Internet-Optimismus ist gleich schwierig wie wichtig

My animating belief is that politicians and bullshitters and ideologues have taken the idea of societal change and replaced it with a particular notion of technology as the only or main causal mechanism in history. Somehow, we’ve been convinced that only machines and corporations make the future, not people and ideas.

Der Gedanke, den Alexis Madrigal als eine Art Manifest formuliert, wird in Bezug auf das Internet kaum noch gedacht: Es wird nicht als das gesehen, was ich verkürzt »digitale Kommunikation« nenne – also das Resultat eines Bedürfnisses von Menschen, anderen Menschen etwas mitzuteilen und ihnen ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Zu Recht: Die enormen Investitionen, welche den Aufbau dieser Infrastruktur ermöglicht haben, wurden nicht von wohltätigen NGOs getätigt, sondern von Unternehmen, die einen Profit erwarten. Wir seien das Produkt im Internet, wird uns immer wieder klar gemacht, wenn wir einen Moment lang über die Möglichkeiten staunen, die unsere Smartphones bereit halten: Wir können zwar Google Maps nutzen, zahlen aber dafür mit »Daten«! Facebook verkauft unsere Freundeslisten an Werbekunden. Twitter »missbraucht« unsere Aktivitäten, um uns Inhalte anzuzeigen, die wir gar nicht sehen wollen. Snapchat verspricht, keine Bilder und Videos zu archivieren, »verliert« aber mehrere 100’000 solcher Bilder. Täglich können wir – wenn wir uns dafür noch interessieren – erfahren, wie Unternehmen im Netz Prinzipien missachten, das Gesetz umgehen und unsere Netzkommunikation zu Geld machen.

Dabei ist das die Spitze des Eisbergs: Amerikanische Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste können unsere Daten abfangen, die verwendeten Verschlüsselungen knacken und auf die Mikrofone und Kameras zugreifen, die wir nutzen. Was andere Regierungs- und Militärorganisationen können und machen, wissen wir kaum. Die Freiheit des Netzes entpuppt sich als das Trugbild, hinter dem sich totalitäre Überwachungsmethoden verstecken.

Und auch dort, wo Menschen scheinbar offen digitale Räume im Netz gestalten können, vertreiben sie Schwächere und Andersdenkende mit perfiden Methoden, lassen ihrem Hass freien Lauf und quälen Unschuldige. Hat Adam Thierer 2010 in einem zweiteiligen Essay (Teil 1, Teil 2, beide pdf) noch für Internet Optimismus plädiert und gezeigt, wie sich die Argumente der beiden Seiten unterschieden, hat sich der Pessimismus flächendeckend durchgesetzt.

Thierer, Teil 1, S. 67
The Case for Internet Optimism, Teil 1, S. 67

So erstaunt es nicht, dass in den Feuilletons der deutschsprachigen Zeitungen ein langweiliger Kulturpessimismus vorherrscht, wenn es um Neue Medien geht. Vielleicht müsste man präziser von einem Technikpessimismus sprechen. Es scheint, als hätten diejenigen Teile der Gesellschaft, die aufs Netz zugreifen (können), eine riesige Chance vergeben. Ein Vorgang, für den die Piratenpartei im politischen Bereich als trauriges Symbol gelten muss.

* * *

Und doch sind »wir« – eben, die Menschen, die auf Netz zugreifen können – ständig online. Alkoholkranke trinken auch weiter, obwohl sie wissen, dass sie sich damit vergiften, können Pessimistinnen und Pessimisten schnell einwenden. Aber der Vergleich ist schief:

  1. Trotz aller Mühen der Presseleute, ein tragfähiges Geschäftsmodell zu finden, war ich noch nie so gut informiert wie heute. Ich lese täglich tiefschürfende Beiträge zu Kultur, Politik und Sport – auf die mich mein Netzwerk hinweist.
  2. Ich nehme an Debatten teil, die mich betreffen und interessieren.
  3. Von zuhause auf greife ich auf mehr Bücher, Filme und andere Medien zu, als jede Bibliothek in meiner Nähe in ihrer Sammlung hat.
  4. Ich tausche mich regelmäßig mit Fachleuten aus, die sich in meinen Arbeitsschwerpunkten auskennen.
  5. Aus dem Netz sind viele Freundschaften entstanden; bestehende werden digital gepflegt.

