https://twitter.com/hannahnordpol/status/302391810276356096

Ein Twitter-Experiment

Eine Woche lang, so habe ich mir vorgenommen, würde ich Meldung auf Twitter nur weiterleiten (retweeten = RT) oder auf andere Meldungen antworten, aber keine selber schreiben.

Was wäre der Sinn dieses Vorgehens? Wie David Bauer schon mehrfach bemerkt hat – kürzlich auf medium.com – verstehen sich zu viele Menschen in sozialen Netzwerken als Urhebende von Informationen, die sie eigentlich lediglich weiterleiten. Aufsehenserregende Nachrichten stammen selten von den Menschen, die darüber schreiben, sondern werden von ihnen lediglich zitiert oder paraphrasiert. Bauers Fazit:

Don’t add to the noise, amplify the signal. The interwebs thank you.

Ich wollte also versuchen, hier etwas disziplinierten zu agieren. Es ist mir gelungen: Abgesehen von Hinweisen auf meine Blogposts, die von WordPress automatisch generiert werden, habe ich eine Woche keine Tweets verschickt, die nicht Antworten waren oder Retweets.

Das fiel mir oft nicht ganz einfach. Die Parallele zwischen dem Gripen und dem iPhone, die beides unnötige teure Spielzeuge sind, die trotz besseren Wissens gekauft werden, hätte einen guten Tweets abgegeben. Zudem wollte ich fragen, welches Swisscom-Infinity-Abo denn jemand wie ich wählen sollte (das habe ich dann auf Facebook gemacht, aber nur eine Antwort erhalten); ich wollte Diskussionen zu den Fingerabdrücken auf dem iPhone starten (habe ich dann per Reply gemacht) oder mich über vieles ärgern, was diese Woche so vorgefallen ist. Zudem wollte ich oft auf interessante Texte verweisen und sie mit einem spezifischen Kommentar versehen, statt einen Tweet weiterzuleiten, der in meinen Augen ungenau war.

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Solche Experimente zeigen immer wieder Aspekte der eigenen Mediennutzung auf, die man ohne sie nicht bemerken würde (z.B. meinen Drang, zu allem meine Meinung kundzutun; oder: die Bedeutung der Möglichkeit, auf Twitter Fragen stellen zu können und hilfreiche Antworten zu erhalten). Aber sie beschränken die Möglichkeiten, ein eigenes, aussagekräftiges Profil aufzubauen.

Wie ich zu 2000 Twitter-Followern gekommen bin

Bildschirmfoto 2013-06-05 um 11.53.27Meine Tweets, also die kurzen Nachrichten, die täglich versende, werden von 2’430 Profilen aus verfolgt – so viele andere Userinnen und User »folgen« meinem Profil nämlich; d.h. meine Nachrichten werden ihnen angezeigt, wenn sie sich ins soziale Netzerk Twitter einloggen.

Ich selber folge über 1000 anderen Profilen. Das Folgen ist unilateral: Die Konten, denen ich folge, müssen mir nicht folgen – und umgekehrt.

Heute wurde ich gefragt, was meinen »Follower-Erfolg begründet«. Ehrlich gesagt: Ich kann es gar nicht wissen. Viele der Profile, die mir folgen, werden von Programmen betrieben, die bestimmte Stichworte zum Anlass nehmen, Profilen zu folgen. Einige mögen mir folgen, weil sie sich über meine Meinungen aufregen wollen, andere finden die Texte, die ich verlinke, meistens spannend. Und weitere haben vielleicht längst aufgehört, Twitter zu benutzen.

Dennoch versuche ich hier mal meine Prinzipien im Umgang mit Twitter zu beschreiben, die zu dieser Menge an Nachrichten und Kontakten geführt haben könnten.

