Verständnis oder Härte in der Schule?

Immer wieder stoße ich in der pädagogischen Arbeit auf eine Frage, welche an den Kern dessen geht, was in der Schule praktiziert wird. Ich mache sie an einem Beispiel fest: Eine Schülerin bittet mich am Tag vor der Prüfung darum, diese auf einen Termin nach den Ferien verschieben zu können. Sie sei privat und in der Schule stark unter Druck und könne nicht so auf die Prüfung lernen, dass sie die nötige Sicherheit habe.

Ich stehe vor einem Dilemma: Entweder zeige ich Verständnis und gehe auf den Wunsch der Schülerin ein, was für mich naheliegend ist, da ich mir wenig Lerneffekt von einer Prüfung verspreche, die unter großem Druck und ohne entsprechende Vorbereitung abgelegt wird – oder ich bestehe auf dem frühzeitig kommunizierten Termin und zeige Härte.

The cure for everything is salt water. Sweat, tears, the sea. - Isak Dinesen
The cure for everything is salt water. Sweat, tears, the sea. – Isak Dinesen

Am Gymnasium, so ein immer wieder gehörter Vorwurf, sei es Schülerinnen und Schülern möglich, mit immer neuen Ausreden Pflichten zu vernachlässigen, was in der Arbeitswelt und auch an Hochschulen so nicht möglich sei. Gewöhnten sie sich daran, dass auf ihre Anliegen Rücksicht genommen werde, würden sie weich und entwickelten die nötigen Kompetenzen im Umgang mit Terminen und Druck nicht.

Auf der anderen Seite steht für mich die Frage, wie sinnvoll eine Welt ist, die Menschen Bedingungen setzt, die qualitativ hochwertige Arbeit verhindern. Soll die Schule diese Bedingungen simulieren, weil sie in der Arbeitswelt große Verbreitung finden?

Meine Haltung ist das Gespräch darüber: Aufzeigen, wie viel Spielraum ich wirklich habe; diskutieren, ob es sich lohnt, eine Anstrengung aufzuschieben oder durchzustehen; darüber sprechen, dass zu hohe Ansprüche an die eigene Arbeit lähmend wirken können, weil Perfektionismus ineffizient ist.

Befriedigend ist das aber nicht immer: Verhandeln ist anstrengend und führt nicht immer zu zufriedenstellenden Resultaten.

Wie gehen andere Lehrpersonen mit diesem Konflikt um?

Was zeigen die Bildverbreitungsexperimente in sozialen Netzwerken?

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https://twitter.com/MrLaythorpe/statuses/430738054626562048

Jeff Laythorpe ist Lehrer in Ontario, Kanada. Er hat auf seinem Twitter-Account obige Meldung veröffentlicht. Er forderte Leserinnen und Leser auf, sie weiterzuverbreiten, um zu zeigen, wie schnell sich Bilder im Netz verbreiten. Er selbst sagt zum Experiment:

We had just started a unit on Personal Safety, and Internet Safety was one of the strands in the curriculum. When we discussed social media one student asked if everyone around the world really see what we post on social media. So we decided to put it to the test.

Offenbar wollte er mit dem Experiment also beweisen:

  1. Dass sich Bilder auf sozialen Netzwerken schnell verbreiten;
  2. sie also eigentlich öffentlich sind, auch wenn sie auf Konten mit geringer Reichweite publiziert werden.
  3. Dass diese Zusammenhänge eine Gefahr darstellen.

Noch mal der Urheber:

The students have learned a lot. We have come to the understanding of how quick a message can travel. We also realize that a message or image can be shared by anyone and it will be out there forever. The class has adopted the phrase »think before you type« as well »say it before you send it« . Both helps us realize the impact our message might have, both positive or negative.

Auch wenn ich medienpädagogisch damit einverstanden bin, dass das Potential der Verbreitung mitbedacht werden soll, wenn Inhalte erstellt werden, scheint mir das Experiment dafür nicht sinnvoll zu sein.

Erstens zeigt es zunächst, wie schnell sich pädagogische Mitteilungen in sozialen Netzwerken verbreiten, nicht Bilder. Niemand wollte ein Bild verbreiten, sondern eine bestimmte Message weiterleiten: Das Internet ist gefährlich und unkontrollierbar. Das Experiment steht für den Glauben vieler Menschen, dass sie soziale Netzwerke nicht kontrollieren können, nicht für die Verbreitungsgeschwindigkeit von Bildern.