Die Liste könnte verlängert werden. Ihr Fazit: Müsste ich auf digitale Kommunikation verzichten, bedeutete das eine gravierende Einschränkung meiner Lebensqualität. Und ich bin mit dieser Einschätzung nicht allein. Will ich dafür einstehen, dass der freiere und schnellere Fluss von Information, der das Internet mit sich gebracht hat, ein Fortschritt ist, so muss ich Optimist bleiben.

Nun ist das Resultat der Überlegungen nicht, dass das Internet Vor- und Nachteile hat oder dass man es positiv oder negativ sehen kann. Die Vorteile sind seine Nachteile, es ist positiv und negativ zugleich. Wer das Internet nicht naiv sieht, ist Optimist und Pessimist zugleich. Ich weiß, wie unerträglich die politische Ohnmacht gegenüber Massenüberwachung und die kapitalistische Vereinnahmung von Kommunikation sind; mir ist bewusst, dass Menschen (digitale) Rede- und Meinungsfreiheit immer auch dazu benutzen, zu Hass und Gewalt aufzurufen. Und dennoch bin ich nicht bereit, die positiven Auswirkungen zu leugnen.

Wer einfache Lösungen verspricht, versteht nicht, wie verstrickt gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Aspekte im Netz sind. Nur: Das zeichnet das Internet nicht einmal aus. Jede Frage, über die es sich nachzudenken lohnt, erweist sich als eine Vermischung verschiedener Perspektiven und lässt jeden Vorschlag einer einfachen Lösung als unüberlegt erscheinen. Vielleicht reicht das ja auch als Grund aus, um pessimistischer Netzoptimist zu bleiben: Das Projekt Internet ist ein spannendes Problem.

what if, xkcd
what if, xkcd

 

 

Selfies als Reaktion auf Massenüberwachung

Der öffentliche Raum wird zunehmend überwacht. Kameras und bald auch Mikrofone nehmen auf, was in Nahverkehrsmitteln, auf Plätzen, Bahnhöfen, Einkaufszentren und an vielen anderen Orten passiert, um eine diffuse Form von »Sicherheit« herzustellen.

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Gleichzeitig beginnen Menschen, Bilder von sich selbst zu machen. Zunächst oft alleine, dann in Gruppen. An ausgefallen Orten, bei ausgefallenen Tätigkeiten. Auf der Toilette, nach dem Sex, auf Bestattungen, in Konzentrationslagern. Kein Ort scheint heilig, nichts intim.

Die Selfies imitieren die Überwachung. Sie sind eine Reaktion darauf, dass die Kontrolle über das eigene Bild verloren gegangen ist. Sie stellen aber diese Kontrolle gleichzeitig wieder her, indem nämlich vor und hinter der Kamera dieselbe Person zu sehen ist. Die Technologie, die Massenüberwachung möglich und einfach macht, ist es, mit der sich Menschen selbst abbilden: Nicht nur fotografisch, sondern auch indem sie Daten von sich selbst sammeln – was sie essen, wie viel Sport sie treiben, wie viele Schritte sie pro Tag gehen, den Rhythmus ihres Herzschlags, ihren Blutdruck.

Selfies sind ein Symptom der gescheiterten Verhandlungen rund um Zustimmung, Kontrolle, Manipulation und Überwachung. Ein Bild von jemandem zu machen erfordert die Erlaubnis der anderen Person. Dieser moralische und rechtliche Grundsatz wird immer stärker aufgeweicht. Eine vernünftige Reaktion darauf ist es, sich selbst so zu zeigen, wie man erscheinen will.

Personen, von denen viele Selfies im Netz sind, können kaum durch unerwünschte Aufnahmen in ihrer Selbstrepräsentation gestört werden. Paradoxerweise genießen sie eine stärkere Privatsphäre, weil sie mehr zwischen den Selfies verstecken können als Menschen, welche diese Technik nicht nutzen.

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Diese Gedankengänge basieren auf dem brillanten Essay von Jenna Brager, »Selfie Control«, sowie auf Ausführungen von Zeynep Tufekci zu Überwachung.

Vor- und Nachteile des Experten-Daseins

Heute werde ich in 20 Minuten, einer Schweizer Gratiszeitung, mit Aussagen zum vermeintlichen Trend zitiert, dass fremde Menschen im öffentlichen Raum fotografiert und bloßgestellt werden. Ich habe gestern mit der verantwortlichen Journalistin kurz telefoniert und konnte dann meine Zitate gegenlesen. Das funktionierte alles, wie es sollte.