  1. Geduld. 
    Ich bin seit sechs Jahren auf Twitter (zunächst mit dem Account @kohlenklau). Seit vier Jahren bin ich wohl sehr aktiv, das heißt ich schreibe rund 20 Tweets pro Tag. So kommen immer wieder ein paar Follower dazu – aber nie viele.
  2. Auf Spam verzichten. 
    Ich verschicke – so weit ich das vermeiden kann – nie automatisierte Nachrichten, Werbebotschaften oder inhaltslose Botschaften. Wiederholte Hinweise auf meine Inhalte limitiere ich streng: Ich verweise auf Blogposts meist zwei Mal (auch nicht immer).
  3. Freundliche Umgangsformen. 
    Ich antworte auf alle seriösen Fragen und Kommentare, bleibe auch bei hitzigen Diskussionen sachlich und anständig und behandle andere in der Regel so, wie ich auch behandelt werden möchte.
  4. Content First. 
    Mein Ziel ist es, Informationen zu verbreiten oder sachliche Diskussionen zu führen. Der Inhalt steht dabei im Vordergrund und ich erachte es als meine Pflicht, ihn auf seine Qualität zu prüfen. Ich verlinke interessante Artikel nur dann, wenn sie nicht schon starke Verbreitung gefunden haben, ich vermeide das Wiedergeben von bekannten News und versehe meine Links mit Kommentaren und Hinweisen.
  5. Andere User einbeziehen. 
    Wenn ich Informationen von jemandem übernehme, gebe ich das in der Regel an. Ich antworte anderen Menschen auf ihre Nachrichten und fordere sie zu Diskussionen heraus. Ich erwähne andere Leute zudem direkt und verzichte auf Non-Mentions.
  6. Themen besetzen und Profil gestalten. 
    Ich bin an vielen Themen interessiert und besetze einige davon auf Twitter – d.h. ich äußere mich regelmäßig dazu und bin informiert, was gerade läuft. Allerdings ist mein Profil nicht besonders geschärft: Ich diskutiere über Sport, Gender, Schweizer Politik, Medien, Philosophie, Bildung und Social Media. Damit überschneiden sich einige Themenfelder.
  7. Leuten zurückfolgen. 
    Für mich stellt es keine Pflicht dar, den Profilen zu folgen, die mir folgen. Aber anderen Menschen, die sich für dasselbe interessieren und mit mir interagieren, folge ich im Normalfall.

Die Ausnahmen zu meinen Prinzipien möchte ich nicht auflisten – es wären zu viele und zu verschiedene; mal entsteht eine persönliche Abneigung, manchmal mache ich im Affekt Fehler. Vielmehr möchte ich noch einige Rückmeldungen auflisten, die ich im Sinne von Kritik an meinem Profil schon erhalten habe (und an denen ich arbeite, wenn ich es nicht vergesse):

  • Ich verstricke mich in zu lange Diskussionen, die dann die ganze Timeline anderer User besetzen.
  • Ich zeige zu wenig von mir persönlich und wirke durch meine sachliche Argumentation oft sehr hart und humorlos.
  • Ich beanspruche in unzähligen Gebieten Kompetenz und äußere zu allem meine Meinung.
  • Mein Twitter-Rhythmus ist generell zu hoch: Es ist kaum möglich, alles zu lesen, was ich verbreite (diese Kritik gibt es auch an meine Blogposts).

Wahrscheinlich habe ich sowohl Prinzipien als auch Kritik an meinen Aktivitäten vergessen – und freue mich deshalb über Ergänzungen.

Social Media als Werkzeug

Diese Woche waren bei der FAZ gleich zwei Twitter-»Rants«, wie emotionale Klagen im Internet heißen: Christopher Lauer, prominenter Politiker der Piratenpartei, hielt fest, Twitter sei für ihn »gestorben« und Katrin Rönicke wagte in einem Blogpost den Vergleich, Twitter sei »wie die DDR«. Im Folgenden fasse ich die Debatte kurz zusammen und äußere mich im zweiten Teil allgemeiner zur Frage, wie Social Media als Werkzeug zu analysieren ist.

(1) Lauer und Rönicke in der FAZ

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Lauers Argumentation ist nicht dieselbe wie die von Rönicke. Lauer beschwert sich vor allem über die anderen (Journalistinnen und Journalisten), die nicht richtig filterten und ihn mit Anfragen belästigen, »die auch in eine SMS oder E-Mail passen«. Seine Kritik an Twitter in a nutshell:

Ist es zu viel verlangt, dass sich alle, egal, in welcher Kommunikationsform, vorher folgende drei Fragen stellen: Muss es gesagt werden? Muss es jetzt gesagt werden? Muss es jetzt von mir gesagt werden? Und: Welcher Mehrwert entsteht denn durch diese permanente Nabelschau auf Twitter konkret und für wen?