Zweitens scheint die Take-Home-Message zu implizieren, dass es generell in Ordnung ist, gedankenlos zu schreiben oder sprechen, dass aber der Anschluss ans Internet besondere Vorsicht erfordert. Von Schülerinnen und Schülern – egal welchen Alters – würde ich erwarten, dass Sie generell überlegen, bevor Sie sich schriftlich oder mündlich äußern.

Drittens ist es ja oft gerade im Sinn der Urheber, dass sich Bilder im Netz verbreiten. Das wollte wohl Mike Schwede seinen Kindern – die hier schon mal Thema waren – zeigen, die folgendes Experiment durchgeführt haben:

https://twitter.com/hannahnordpol/status/302391810276356096

Das Vertrauensparadox – zur Sexting-Kampagne von Pro Juventute

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Eine neue Kampagne von Pro Juventute nimmt neben Cybermobbing auch Sexting in den Blick. Jugendliche verschicken beim so genannten Sexting (Sex – Texting (SMS)) dabei erotische Fotos von sich selbst, meist einzelnen nahen Freundinnen und Freunden, denen sie vertrauen und mit denen sie intime Beziehungen pflegen. Bricht das Vertrauen, können diese Bilder an eine breitere Öffentlichkeit gelangen, meist mit verheerenden Folgen. Die Merkblätter von Pro Juventute bieten sehr gute Informationen für Jugendliche, Eltern und Lehrpersonen.

Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen und darüber zu sprechen. Durch Sensibilisierung kann das  Problem aber nicht gelöst werden. Vertrauen ist sehr paradox – es erfolgt nicht begründet, sondern basiert auf einer Annahme: »Ich kann dem anderen vertrauen.« Deshalb haben so genannte Vertrauensbeweise einen hohen Stellenwert. Je gefährlicher etwas  ist  – ein Nacktbild verschicken, ein Passwort tauschen, desto besser eignet es sich für den Versuch zu beweisen, dass man einer anderen Person vertraut.

Der Kinder- und Jugendpsychologe Urs Kiener sagt dem Tages Anzeiger zur Kampagne:

Die Hauptproblematik ist die Verletzung der Privatsphäre. Eine solche Nacktaufnahme wird häufig von einem jungen Mädchen auf Aufforderung ihres Freundes gemacht − als eine Art Liebesbeweis. Wenn die Liebe, wie oft bei Jugendlichen, nicht ewig hält, veröffentlicht der Junge das Bild, indem er es an seine Kollegen schickt, vielleicht aus Frustration, vielleicht aus Blödsinn oder weil er damit bluffen will. Weiss plötzlich die ganze Schule von dem Bild, löst das bei der jungen Frau unglaubliche Ohnmachtsgefühle aus.

Obwohl das Problem in der Schweiz gemäß der JAMES-Studie lediglich sechs Prozent der Jugendlichen betrifft, befürchtet der Experte eine Zunahme – gemäß Daten von EU-Kids Online nimmt er an, dass bald 20 Prozent der Jugendlichen davon betroffen sein werden. Diese Prognose darf man durchaus skeptisch betrachten: Viele Jugendliche wissen um die Gefahren, die mit erotischen Fotos verbunden sind, und verhalten sich entsprechend. Zudem ist es recht schwierig, hier präzise Angaben zu ermitteln.

Quelle: Ergebnisbericht JAMES-Studie 2012
Quelle: Ergebnisbericht JAMES-Studie 2012

Nacktaufnahmen an sich sind also nicht verwerflich?
Nein. Problematisch sind sie nur, weil sie mit Mitteln aufgenommen werden, die die Bilder innert Sekunden ungewollt in die Öffentlichkeit hinauszerren.

Auch diese Aussage im Interview muss man eher kritisch sehen – heute kann jedes Bild innert Sekunden ungewollt publiziert werden. Kieners Verweis auf die Polariod-Kameras unserer Jugend mag zeigen, dass es früher auch eine eher ungefährliche Begeisterung für Bilder gab: Aber heute können auch analoge Bilder innert Sekunden digitalisiert werden. Jedes Bild ist heute potentiell öffentlich.

Hier der Videoclip zur Kampagne:

Zwischen Jugendschelte und Medienkritik

Wer über die negativen Auswirkungen von Medien spricht, meint damit meistens die negativen Auswirkungen, die Medien auf Jugendliche haben. Sie nutzen Medien innovativ, verfügen über viele Möglichkeiten und passen sie an ihr intensives, abwechslungsreiches Leben an. Dadurch ist sind ihre Gewohnheiten und Praktiken sichtbar: Jugendliche bewegen sich häufig in halb-öffentlichen Räumen und Verkehrsmitteln, weil sie sich nicht ungestört in Wohnungen treffen können.