Aber schon beim Gespräch und beim Gegenlesen erfasste mich leichtes Unbehagen. Erstens wird hier etwas zu einem Trend gemacht, wofür es keine empirische Basis gibt. Seit Kameraphones verbreitet sind, gibt es Menschen, welche das Recht am eigenen Bild bei anderen missachten, oft auch im öffentlichen Verkehr.

Ich versuchte, das Phänomen auf drei Arten einzuordnen:

  1. Ich erklärte, dass es sich dabei um eine moralisch kaum vertretbare und juristisch zweifelhafte Vorgehensweise handle, die ich für übergriffig und verletzend halte.
  2. Ich verband sie mit der Überwachung des öffentlichen Raums und interpretierte sie als eine private Reaktion darauf, dass der Staat und Unternehmen im Namen der Sicherheit Videos und Bilder von uns anfertigen, ohne dass wir damit einverstanden sein müssen.
  3. Ich wies auf Beispiele von politischen Bewegungen wie »Breitmachmacker« hin, die solche Methoden als Widerstand verwendeten.

Waren im von mir gegengelesenen Text 1. und 3. vertreten, fiel 2. – meiner Meinung nach der interessanteste Aspekt – völlig weg. Der publizierte Texte spitzte meine Argumente noch einmal zu: Dramatische Tendenz hier, Experte mit klaren Worten da.

Im Schnitt werde ich jeden Monat ein oder zwei Mal zu solchen Phänomenen befragt und kenne die Abläufe. Mir ist bewusst, dass den Zielgruppen keine differenzierte Analyse zugemutet wird. Die Präsenz in reichweitenstarken Medien wertet mich als Fachmann paradoxerweise auch dann auf, wenn die getätigten Aussagen von jedem denkenden Menschen stammen könnten und Expertenwissen dafür keine Voraussetzung ist. Das Dilemma ist wohl kaum aufzulösen: Entweder den Platz jemand anderem überlassen und auf eigenen Plattformen – wie hier – für interessierte Lesende differenziert argumentieren, oder eingespannt zu werden für einen Text, der nur pointiert Wirkung entfaltet.

Über Tipps in den Kommentaren würde ich mich freuen!

Aus Marc Steffen und Philippe Wampfler wurde ein Experte.
Aus Marc Steffen und Philippe Wampfler wurde ein Experte.

Überwachung und Naivität

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Der Schluss einer Petition der Schriftstellerin Juli Zeh ist ein Beispiel dafür, wie naiv selbst diskursbestimmende Intellektuelle über die totale Überwachung durch Geheimdienste denken. Daher hier ein paar Feststellungen gegen diese Naivität.