Lauer kann man zwei Dinge entgegenhalten: Erstens scheitert er an den eigenen Ansprüchen. Wer sich die Maxime »Heul nicht, so ist das Game Nutte« aneignet, muss sich nicht über Twitter beschweren, weil das Medium viel Zeit beansprucht und auch unerwünschte Kommunikation ermöglicht, sondern muss Twitter in den Griff bekommen. Zweitens schreibt Lauer in der FAZ das, was er auch in einem Tweet hätte sagen können, er kann keine Analyse liefern, warum jetzt Email und SMS die besseren Kanäle sind als Twitter. Stefan Niggemeier zeigt unterhaltsam auf, dass es Lauer offenbar um wenig mehr als maximales Prestige und maximale Aufmerksamkeit geht.

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Rönickes Kritik ist stärker selbstreflexiv. Sie beobachtete, wie das Medium sie selbst verändert hat, und bilanziert:

Auf twitter fing ich selbst an Menschen nach dem Mund zu reden ohne es wirklich zu realisieren. Leuten, die ich nicht einmal persönlich kenne. Die mich aber beobachteten. Die Beobachtung ist die die Währung auf twitter: Je mehr Menschen zuschauen, desto besser. Ich fing ich an, mich selbst zu zensieren. Selbst wenn ich von einer Meinung oder Aussage überzeugt war, habe ich sie oft für mich behalten, weil mir klar war, dass es nicht nur Kritik geben würde, sondern moralische Entwertung. Zudem formulierte ich meine Worte und Sätze möglichst twitter-[k]ompatibel. Das bedeutet vor allem: Verkürzung entdecken und möglichst knallige Buzzwords finden.

Rönicke räumt ein, das Problem könnte vor allem sie und ihr Umfeld betreffen, sie verallgemeinert weniger als Lauer. Aus Ihrem Text – den unsäglichen DDR-Vergleich möchte ich gar nicht erwähnen, Rönicke benutzt ihn, um gewissen feministischen Bewegungen totalitäre Tendenzen zu unterstellen – ergibt sich die Frage, ob das Medium Twitter oder Social Media uns als Menschen verändert: Beginnen wir anders zu denken, anders zu schreiben und anders zu sprechen, weil wir uns an den Vorgaben des Mediums orientieren?

Hammer Time. Kelsey Horne, society 6
Hammer Time. Kelsey Horne, society 6

(2) Social Media als Werkzeug

Natürlich tun wir das. Technologie verändert die Menschen. Ich habe über 20’000 Tweets geschrieben, also Inhalte in Meldungen verpackt, die 140 und weniger Zeichen enthalten. Natürlich lerne ich dabei eine neue Art des Schreibens. Ich unterhalte mich mit Menschen, die ich noch nie gesehen habe und vielleicht auch nie sehen werde. Natürlich verändert das meinen Umgang mit Menschen. Und ich diskutiere öffentlich mit Nachrichten, die gespeichert und in ganz anderen Kontexten verwendet werden können, die aber auch viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen können, in der Zeitung gedruckt werden. Natürlich erhält Aufmerksamkeit für mich eine andere Bedeutung.

Aber das passiert mit allen Werkzeugen. Werkzeuge ermöglichen, etwas einfacher zu erledigen; sie können aber immer auch missbraucht werden. Werkzeuge sind Waffen. »People kill, not guns« ist eine ebenso naive Haltung wie die, in einer Welt ohne Waffen leben zu wollen. Wenn es Werkzeuge gibt, werden Menschen sie nutzen und sich von ihnen verändern lassen. Die konservative Wendung ist keine Lösung. Lauer und Rönicke werden Twitter nicht abschaffen können. Wenn sie dort schweigen, werden sie andere nicht daran hindern, über sie zu schreiben, Buzzwords zu nutzen und sie per SMS oder Email mit Kritik einzudecken. (Nur ein Beispiel, weils grad passt: Lauer schrieb dem Parteichef Johannes Ponader eine SMS, die von diesem per Twitter und auf seinem Blog veröffentlicht wurde…) Es bleibt nur die Haltung von Porombka:

Mit dem Experimentieren beginnen! Hands on! Auch auf die Gefahr hin, dass man alles Bekannte über den Haufen werfen muss und dabei in Zustände gerät, in denen die alten Orientierungsmuster für Kunst und Leben abhandenkommen, ohne gleich durch neue ersetzt zu werden.
Auch das kann man lernen […]: dass sich das Auflösen der bekannten Zusammenhänge für produktive Schübe nutzen lässt. […] Es geht um die Frage, wie man das, was als Nächstes kommt, gestalten kann.