Dadurch ecken Jugendliche an: Sie stören ihre Mitmenschen durch ihre Gespräche, ihre Ausgelassenheit, ihre Musik. Ihr Verhalten unterscheidet sich von dem Erwachsener, sie fallen auf. Das hat damit zu tun, dass Jugendliche die Aufgabe haben, ein neues Beziehungsnetz zu knüpfen, das von dem ihrer Eltern unabhängig ist. Gleichzeitig müssen sie sich in einer Welt orientieren, die sich seit der Jugend und den Erfahrungen ihrer Eltern verändert hat: Neue Normen und Umgangsformen müssen erlernt werden. Das geht nur, indem Jugendliche eigenständige Erfahrungen sammeln und sich dabei exponieren. Um neue Menschen kennen zu lernen, müssen sie sich dort aufhalten, wo sie gesehen werden und wo sie andere beobachten können. Kontakte müssen sich leicht ergeben und in einem ersten Schritt unverbindlich bleiben. Es wird deutlich, wie ergiebig Social Media für Jugendliche ist: Ein halb-öffentlicher virtueller Raum, der vielfältige Begegnungen und Beziehungen ermöglicht.

Im Vorgang der Abgrenzung von der Welt Erwachsener wird die Jugend zu einer Art Kreativitätslabor. Rollen können erprobt werden, ohne dass sich jemand darauf festlegen lassen muss – damit geht ein innovativer Gebrauch von Sprache einher, von Medien und Mode.

Dafür wurden Teenager schon immer kritisiert. Seit es Bücher gibt, wirft man ihnen Frechheit, Unseriosität und Risikobereitschaft vor. Dieser Vorwurf ist aber uninteressant, weil er gleichförmig ist: Er ist die Reaktion der Erwachsenen auf die Funktion der Jugend. So zeigt er gewissermaßen, dass die Abgrenzungsstragie Jugendlicher funktioniert – werden sie für ihre Bemühungen gescholten, waren sie damit – zumindest teilweise – erfolgreich.

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Medienkritik ist häufig ein Teil einer allgemeinen und unspezifischen Jugendkritik. Weil junge Menschen sich auch in ihrem Mediengebrauch ausleben, bezieht sich die Reaktion auf ihr Verhalten auch darauf. Dadurch verliert diese Kritik aber an Bedeutung: Sei es Rockmusik oder eine freizügige Sexualität – Jugendbewegungen haben die düsteren Prophezeiungen in Bezug auf die Auswirkungen ihres Verhaltens noch immer widerlegt. Aus Jugendlichen werden Erwachsene, die Muster befolgen und Regeln einhalten.

Von diesem Problem ist aber nicht die ganze Medienkritik betroffen, die primär das Verhalten Jugendlicher betrifft. Genau so wie es Rockmusik gibt, die heute zum Kanon der Populärkultur gehört, gibt und gab es Jugendliche, die ihr Gehör durch zu laute Musik beschädigt haben. Und genau so wie es heute gesellschaftlich weit gehend akzeptiert ist, erste sexuelle Erfahrungen vor der Ehe zu sammeln, gefährden ungeschützte Sexualkontakte die Gesundheit Jugendlicher. Eine saubere Trennung von kulturhistorisch standardisierter Jugendkritik und einer seriösen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen und Risiken digitaler Kommunikation ist deshalb so sinnvoll wie notwendig

Pornografie, Gamen – und die Entwicklung junger Männer

In seinem Vortrag und dem zugehörigen E-Book »The Demise of Guys« untersucht der Psychologe Philip G. Zimbardo zusammen mit Nikita Duncan die Fragestellung, warum junge Männer mit immer mehr akademischen, sozialen und romantisch-sexuellen Problemen konfrontiert seien. Die populärwissenschaftliche Argumentation geht von folgender Feststellung aus:

These guys aren’t interested in maintaining long-term romantic relationships, marriage, fatherhood and being the head of their own family. Many have come to prefer the company of men over women, and they live to escape the so-called real world and readily slip into alternative worlds for stimulation. More and more they’re living in other worlds that exclude girls — or any direct social interaction, for that matter.

Selbstverständlich ist Zimbardos Perspektive geprägt von einer normativen Vorstellung von Geschlechterrollen: Genügen Männer nicht einem heteronormativen Ideal einer traditionellen Familie und der Vorstellung der protestantischen Arbeitsethik, wird das als Problem wahrgenommen. Neben diese Kritik an »The Demise of Guys« möchte ich eine zweite Stellen: Zimbardo ist digitaler Dualist, denn er nimmt an, »the so called real world« sei wichtiger als ihre virtuellen Erweiterungen.