  1. Es gibt heute keine digitale Lösung, der Überwachung zu entgehen. 
    Weder Linux, noch ein alternativer Mailprovider noch Hardwarehersteller schützen uns vor Überwachung im Netz. Unsere Mails werden gesichert, unsere Verschlüsselungen decodiert. Ob Laien sich um Sicherheit bemühen oder nicht ist, ist irrelevant.
  2. Niemand kann uns die Wahrheit über die Überwachung erzählen. 
    Überwachung ist ein so komplexes Geschäft, dass niemand den Überblick über alle Aspekte hat. Auch wenn der Wunsch von Juli Zeh, Frau Merkel könnte ihr und den Menschen in Deutschland »die volle Wahrheit« präsentieren, verständlich ist, so ist er doch auch unglaublich naiv. Angela Merkel weiß weniger als Juli Zeh. Es gibt unzählige Agenturen, Geheimdienste, Datenbanken. Daten werden gespeichert und abgerufen. Das ist alles. Menschen sitzen vor Computern und benutzen sowas wie Google: Nur sagt ihnen ihr Google mehr, als es uns sagt. Mehr ist Überwachung nicht; es gibt keine höhere Wahrheit, kein teuflischer Plan.
  3. Die Überwachung ist politisch gewollt. 
    Natürlich nutzen die Geheimdienste Wege und Verfahren, die nicht durch die üblichen politischen Stellen legitimiert werden. Aber was sie tun, entspricht auch in demokratischen Staaten dem Willen der Gesetzgebenden und einer Mehrheit der Menschen.
    Wer beispielsweise einen Bericht der Sonntagszeitung über Silk Road, ein Handelsplatz für Drogen im Netz liest, begegnet darin der Forderung nach totaler Überwachung: Alle Poststellen müssten mit Kameras ausgestattet werden, damit jede Paketsendung einer Person zugeordnet werden kann, die Post müsste durchsuchbar sein, der Datenverkehr von Bitcoins, einer digitalen Währung, überwacht werden; wie auch das Internet selbst. Wer Drogenhandel im Netz unterbinden will, braucht totale Kontrolle.
  4. Die Überwachung kann nicht eingeschränkt werden. 
    Nur die totale Überwachung ist eine sinnvolle Überwachung. Wenn ein Mailanbieter, ein Land, ein Betriebssystem sich der Überwachung entziehen könnten, dann würde sie als ganze ihren Wert verlieren.
  5. Gesetze sind kein taugliches Mittel gegen Überwachung. 
    Christof Moser ist Journalist bei der Schweiz am Sonntag. Auf seine Anfrage hin hat ihm der NDB (Nachrichtendienst des Bundes) folgendes »wording« zukommen lassen:
    1277747_10201210715284696_1137173102_oDas heißt wiederum: Es gibt einen Austausch von Daten, von dem die Verantwortlichen behaupten, er entspreche den Gesetzen. Ob das so ist, kann niemand wissen.
  6. Es gibt kein Rezept gegen die Überwachungsdynamik. 
    Menschen nutzen Freiheiten, um anderen zu schaden. Deshalb werden sie überwacht, um den Schaden abzuwenden. Die negative Auswirkung dieser Überwachung erfordert neue Freiräume, die wiederum missbraucht werden. Dieser Kreislauf ist so alt wie die menschliche Kultur. Zu meinen, wir könnten heute diese Dynamik ändern, ist naiv. Bevor nicht deutlich wird, dass diese Überwachung gefährlich ist, ändert sich daran nichts.
  7. Überwachung schadet denen am wenigsten, auf die sie abzielt. 
    Dazu Kusanowsky:

    Besser zurecht kommen vor allem diejenigen, die ihre Zeit nicht damit vertrödeln können, gegen diese Überwachung zu protestieren, sondern sofort anfangen, ihr gefährliches Geschäft auch unter der Bedingung der Überwachung fortzusetzen. Gemeint sind damit diese Terroristen. Sie werden nicht darauf warten bis die Welt, in der sie nur Angst und Schrecken verbreiten möchten, eine bessere geworden ist.  Sie mögen sich zwar aufgrund dieser Überwachung zunächst irritieren, aber sie werden ihr Geschäft nicht aufgeben, sondern genau das tun, was Not tut, um ihr Geschäft des Mordens weiter zu betreiben: sie werden lernen, wie es geht.
    So sind die Überwachungsmaßnahmen nicht nur nicht dazu geeignet, den Terror zu bekämpfen. Vielmehr sorgen sie dafür, dass ausgerechnet diese Terroristen von ihren Auswirkungen zuerst verschont bleiben können, weil sie intelligentere Wege suchen müssen, ihre Geheimnisse zu behalten.

Kusanowskys Fazit kann ich mich anschließen: Wir müssen lernen, wie wir Freiheiten zurückgewinnen können.

Denn wer lernen will noch bevor man durch die Umstände zum Lernen gezwungen wird, stellt fest, dass es keine Lehrer gibt, keine Erfahrungen, keine Methoden, keine Beziehungen, ja nicht einmal ist das zu Erlernende bekannt. Und weil das so schwer anzufangen ist, ist es allemal einfacher, Protest, dem keinerlei Widerstand entgegen gebracht wird, zu äußern.

Dieses Lernen wird eine Mischung aus Technik, Politik und sozialer Organisation sein. Ein Rückfall in analoge Kommunikation ist nicht denkbar, schon allein deshalb nicht, weil die ja ebenfalls digitalisiert und überwacht wird (in den USA werden von allen Briefen Metadaten automatisch eingescannt).

Und trotz dieser Einsicht möchte ich einen Kommentar bei Kusanowsky nicht unterschlagen, er stammt von @fritz:

Tatsächlich haben aber die Attentäter, die Anschläge aufs Netz verüben [gemeint: die NSA, PhW], wovor am meisten Angst? Vor harten Abwehrgesetzen, die ihre bislang selbst gemachten Gesetze außer Kraft setzen. Mit so ein bisschen Underground-Darknet-Frechheiten, TOR etc. würden sie dagegen zur Not sicherlich auch noch fertig werden … wenn die Gesetze das frei geben, ist der Rest ja nur noch ein technisches Problem.