Jump Cut, Kubrick, 2001.
Jump Cut, Kubrick, 2001.

Schulgespräche mit Expertinnen und Experten via Twitter

Der direkte Kontakt mit Wissenschaftlerinnen, Künstlern, Politikerinnen und anderen Persönlichkeiten ist für Schülerinnen und Schüler von großem Wert. Sie sind Perspektiven ausgesetzt, die nicht primär mit dem Unterrichtskontext zu tun haben und erhalten direkten Zugang zu wichtigen Themen.

Oft erlebe ich es so, dass Klassen etwas überfordert sind mit solchen Begegnungen. Sie freuen sich darauf, sie hören dann aufmerksam zu – trauen sich aber kaum, ein echte Gespräch zu eröffnen. Nach wenigen zögerlichen Fragen zeigt sich dann in der Nachbesprechung, wie interessiert sie waren und wie viel sie zu einer interessanten Diskussion hätten beitragen können, nicht nur durch Fragen, sondern durch eigene Meinungen, Erlebnisse etc.

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Die Durchführung eines solchen Gespräches via Social Media bzw. Twitter hat viele Vorteile. Ich beziehe mich auf die Beschreibung eines Kommunikationskurses der Rutger University, wo ein Live-Gespräch mit Nathan Jurgenson, einem der interessantesten Theoretiker von Social Media (vgl. seine Gedanken zu digitalem Dualismus), durchgeführt wurde. Die verantwortliche Dozentin, Mary Chayko, beschreibt wichtige Aspekte, die bei einer solche Online-Begegnung beachtet werden müssen, damit sie erfolgreich durchgeführt werden kann:

  1. Die Klasse muss mit den technischen Mitteln und ihrem Einsatz so vertraut sein, dass keine Hindernisse entstehen. Idealerweise verwendet man eine Plattform, die Schülerinnen und Schüler kennen und nutzen. 
  2. Die Begegnung muss vorbereitet werden. Neben intensiver Lektüre relevanter Texte hat Chayko alle Lernenden gebeten, eine Frage zu formulieren und ihnen dazu ein Feedback gegeben. So kommt sicher eine Konversation in Gang.
  3. Die Person, mit der man spricht, muss ein solches Gespräch führen können, unter Umständen mit wenig Moderation durch die Lehrperson.
  4. Das Gespräch muss im Unterricht nachbearbeitet und ausgewertet werden.
  5. Der Einsatz von solchen Gesprächen muss sehr dosiert erfolgen (z.B. ein Mal pro Semester), er ist sehr aufwändig.

Nathan Jurgenson zog eine statistische Bilanz, wie oft er gefragt wurde und wie viele Antworten er gab:

http://twitter.com/#!/nathanjurgenson/status/258350385834643456

Chayko bewertet das Ergebnis als positiv – trotz des großen Aufwands. Das schönste Ergebnis war, dass sich ein face-to-face Backchannel ergeben hat. Das muss kurz erklärt werden: Oft wird Social Media als Backchannel bezeichnet: Bei Konferenzen, Sitzungen oder im Unterricht ergibt sich heute oft eine zweite Gesprächsschicht auf Social Media, wo andere Fragen gestellt und andere Themen diskutiert werden. Diese Backchannels können durch »Twitterwalls« sichtbar gemacht werden. Im Falle der Klasse von Chayko war der Backchannel aber im Unterricht: Die Studierenden haben gelacht und miteinander geredet, während sie mit Jurgenson diskutiert haben:

But my favorite outcome was the way the face-to-face “backchannel,” and the class as a community, began, during this event, to coalesce.

Zum Schluss noch ein technischer Hinweis: Mit Google+ ist es auch möglich, mehrdimensionale Begegnungen durchzuführen. Wie der Screenshot von Roland Gesthuizen zeigt, kombiniert es Videotelefonie mit Chats und gemeinsamer Bearbeitung von Dokumenten. Das kann für Gruppenarbeiten sinnvoll sein, würde bei Begegnungen aber auch ermöglichen, dass der Gast einen Vortrag halten könnte in einer Klasse und dann per Chat oder per Video befragt werden könnte.