Die Problemanalyse verdient trotz dieser gewichtigen Einwände einen zweiten Blick. Neben einer sozialen Analyse (Wandel von Rollenbildern, Betreuungsmodellen, ökonomische Umwälzungen) weist sie auf zwei mediale Einflüsse hin, welche das Leben junger Männer erschweren – und zwar aus ihrer eigenen Sicht: Pornografie und Videogames machten junge Männer zunehmend schüchtern – und diese Schüchternheit zieht weitere unerwünschte Folgen nach sich.

Untersuchungen von Zimbardo und anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben ergeben, dass in den letzten 30 Jahren:

  • soziale Phobien von 2% auf 12% angestiegen sind (Definition: »marked and persistent fear of one or more situations in which the person is exposed to possible scrutiny by others and fears that he or she may do something or act in a way that will be humiliating or embarrassing«)
  • Schüchternheit bei Erwachsenen von 40% auf 58% angestiegen sind (Definition: Menschen bezeichnen sich selbst als schüchtern)
  • Schüchternheit bei Kindern zwischen 8 und 10 Jahren nach Angaben ihrer Eltern von 30% auf 61% angestiegen sind
  • Schüchternheit in Deutschland und den USA mit rund 60% doppelt so stark vertreten ist wie in Israel (30%)
  • Schüchternheit von rund 65% der Betroffenen als persönliches Problem bezeichnet wird.
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Shy, Doc Diventia, society6

Obwohl die Zahlen keinen größeren Anstieg bei Männern als bei Frauen nahe legen, bezeichnet Zimbardo Schüchternheit für Männer aufgrund bestehender Normen als größeres Problem. Sie würden zunehmend eine wichtige Fähigkeit verlieren, nämlich ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu führen:

They don’t know the language of face contact, the nonverbal and verbal set of rules that enable you to comfortably talk with and listen to somebody else and get them to respond back in kind. This lack of social interaction skills surfaces most especially with desirable girls and women. (Demise of Guys, The New Shyness)

Warum liegen die Gründe dafür beim Porno- und Videospielkonsum? Es handelt sich um vertraute, kontrollierbare Umfelder. Die große Übung im Umgang mit diesen Medien verschafft jungen Männern eine große Kompetenz und versorgt sie mit regelmäßigen Stimuli, so dass die Eindrücke und Reize von Gesprächen mit Mitmenschen dagegen abfallen. Zudem handelt es sich dabei um unkontrollierbare Situationen mit ungewissem Ausgang, was mit viel Frustration verbunden ist. Es entsteht eine Art Teufelskreis: Je weniger geübt junge Männer in direktem Kontakt und Gesprächsführung sind, desto unbefriedigender verlaufen diese Erfahrungen für sie und desto stärker ziehen sie sich zurück.

Dieser Mechanismus leuchtet ein. Es ist irreführend, an dieser Stelle von Sucht zu sprechen, wie das Zimbardo tut. Mir scheint es wichtiger darauf hinzuweisen, dass Jugendliche sich alternative Handlungsmöglichkeiten erarbeiten sollten: Sie sollten möglichst frei wählen können, ob sie Zeit mit Freundinnen und Freunden verbringen oder vor dem Bildschirm. Tun sie aber nur letzteres, laufen sie Gefahr, ersteres entweder gar nicht zu lernen oder zu verlernen. Schüchternheit wäre ein Indikator dafür.

Das digitale Leben einer Schulklasse

In einem Workshop lasse ich Schulklassen (10. Klasse, Gymnasium) ein Leitbild für die digitale Kommunikation erstellen. Ausgangspunkt sind folgende Anregungen, auf welche die Klasse dann reagiert und Grundsätze formuliert, die der Gruppe wichtig sind.