Diese Feststellung mag für die USA zutreffend sein. Wenn man beispielsweise Philip Mudd bei Colbert anhört und ihm Glauben schenkt, dann scheint die Gesetzeslage auch für die amerikanischen Sicherheitsinstitutionen, die wenig Skrupel kennen, eine Bedeutung zu haben. Darauf hinzuarbeiten, dass Grundrechte geschützt werden, dürfte eine Art sein, wie man sich einer gewissen Sicherheit annähern kann – ohne zu wissen, ob  nicht ähnliche Systeme von chinesischen, indischen, russischen oder privaten Nachrichtendiensten bereits betrieben werden…

Wie soll man digitaler Überwachung begegnen?

Ich habe letzte Woche festgehalten, warum Überwachung ein Problem ist:

Überwachung ist falsch, weil sie verändert, wie wir alle handeln und wie wir alle entscheiden.

Überwachung von digitaler Kommunikation ist eine Realität. Wir werden nicht nur von Staaten (nicht nur von den USA, auch von China, Russland etc.), sondern auch von Unternehmen überwacht (Linktipp: Hier sieht man, wo unsere Daten hinreisen.). Welche Handlungsmöglichkeiten bleiben uns?

Nehmen wir der Einfachheit halber an, ein Detailhandelsunternehmen wollte überwachen, was wir einkaufen. Das Modell ist ziemlich realistisch: Es hilft zu verstehen, wie Überwachung funktioniert. Unser Unternehmen nutzt folgende Methoden:

  1. Karten für Bonusprogramme, mit denen man seine Einkäufe freiwillig registrieren lassen kann.
  2. Kameras, mit denen alle Kassen überwacht werden und die Gesichter der Einkaufenden gescannt.
  3. Befragungen von Freiwilligen über ihre Einkaufsgewohnheiten.
  4. Statistische Auswertungen von Verkäufen.
  5. Statistische Auswertungen von allen Daten, die mit i.-iv. erhoben werden können.

Welche Möglichkeiten haben wir nun, der Überwachung zu entgehen?

Supermarkt

(1) Verweigerung und Verzicht

Wir kaufen nicht mehr dort ein, weil wir nicht überwacht werden wollen. Was sind die Alternativen? Wir kaufen einfach nicht mehr ein, was wir nicht brauchen. (Übersetzt: Wir nutzen digitale Kommunikation so sparsam wie möglich.) Wir beginnen, Güter selber herzustellen, pflanzen Gemüse an und halten Tiere – aber ohne können wir nicht leben. (Übersetzt: Wir programmieren eigene Tools, die wir verstehen und ohne zentrale Infrastruktur nutzen können. Hier werden z.B. Alternativen zum Internet diskutiert.)

Allerdings sind wir nicht davor gefeit, dass die Personen, mit denen wir zusammenleben, einkaufen und so Informationen über uns preisgeben. Zudem fällt auch unser Wegbleiben aus den Supermärkten auf. Und eigentlich nehmen wir so den »Chilling Effect« der Überwachung vorweg: Wir ändern unser Verhalten radikal, weil es Überwachung gibt.

(2) Geschäfte ohne Überwachung vorziehen

Wenn ich auf den Wochenmarkt gehe, kann ich bar bezahlen und muss allenfalls damit rechnen, dass der Gemüsehändler oder die Fischfrau sich merken, was ich einkaufe. Große Datenauswertungen und Register gibt es aber keine. (Übersetzt: Dienste nutzen, die nicht routinemäßig überwachen und minimal mit Regierungen kooperieren. Hier gibt es eine Übersicht.)

Selbstverständlich bezahle ich auch hier einen Preis: Die Güter sind teurer und ihre Besorgung ist mit größerem Aufwand verbunden. Und selbst ohne mich können Supermarktketten Einkaufsprofile erstellen, die mich auch berücksichtigen – weil sie so gute Daten haben.

(3) Geheimhaltung und Trollen

Ich habe mehrere Bonuskarten für das Geschäft, in dem ich einkaufe. Recht zufällig verwende ich die eine oder die andere und schaffe so zwei Profile, die eine sinnvolle Auswertung erschweren. Es gibt eine Reihe von Massnahmen, die Überwachung erschweren und falsche Informationen verbreiten.