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Anleitung: Daten aus Social Media archivieren

Setzt man Social Media als Tool für Wissensmanagement ein – z.B. um wichtige Links kommentiert abzulegen, eigene Gedanken zu dokumentieren, Gelesenes zusammenzufassen und in Verbindung zu setzen etc. -, kommt man nicht umhin darüber nachzudenken, wie man seine Daten archivieren kann. Damit kann man einerseits sicher stellen, dass sie unabhängig von der Existenz der einzelnen Plattformen erhalten bleiben, andererseits sie mit anderen Mitteln bearbeiten und durchsuchen.

Im Folgenden eine kurze Anleitung, wie Daten der wichtigsten Plattformen gesichert werden können.

Facebook: Im Menu der Kontoeinstellungen gibt es die Option, ein Archiv der eigenen Daten herunterzuladen (Bild wird beim Klicken größer):

Die Standardoption beinhaltet eigentlich die wichtigsten Daten – wer aber komplett sehen möchte, was Facebook abspeichert (inklusive IP-Adressen etc.), kann auch ein erweitertes Archiv herunterladen:

Google: Google bietet für alle Dienste einen zentralen Download-Manger, der Google Takeout heißt: google.com/takeout. Dort ist es möglich, die Bilder aus Picasa, Videos von Youtube sowie alle Daten aus Google Drive runterzuladen, auch die Informationen aus Google+ sind abrufbar. Google bietet die Möglichkeit, alle Daten in einem Archiv oder sie einzeln ausgewählt zu speichern.

In Google Drive bzw. Google Docs ist es leicht möglich, nur einzelne Ordner zu speichern (um sie z.B. als Backup auf einer externen Harddisk oder auf einem anderen Cloud-Service wie Amazon oder Dropbox abzulegen). Man muss dazu Files markieren und kann dann mit der Option »herunterladen« im Menu »Mehr« auch auswählen, in welchem Format die Files runtergeladen werden sollen. Das ist praktisch, weil man so Googles etwas seltsames Format umgehen kann und ein gebräuchlicheres wie den Microsoft-Standard wählen kann:

Twitter:  Verantwortliche bei Twitter haben versprochen, bis Ende 2012 eine offizielle Möglichkeit anzubieten. Eine inoffizielle Möglichkeit bietet Tweetbackup an, dort können alle wesentlichen Daten runtergeladen werden.

Blogs: Praktisch alle Blogplattformen bieten die Möglichkeit an, die Daten zu exportieren. So entsteht ein brauchbares Archiv, bei WordPress im .xml-Format, das man auch bei anderen Plattformen wieder einspeisen könnte.

Instagram: Alle Instagram-Bilder können mit Instaport runtergeladen werden, in Zukunft ist es möglich, sie auch nach Flickr oder Facebook zu exportieren. (Das ist auch die offiziell empfohlene Vorgehensweise.)

Pinterest: Eine offizielle Möglichkeit gibt es nicht. Pin4Ever bietet eine Archivfunktion an, die jedoch bei mehrmaliger Benutzung kostenpflichtig wird.

Mit dem Dienst »If This Then That« (IFTTT.com) ist es einfach möglich, konstante Backups von Daten zu erstellen. Leider sind einige soziale Netzwerke bei IFTTT nicht mehr präsent, weil sie keine unlimitierten Zugriffe externer Apps erlauben (z.B. Twitter). Hier ein Rezept zum Speichern von Pinterest in der Dropbox.

* * *

 Eine allgemeine Bemerkung: Ich empfehle, alle wichtigen Daten dreifach zu sichern und zwar unabhängig voneinander. D.h. die Backups müssen unabhängig von Orten, Geräten und Anbietern sein. Ich verwende folgende Lösung:

  1. Backup auf externer Harddisk zuhause.
  2. Backup auf externer Harddisk am Arbeitsplatz.
  3. Backup auf Google Drive.
  4. Backup auf Dropbox.
  5. Bei wichtigen Projekten: Backup auf Memory-Sticks.