  1. Relevante Informationen (Ausfall von Lektionen, Verschiebungen von Prüfungen, Vorbereitungsmaterial) soll schnell für alle verfügbar sein.
  2. Alle Mitglieder der Klasse sollten sich auch zuhause austauschen können.
  3. Welche Bilder darf man (nicht) auf dem Internet veröffentlichen (auf Facebook stellen, per WhatsApp rumschicken)?
  4. In was für einem Ton kommuniziert man online mit anderen Schülerinnen/Schülern und mit Lehrpersonen? (Und in welcher Sprache?)
  5. Freundschaften und Beziehungen entstehen, wenn sich Menschen in die Augen sehen und echt miteinander reden, ohne permanente Ablenkung durch blinkende Geräte.
  6. Ständig online zu sein ist für einige Menschen stressig und verhindert, dass sie sich konzentrieren können.
  7. Niemand soll gezwungen werden, bei einem sozialen Netzwerk ein Profil anzulegen oder sich ein Smartphone zulegen zu müssen.
  8. Auf sozialen Netzwerken werden Menschen gemobbt. Was tut man, wenn etwas passiert, das wie Mobbing aussieht?
  9. Es schafft Schwierigkeiten, wenn sich eine Klasse bei verschiedenen Diensten einloggen muss (Passwörter gehen verloren, einige Informationen werden übersehen).
  10. Digitale Kommunikation senkt die Hemmungen, zu betrügen (Informationen zu kopieren, bei Prüfungen zu spicken etc.).
  11. Darf man auf dem Internet über andere Personen lästern (z.B. Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrpersonen)?
  12. Die Schule und das Privatleben müssen aneinander anschliessbar sein, sollen aber als Bereiche auch getrennt werden können: Schülerinnen und Schüler brauchen Freizeit ohne digital ständig in der Schule zu sein.
  13. Vielen fällt das Lernen einfacher, wenn es mit Papier, Buch und Stift erfolgt statt am Bildschirm.
  14. Wie möchten Sie an Ausflügen, in Pausen, im Abteilungslager mit Handys umgehen?
  15. Gibt es für eine Klasse auch einmal eine digitale Pause?
Auszug aus einer Infographic von onlinedegrees.com
Auszug aus einer Infographic von onlinedegrees.com

Porno-Filter: Ein Problem und eine Lösung

Die Digitalisierung der Medien und der Kommunikation bedeutet grundsätzlich, dass alle produzierten Inhalte für alle Teilnehmenden abrufbar sind. Also können auch Kinder und Jugendliche sich via Internet Bilder, Videos und Texte ansehen, vor denen sie ihre Eltern möglicherweise schützen wollen. Kurz: Es gibt heute keine Möglichkeit zu verhindern, dass Minderjährige Pornografie konsumieren.

Nun gibt es aber – ausgehend von einem Vorstoss von David Cameron in Großbritannien – Bestrebungen, das Internet zu filtern (auch in Deutschland und in der Schweiz). Konkret sieht ein Bildschirm, der den britischen Haushalten präsentiert wird, wohl so aus:

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Daran werden drei fundamentale Probleme deutlich:

  1. Es geht nicht allein um (harte) Pornografie, sondern eine Mischung von verschiedenen Inhalten und Anliegen.
  2. Die Filter, welche die Internet-Service-Provider auf der Basis eines Konzepts von Huawei entwickeln, können nicht funktionieren: Sie müssen nicht nur Pornografie blockieren, sondern auch Aufklärungsmaterial, sie werden nicht nur Seiten über Essstörungen, sondern auch solche von Ernährungsberaterinnen und -beratern blockieren und sie werden nicht nur den Zugang zu Werkzeugen blockieren, mit denen man die Filter umgehen könnte, sondern auch eine kritische Diskussion der Filter.
  3. Auch wenn die Filter Information in Bezug auf ihre Umgehung zu blockieren versuchen: Die Filter können umgangen werden. Selbst der chinesische Firewall, der umfassend blockiert, ist für Eingeweihte nicht wirkungsvoll.

Es ist keine Lösung, wenn die Regierung eines Landes starre und allgemeine Filterlisten konzipiert, die Inhalte aufgrund unklarer Kriterien blockieren – auch wenn das Anliegen von Eltern und pädagogisch Verantwortlichen, Kinder gewissen Inhalten nicht auszusetzen, verständlich ist.

Die Lösung ist aber naheliegend – wenn auch leicht komplizierter:

  1. Filterkompetenz ist eine Basiskompetenz in der heutigen Medienwelt. Kinder und Jugendliche müssen lernen und üben, wie sie ungewollte Inhalte ausblenden wollen und können.
  2. Eltern müssen das auch üben und lernen.
  3. Internet Service Provider sollen ermuntert werden, entsprechende Angebote zu machen, die individuell anpassbar sind: Fälschlicherweise blockierte Seiten müssen freischaltbar sein, feine Kategorien müssen angeboten werden.
  4. Angebote, mit denen Browser erweitert werden können, um Inhalte zu blockieren – für Chrome z.B. hier – und andere Angebote müssen bekannter werden.
  5. Über Pornografie und schädliche, unerwünschte Inhalte muss eine Diskussion laufen. Sie zu blockieren, ist für eine Gesellschaft keine Lösung.