Gleichzeitig könnten wir beim Einkauf die Produkte abdecken und unser Gesicht hinter einer Maske verbergen. (Übersetzt: Verschlüsselungen einsetzen. Experte fefe dazu: »Das artet schnell in Arbeit aus, daher hat es sich noch nicht in der breiten Bevölkerung durchsetzen können.«)

(4) Tun, als ob nichts wäre

Diese Variante ziehen die meisten Menschen vor. Zwar finden sie Überwachung von Einkäufen nichts Schlimmes und weisen ihre Karte unter Umständen nicht vor, wenn sie gerade die billigen Hühnchen aus Ungarn kaufen oder die große Tube Gleitcrème. Aber sonst denken sie gar nicht drüber nach und sind froh, ab und zu ein paar Prozent sparen zu können.

So naiv diese Position erscheint, so berücksichtigt sie doch, dass es sehr viele Wege gibt, Menschen zu überwachen. Nur weil die Betreiberinnen und Betreiber eines Supermarkts weniger gut wissen, ob wir Bio-Produkte vorziehen oder Importbier trinken, heißt das nicht, dass unsere Nachbarinnen und Nachbarn das nicht wissen. (Übersetzt: Wir können zwar der Routineüberwachung im Internet entgehen, wissen aber nicht, ob unser Telefon abgehört wird, unsere Briefe gelesen werden und wir im öffentlichen Raum gefilmt werden.)

(5) Politik, Bildung und Abbau von Abhängigkeiten

Der letzte Weg ist der politische: Gesetze können verändert oder beeinflusst werden. Dieses Engagement ist sinnvollerweise mit Bildung und Aufklärung verbunden – aber auch mit einer Lokalisierung: Globale Lösungen führen oft zu Abhängigkeiten und zu Überwachung, weil Menschen einander nicht mehr kennen und sich als Sammlung von Daten wahrnehmen. Kleinräumige Lösungen kommen mit weniger Überwachung aus.

* * *

Was heißt das nun für die digitale Kommunikation? Mir scheint der Punkt (5) entscheidend. Ich kann einige Gebote befolgen, auf Google verzichten, eine Linux-Maschine verwenden, Emails verschlüsseln. Dabei bin ich aber auf viele andere Menschen angewiesen, die es mir vielleicht nicht gleich tun und so meine Daten weitergeben, ohne dass ich mich wehren kann.

Daher halte ich es sinnvoll, neben kleinen Troll-Aktionen zu verstehen, wie Überwachung funktioniert, darüber zu reden und mich dagegen zu wehren. Ganz einfach z.B. mit der Teilnahme an der Online-Petition gegen das neue Überwachungsgesetz BÜPF in der Schweiz.

Warum Überwachung ein Problem ist

Überwachung ist ein konstantes Thema in der digitalen Kommunikation. Nicht erst seit Edward Snowden enthüllt hat, wie die NSA auf Daten aus dem Internet zugreift, gibt es Widerstand und Empörung gegen staatliche Überwachung in Internet. Im folgenden Beitrag möchte ich diskutieren, warum diese Überwachung ein Problem ist. Ich bin der Meinung, dass dies oft mit wenig überzeugenden Argumenten gezeigt worden ist, und beginne deshalb mit einer Kritik der Überwachungskritik.

(1) Der Ausnahmezustand als das schlechteste aller Argumente

Judith Horchert hat in einem SPON-Essay darüber nachgedacht, was dem Bundesnachrichtendienst an ihrer Online-Präsenz auffallen könnte. Sie sei ein »unschuldiger und unverdächtiger Mensch« und wolle daher weder »ihr Leben geändert bekommen« noch ihr Verhalten erklären müssen. Das Problem mit dieser Sichtweise: Ob wir verdächtig sind oder nicht, entscheiden nicht wir selbst. Ein Verdacht ist gerade nicht an eine Schuld – im Sinne des Rechtsstaates – gekoppelt. Sobald eine Bombe hochgeht, ein Kind verletzt wird oder schon nur Geld verschwindet, sind alle Bedenken in Bezug auf Überwachung hinfällig. Menschen sind auch in demokratischen Gemeinschaften bereit, im Ausnahmezustand umfassende Überwachungssysteme zu bewilligen, die eine große Menge an Menschen verdächtigen. Zu denken, dass gerade der Ausnahmezustand dazu führen könnte, dass wir aufgrund unseres Online-Verhaltens ungerechtfertigterweise verdächtigt würden, ist naiv: Der Ausnahmezustand führt immer dazu, dass Menschen ungerechtfertigerweise verdächtigt, überwacht und verhaftet werden. Dagegen kennen weder Rechtsstaat noch Demokratie ein Mittel.