Damit ist der Zeitfaktor noch nicht berücksichtigt: Diese Methoden stellen nur sicher, dass der Zugriff auf die Daten gewährleistet ist, nicht aber, dass sie auch in 20, 50 oder 100 Jahren noch verwendbar sind.

Ich freue mich über weitere Tipps oder Fragen in den Kommentaren!

Instagram neu auch im Browser

Heute war ich in Einsiedeln und habe dieses Bild gemacht:

Wer sich auskennt, weiß sofort: Instagram. Der Dienst bietet eine App für Smartphones an, mit der quadratische Bilder aufgenommen werden, die sich mit Filtern bearbeiten lassen. So erscheinen viele Bilder, als seien sie künstlerische Produkte.

Torsten Kleinz schrieb heute auf Google+:

Höhlengleichnis, modern. Die Welt ist das ohne Instagram-Filter. Doch Du kannst sie nicht sehen und Du kennst den Filter nicht.

Die App spricht visuelle Menschen enorm an. Mit Bildern lässt sich viel sagen, man zeigt sich, sein Leben, seine Freunde. Deshalb ist das soziale Netzwerk auch bei Jugendlichen sehr populär. Es ermöglicht, Benutzern zu folgen, ihre Bilder anzusehen, zu kommentieren zu und zu bewerten. Instagram hat kürzlich Twitter in den USA überholt, was die Zahl der User betrifft. Instagram zeigt so, dass sich das Web zunehmend vom sozialen zum mobilen Internet wandelt.

Bisher war Instagram nur auf Smartphones verfügbar, wer sich die Bilder auf dem Computer anschauen musste, musste einen Service eines Drittanbieters wie Statigram benutzen.

Wie Instagram heute ankündigt, wird es künftig möglich sein, Profile direkt unter http://instagram.com/*user* aufzurufen – in meinem Fall wäre das dann http://instagram.com/phwampfler (geht im Moment noch nicht, aber wohl bald).

Eine Tumblr-Seite sammelt Bilder von reichen Jugendlichen, die ihr Leben auf Instagram dokumentieren. So sieht das dann aus, wenn sie sich auf einen Wirbelsturm vorbereiten:

Meinungsfreiheit in Social Media

Auf der Trollcon hat Klaus Kusanowsky einige Einsichten zur Meinungsfreiheit vermittelt – ich zitiere meine Twitter-Zusammenfassungen:

Seine historische Analyse zeigte die ursprünglich enge Koppelung des Rechts auf Meinungsäußerung mit dem Recht, angehört zu werden. Meinungsfreiheit entkoppelt von diesem Recht führt zur Frage, was denn Meinungen noch bedeuten, wenn jede und jeder eine haben kann und die meisten nicht beachtet werden.

Das ist in Christoph Kappes‚ Analyse das »Gift der Moderne«. In seinem brillanten Rant (oder ist das ein Essay? ein Gedicht? ein Fragment?) schreibt er:

Die Aufmerksamen merken auf bis zur Unmerklichkeit. Auf Twitter heute lesen und sich heute empören, sich morgen über die Empörer empören, dann Schweigen, gelangweilt sein, Witzchen machen. Und alles wieder von vorn, bis Kommunikation zum Würfelspiel wird, weil man sich aussuchen kann, auf welchen Input man antwortet und dann selbst zur Black Box wird und mit den Schenkeln zuckt.

* * *

In Bezug auf soziale Netzwerke haben sich in den letzten Tagen zwei Diskussionen zum Thema Meinungsfreiheit geöffnet, die einen etwas anderen Fokus haben. Grundsätzlich geht es um die Frage, ob die Betreiber solcher Netzwerke, insbesondere Twitter und Reddit, freie Meinungsäußerung beschränken sollen. Ein beliebtes Missverständnis ist, das Recht auf freie Meinungsäußerung als positives Recht zu verstehen: Es gibt kein Recht darauf, seine Meinung äußern zu dürfen. Vielmehr gibt es ein (negatives) Recht darauf, vom Staat daran nicht gehindert zu werden. Konkret heißt das: Wenn Twitter oder Reddit gewisse Meinungen nicht tolerieren will, dann haben diese Firmen das Recht dazu. Genau so, wie eine Zeitung bestimmen kann, ob sie eine Kolumne oder einen Leserbrief abdrucken will.