So wichtig der Schutz von Kindern ist – er rechtfertigt nicht eine Einschränkung  der freien Meinungsäußerung. Sie ist ein Menschenrecht und gilt universell und unteilbar. Sie umfasst aber – in meiner Lesart – auch das Recht, Inhalte zu filtern. Genau so wie wir bestimmen können, welche Bücher in unseren Regalen stehen, genau so können wir bestimmen, welche Inhalte wir im Internet sehen können. Aber wir müssen lernen, wie.

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Leistungsbewertungen von Social-Media-Arbeiten

Dieser Artikel hat zwei Teile: Zunächst stelle ich Prinzipien vor, wie Arbeiten von Schülerinnen und Schülern auf Social Media bewertet werden können, dann gehe ich davon ausgehend kurz auf das Problem der schulischen Leistungsbewertung im Allgemeinen ein.

(1) Arbeiten in Social Media bewerten

Beginnen wir mit Beispielen: Dieser Blog ist im Unterricht entstanden. Und dieses Facebook-Projekt zu Werther auch. Beide sehen attraktiv aus, da stecken viele Überlegungen drin und auch viel Arbeit. Wie kann ich als Lehrer diese Projekte bewerten? Ein guter Ausgangspunkt sind die Hinweise zur Arbeit mit Portfolios (hier von der Hochschuldidaktik der Universität Zürich). Dort heißt es:

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Etwas ausführlicher:

  1. Grundsätzlich entstehen gültige und verständliche Bewertungen ausgehend von Kriterien. Ich gebe also vor Projektstart an, an welchen Maßstäben ich die Resultate messen werde. Dabei entstehen zwei Probleme: Erstens liegt der Wert von solchen Arbeiten oft darin, eigenständigen Vorstellungen nachzugehen, die sich nicht an vorgegebenen Kriterien orientieren, sondern an eigenen. Zweitens entscheidet sich die Bewertung oft bei einem Kriterium wie »Differenziertheit, Tiefgang etc.«, dessen Bedeutung zwar klar ist – werden nahe liegende Wege gewählt, einfache Antworten akzeptiert, nur die am leichtesten greifbaren Quellen beigezogen oder nicht -; aber dessen Anwendung in einem hohen Grad vom Kontext abhängig ist. (So ist z.B. nicht klar, ob eine Arbeit, die bewusst auf Arbeit mit Quellen verzichtet, differenzierter ist als eine, die Quellenmaterial hauptsächlich kuratiert oder remixt.)
  2. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die zentrale Bedeutung von Reflexionen. Vor, während und nach einem solchen Projekt braucht es Phasen, in denen die Planung, die konkrete Arbeit und das Resultat von den Beteiligten – unter Umständen im Gespräch mit der Lehrperson – überdacht, eingeordnet, hinterfragt werden. Hier können einfache Mittel zum Tragen kommen: Kurze Präsentationen, Gruppengespräche, das Verfassen von Texten.
  3. Aus diesen Reflexionen können auch eigene Kriterien und eine Selbstbewertung entstehen. Wer in Social Media aktiv ist, misst die Resultate seiner Arbeit an eigenen Vorgaben und Erwartungen. Vieles ergibt sich aus Interaktionen, Ideen entstehen in Netzwerken, oft auch kollaborativ, Ziele verschieben sich, Bedingungen auch. Kontext ist entscheidend – und den kennen die Beteiligten am besten.
  4. Bewertung erfolgt nicht nur nach Abschluss des Projektes: Auch Konzepte, laufende Pflege des Projekts und Zwischenergebnisse können und sollen bewertet und kommentiert werden. Das kann gerade mit den Mitteln von Social Media gut geschehen: Kommentare eigenen sich hervorragend dazu.
  5. Nicht alles bewerten wollen: Einzelne Aspekte oder Inhalte auswählen und dabei die Schülerinnen und Schüler mitreden lassen, was man wie bewerten soll.
  6. Dem Positiven mehr Gewicht geben als dem Negativen: Es geht darum, was Schülerinnen und Schüler lernen und können, nicht darum, was sie noch nicht können.
Quelle: berufsbildung.ch
Quelle: berufsbildung.ch

(2) Paradoxien in der schulischen Leistungsbewertung

Betrachtet man die oben stehende Grafik, so wird deutlich, welch komplexe Funktionen Leistungsbewertungen haben. Und dennoch handelt es sich nur um die Beschreibung eines Ideals: In der Schule haben sie häufig einen Selbstzweck: Lehrpersonen bewerten, weil das System das von ihnen verlangt und sie die reale oder vorgestellte Aufgabe haben, Selektion betreiben zu müssen. Diese Noten dienen dann zudem als motivierender Faktor – gelernt wird, weil das Lernen bewertet wird (und die Noten werden dann extern noch einmal mit zusätzlicher extrinsischer Motivation aufgeladen).