Surveillance, David Chang
Surveillance, David Chang

(2) Die Reaktion auf das »Nothing-To-Hide«-Argument

Wer nichts zu verbergen habe, habe auch nichts zu befürchten, meinen viele Advokatinnen und Advokaten von umfassender Überwachung. Betroffen seien ja nur die anderen – also die, welche der Gemeinschaft schaden. Und tatsächlich ist dieses Argument in einem klar definierten Kontext gültig: Geschwindigkeitskontrollen gehen in Ordnung, weil erstens die Daten sparsam erhoben werden, nicht archiviert werden und die Kontrolle dazu dient, eine erwünschte Anpassung des Verhaltens herbeizuführen. Warum aber gilt das Argument in einem größeren Kontext – z.B. bei der Überwachung aller Emails – nicht? Standardargumente enthalten die Beobachtung, dass alle Menschen etwas zu verbergen hätten und das auch tun bzw. wollen, oder kritisieren das Argument, weil es die Zusammenhänge umkehrt: Menschen müssen nicht rechtfertigen, warum sie nicht überwacht werden wollen, vielmehr muss die Überwachung begründet werden.

Doch diese Argumente greifen zu kurz, weil sie entweder davon ausgehen, dass Privatsphäre bedeutet, etwas zu verstecken (was implizit Überwachung legitimiert), oder dass Überwachung nicht begründet werden kann. Es ist sinnvoll, bei der Diskussion von Überwachung davon auszugehen, dass sie im Rahmen eines demokratisch erlassenen Gesetzes erfolge (ansonsten gibt es ohnehin einfache Möglichkeiten, sie zu kritisieren).

(3) Was ist eigentlich Privatsphäre? 

Privatsphäre ist mehr als das Recht, Informationen zu verstecken. Überwachung verletzt mehrere Aspekte unseres Rechts, aus verschiedenen Gründen die Kontrolle über persönliche Informationen zu behalten. Es ist falsch, davon auszugehen, dass wir alle Steuern hinterziehen, unsere Partnerinnen und Partner betrügen oder ständig moralische Tabus brechen. Entscheidend ist, dass wir oft abwägen, wem wir was erzählen. Privatsphäre ist ein Konzept mit komplexen juristischen, sozialen und kognitiven Bestandteilen, das sich nicht einfach darauf reduzieren lassen kann, Verbotenes oder Verpöntes geheim zu halten.

(4) Das System braucht Daten

Es gibt kein Leben ohne Preisgabe von Daten. Wenn wir Briefe verschicken wollen, dann braucht die Post aus logistischen Gründen eine Adresse des Senders und der Absenderin, um funktionieren zu können. Der Staat braucht Informationen über seine Bürgerinnen und Bürger, um sicher stellen zu können, dass alle eine Ausbildung genießen und ans Abwassersystem angeschlossen sind. Und Google braucht unsere Daten, um uns tolle Dienstleistungen anzubieten. Überwachung ist ein Preis, den wir dafür zahlen, dass unser Leben einfacher wird. Digitale Technologie ermöglicht die verlustfreie, aufwandslose Kopie. Sie befördert die Verbreitung von Wissen, schafft neue Voraussetzungen für Kreativität: Aber erleichtert auch Überwachung. Überwachung ist das Prinzip des Internets.

Wir wollen, dass Verbrechen aufgeklärt werden können. Und doch übersehen wir dabei oft naheliegende Probleme, mit denen Grenzen überschritten werden.

Das Immersion-Projekt des MIT zeigt, wie unsere Gmail-Kontakte vernetzt sind. Allein die so genannten Metadaten lassen differenzierte - aber natürlich auch falsche - Rückschlüsse über unser soziales Umfeld zu.
Das Immersion-Projekt des MIT zeigt, wie unsere Gmail-Kontakte vernetzt sind. Allein die so genannten Metadaten lassen differenzierte – aber natürlich auch falsche – Rückschlüsse über unser soziales Umfeld zu.