Flickr cutiemoo. CC BY-ND 2.0

Konkret geht es um einen Twitteraccount, den Twitter in Deutschland gesperrt hat – aus anderen Ländern ist er weiterhin verfügbar. Der Pirat Stefan Urbach hat daraufhin gefordert, Twitter müsse konsequent gegen Nazis vorgehen. Sein Argument grenzt jedoch an willkür – entsprechend kontrovers wurde es diskutiert.

Menschenverachtung ist keine Meinung, sondern eine geäußerte Einstellung. Nach meinem moralischem Kompass muss man die zugrunde liegende Ideologie bekämpfen. So lange wir das nicht geschafft haben, dürfen wir den Menschenverachtern niemals ein Podium bieten. Das hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, sondern mit einer aufgeklärten Geisteshaltung.

Im Falle von Reddit geht es um Foren, in denen geschmacklose, menschenverachtende Bilder gepostet werden – deren Publikation in den USA aber legal ist. Dazu hat sich der CEO von Reddit, Yishan Wong, wie folgt geäußert:

We stand for free speech. This means we are not going to ban distasteful subreddits. We will not ban legal content even if we find it odious or if we personally condemn it. Not because that’s the law in the United States – because as many people have pointed out, privately-owned forums are under no obligation to uphold it – but because we believe in that ideal independently.

John Scalzi analysiert die Praxis von Reddit pragmatisch: Die User solcher Foren sind häufige Besucher auf der Seite. Entsprechend viele (Werbe-)einnahmen generieren sie. Die Politik von Reddit, alle Meinungen zuzulassen, ist nicht eine Haltung, sondern eine Strategie um möglichst viel Geld zu verdienen.

Wir können nicht erwarten, dass Unternehmen sich anderen Standards verpflichen als juristischen und ökonomischen. Es würde aber Medienunternehmen – wie das Twitter und Reddit sind – gut anstehen, transparente Regeln im Umgang mit Meinungsäußerungen zu haben und dieser verständlich zu kommunizieren.

* * *

Ein dritter Aspekt ist die Meinungsfreiheit auf Social Media und das Arbeitsrecht. Dazu möchte ich den Artikel von Patrik Tschudin empfehlen.

Vorstellung: Me & My Shadow – Welche Spuren hinterlassen wir im Internet?

Die ästhetisch sehr ansprechende Website »Me & My Shadow« vermittelt sehr anschaulich Informationen über digitale Spuren, die wir im Internet hinterlassen. Die Seite gibt es leider nur auf Englisch, eine Lektüre der Texte und ein Durchlauf durch die interaktiven Angebote ist aber sehr lohnend.

 

 

Das Feature »Trace my Shadow« erlaubt es zu erfahren, welche Spuren man überhaupt im Internet hinterlässt – basierend auf einigen Nutzungsangaben. Danach ist es möglich, zu jeder Spur genauere Angaben zu erhalten.

Die Seite bietet auch die Möglichkeit, interaktiv zu erfahren, was die wesentlichen Punkte der EULA (»End User Licence Agreements« oder Allgemeine Geschäftsbestimmungen) von Online-Diensten sind, welche versteckten Datensammlungen damit legitimiert werden – siehe »Lost in Small Print«.

Die Betreiber der Seite beschreiben den Zweck ihres Angebots wie folgt:

Me and my shadow is a new initiative by Tactical Tech that will examine different aspects of the digital traces we leave behind us online. The project has developed out of a growing concern for the way that privacy issues are impacting social networking users and owners of online and mobile devices. These are important issues for everyone, but they have a particularly serious impact on rights and transparency advocates, independent journalists, and activists who can be targets of surveillance, censorship and control.
[Übersetzung phw:] »Me and my shadow« ist eine neue Initiative von Tactical Tech. Sie überprüft verschiedene Aspekte von digitalen Spuren, die wir online hinterlassen. Das Projekt ist aus der wachsenden Besorgnis entstanden, dass Privatsphärenprobleme Nutzer von Social Media und mobilen Geräten immer stärker beeinflussen. Dabei handelt es sich um wichtige Themen für jedermann, aber besonders für AktivistInnen im Bereich der Privatsphäre, unabhängige JournalistInnen und andere AktivistInnen, die das Ziel von Überwachung, Zensur und Kontrolle werden könnten.