Nun ist das natürlich ein Problem, das längst bekannt ist: Es gibt Defizite in der schulischen Leistungsbewertung und -messung. Die werden immer stärker, weil die Kompetenzen in einer vernetzten Welt zunehmend eine individuelle Bedeutung erhalten und komplexer werden. Es gibt schulische und politische Prozesse, die sinnvollere Verfahren einführen und so den Problemen Rechnung tragen – aber auch die Gegenbewegung: Standardisierung und Qualifikation für Berufsausbildungen oder weiterführende Ausbildungsgänge werden immer stärker mit simplen, statistisch normierten Multiple-Choice-Tests gekoppelt, die teilweise auch von externen Anbietern erstellt und ausgewertet werden; nicht selten mit automatisieren Verfahren. (Martin Lindner hat auf die Tendenz aufmerksam gemacht, Testverfahren von MOOCs auch schulintern zu verwenden.)

Kurz: Je schwieriger es wird, Leistungen zu bewerten, desto eher tendiert man dazu, einfachen und untauglichen Verfahren großes Vertrauen zu schenken. Diese Paradoxien führen zu einer enormen Selbstreferenz von Testverfahren: »Lernen« bedeutet dann lediglich, die Spielregeln eines Tests zu lernen, der aber so normiert ist, dass die Beherrschung der Spielregeln anderen – die sie weniger gut beherrschen – schaden.

In der idealen Schule haben alle gute Noten, weil alle lernen und alle etwas können. In einem idealen Testverfahren entsprechen die guten Noten einer Normalverteilung – Lernprozesse sind weniger wichtig als statistische Verfahren.

Zeugnis Oberländische Schule Spiez, 1962. Quelle.

Social Media und Chancengerechtigkeit in der Bildung

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In der Schweiz und in Deutschland korreliert Bildungserfolg sehr stark mit der sozio-ökonomischen Herkunft, wie z.B. der Bildungsbericht 2010 zeigt. Das heißt, die Leistung einer Schülerin oder eines Schülers wird nicht durch die Qualität des erlebten Unterrichts oder die eigenen Fähigkeiten bestimmt, sondern durch den Status der Familie, besonders der Eltern: Wie »bildungsnah« oder »bildungsaffin« sie sind und wie groß ihr sozialer und wirtschaftlicher Status ist, bestimmt in einem hohen Maß, wie gut die Leistungen von Schülerinnen und Schülern sind.

Diese Erkenntnis ist ein Problem für das System Schule, ein Problem, das meiner Meinung nach zu wenig präsent ist in vielen Diskussionen. In der Fachliteratur werden zwei Effekte unterschieden:

Bildungsdisparitäten bezeichnen Bildungsunterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und stellen das Ergebnis von primären und sekundären Effekten dar. Unter den primären Effektenwerden die Sozialisationsbedingungen  im Elternhaus verstanden, welche bei gegebenen institutionellen (schulischen) Bedingungen zu unterschiedlichen Schulleistungen (Performanz) führen. Die sekundären Effekte bezeichnen die Sozialisationsbedingungen, die bei gegebener Performanz (z.B. gleicher Leistung) die Wahl von Bildungswegen beeinflussen.

Bei beiden Effekten ist die Rolle der Sozialisation entscheidend. Social Media ermöglichen nun theoretisch die Erweiterung der Sozialisation um zunächst virtuelle Beziehungen: Die Digitalisierung erlaubte, diskriminierende Strukturen aufzubrechen und Kindern und Jugendlichen Zugang zu den Bedingungen zu verschaffen, die für Schulerfolg entscheidend sind.

Das ist aber bislang eine Theorie. Das Problem – so entnehme ich den von Manfred Spitzer zitierten Untersuchungen – ist, dass Kinder aus benachteiligten Haushalten in der Tendenz technische Mittel so nutzen, dass sie die Benachteiligung vergrößert, statt sie zu verringern. Die unten stehende Grafik von Spitzer halte ich für problematisch, weil die Medien auch Pfeile nach oben darstellen könnten, abhängig von den Bedingungen, unter denen sie eingesetzt werden. Gerade das zeigt aber, wo der entscheidende Punkt liegt.

Technik ist kein Ersatz für ein Schulsystem, das allen gleiche Chancen bietet, sondern verschärft das Problem. Die hier skizzierten Überlegungen zeigen, dass Medienkompetenz eine fundamentale Bedeutung genießt, weil sie Bedingung ist, unter der Benachteiligungen von Kindern abgebaut werden könnte, weil soziale Netzwerke alternative Sozialisationsmöglichkeiten bereit halten. Und dennoch darf Medienkompetenz kein Feigenblatt sein, um die Auflösung dieser diskriminierenden Strukturen weiter aufzuschieben.

Missverständnisse beim Beurteilen der Medienkompetenz Jugendlicher

Wer sich mit diesen Erstgeborenen der digitalen Welt unterhält, der merkt allerdings schnell, dass es mit der Medienkompetenz nicht so weit her ist. Die technischen Fähigkeiten auch der Gymnasiasten beschränken sich oft aufs Wischen, Tippen, Hochladen. Schutz der Privatsphäre? Nie gehört. Einfach einen Account eröffnet, und da kommen die Fotos und Nachrichten dann eben rein. Die inhaltliche Kompetenz ist oft ebenfalls gering. Welche Fertigkeiten solide Recherche verlangt, hat sich kaum herumgesprochen. Und der Sinn von Datenschutz ist Schülern meistens unklar: Wer sollte da draufgucken außer den Freunden? Sie sind entsetzt, wenn sie hören: Wenn du da den Namen deines Vereins angibst und schreibst, dass du jetzt gleich zum Training gehst, kann jeder wissen, an welcher Straßenecke du in zehn Minuten bist.

Mit dieser Einschätzung ist Florentine Fritzen nicht alleine. So sinnvoll ihre daraus resultierende Forderung ist, »den bewussten Umgang mit den Medien zu fördern«, so diffus ist der Befund an sich.

Wie ich in einer interessante Diskussion auf Facebook schon festgehalten habe, liegt das grundsätzliche Missverständnis in der Vermischung von drei Ebenen:

  1. Der Mediennutzung Jugendlicher, die sich von der Erwachsener schon immer unterschieden hat und weiterhin unterscheidet. 
  2. Dem Unterschied einer Perspektive einer analogen Medienwelt zu der einer digitalen.
  3. Vorhandensein oder Fehlen von Medienkompetenz.

Häufig wird aus den Punkten i. und ii. vorschnell auf iii. geschlossen, also kurz: Weil Jugendliche Medien wie Jugendliche nutzen und die Perspektive der analogen Medienwelt vertreten wird, kann man ableiten, dass Jugendlichen wichtige Kompetenzen fehlen. Im Text zeigt sich das bei »Schutz der Privatsphäre«, »inhaltliche Kompetenz«, »Recherche«, »Datenschutz«. Jugendliche gehen mit ihrer Privatsphäre und ihren Daten anders um als Erwachsene – das heißt nicht, dass sie nicht ein Bewusstsein für den Wert eines Schutzes hätten. Aber es ist für Jugendliche beispielsweise generell wichtig, von ihren Peers gesehen zu werden. Wenn ihnen Erwachsene nun vorhalten, damit könnten sie gesehen werden, dann ist das kein Einwand: Genau das beabsichtigen sie ja.

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Um Medienkompetenz Jugendlicher beurteilen zu können, muss klar sein, welche Ziele sie verfolgen und welche Instrumente sie nutzen wollen. Auch in prä-digitalen Zeiten haben Jugendliche Schund gelesen: Weil sie Schund lesen wollten. Problematisch ist das dann, wenn sie denken, der Schund böte hochwertige Informationen. Das meint wohl Medienkompetenz generell: Ziele und Mittel in ein Verhältnis setzen können und bewusste Entscheide fällen.

Diese Entscheide und Ziele müssen aber nicht die von Erwachsenen sein. Während Jugendliche viele Menschen kennen lernen wollen, ist ihren Erziehenden oft das Gegenteil wichtig.

Medienkompetenz fördern Erwachsene nicht, indem sie Jugendlichen vorschreiben, wie sie was tun sollen; sondern vielmehr, indem sie mit ihnen sprechen und sie anregen, darüber nachzudenken, was sie tun, warum sie es tun und wie zufrieden sie mit den Resultaten sind. Jugendmedienschutz beginnt mit Gesprächen (und endet auch oft da), das Fördern von Medienkompetenz auch. Echtes Interesse hilft mehr als strenge Vorschriften.