(5) Probleme von Überwachung

Überwachung schadet ganz konkret – auch abgesehen vom Ausnahmezustand. Hier einige Probleme, die entstehen:

  1. Bürokratie
    Überwachung wird von Menschen durchgeführt, die in bürokratischen Prozesse eingebunden sind: Sie halten sich oft an starre Abläufe, sind aber auch frustriert, machen Fehler, sind gleichgültig und werden zu wenig kontrolliert, so dass einfach vieles nicht so läuft, wie das die Gesetzgeberin oder das Gesetz vorsehen.
  2. Menschen und Hierarchien
    Überwachung führt zu überwachten Menschen und überwachenden. Diese handeln zwar im Auftrag einer Gemeinschaft oder des Staates, doch dieser Auftrag ist in den problematischen Fällen weder klar noch explizit vorhanden (anders als im Fall der Geschwindigkeitskontrolle). Wer nun überwachen kann oder muss, ist versucht, die dadurch entstehenden Möglichkeiten zu nutzen. Gleichzeitig entsteht so eine Klasse von Menschen, die zu Daten Zugang hat, die für andere nicht einsehbar sind.
  3. »Chilling Effect« 
    Anne Roth schreibt über ihre Erfahrung mit Überwachung:

    Irgendwann bemerkte ich eine Stimme in meinem Kopf: „Dreh dich auf der Straße nicht um! In den Akten stand, dass sie das bei Andrej verdächtig fanden.“ – „Mach keine Witze über Brandanschläge am Telefon! In den Akten stand, dass sie das in einem Telefongespräch mit deiner Mutter angestrichen haben.“

    Der Chilling Effect beschreibt, dass wir unser Verhalten ändern und anpassen, wenn wir wissen, dass wir beobachtet und überwacht werden. Wir tun nicht mehr, was wir wollen, sondern eher das, was uns unverdächtig erscheinen lässt.

  4. Eigendynamik von Überwachung und Verdächtigung
    Überwachung müsste wohlwollend geschehen: Entlastende Informationen müssten berücksichtigt werden, selbst das Fehlen von belastenden Informationen müsste als Entlastung interpretiert werden. Tatsächlich führen Überwachungssysteme dazu, dass die Überwachung selbst gerechtfertigt wird: Details werden immer so interpretiert, dass sie für eine Beibehaltung oder Ausdehnung von Überwachung sprechen. Kann ein Verdacht nicht erhärtet werden, so spricht genau das dafür, ihn beizubehalten. Dieser Paradoxie kann sich kein Überwachungssystem entziehen. Eines der überraschendsten Beispiele ist die Aktion dieses Menschenrechtsaktivists, der sich mit Proxy-Servern in Pakistan englische Literatur zugeschickt hat und verdächtigt wurde, weil James Joyce und Gerard Manley Hopkins Sätze schrieben, die schwer verständlich sind (aber offensichtlich keine geheime Botschaft enthalten, weil es klassische Texte der englischen Literatur sind).
  5. Ausschluss und Intransparenz
    Überwachung hat mit digitaler Kommunikation grundsätzlich nichts zu tun – es gab sie schon immer. Die Nachbarinnen und Nachbarn, die mitbekommen, wann wir streiten, Sex haben, nach Hause kommen, kochen, die Toilette benutzen; die Unternehmen, die unsere Bedürfnisse decken; die Archive, die unser Wissen sammeln: Sie alle überwachen Menschen und verletzen ihre Privatsphäre. Aber in der Regel ist uns das Ausmaß und die Funktionsweise dieser Überwachung bewusst: Ich weiß, dass die Verkäuferin im Dorfladen mitbekommt, wie gesund ich mich ernähre, wie oft ich Kondome kaufe und was meine Nachbarinnen und Nachbarn über mich denken; und ich habe eine Vorstellung, wie sie mit diesem Wissen umgeht. – Die NSA-Überwachung und ähnliche Systeme in Europa haben diese Eigenschaft nicht: Wir können nicht einsehen, welche Informationen der Staat oder Geheimdienste über uns sammeln, wofür sie verwendet werden und mit welchen anderen Datenbanken sie verbunden werden. Die Verkäuferin im Dorfladen weiß plötzlich auch das, was meine Ärztin weiß, meine früheren Lehrpersonen über mich wissen, sie ist auch mein Sachbearbeiter bei der Bank und auf dem Steueramt. Ihr Wissen ist aber dennoch lückenhaft und blendet vieles, was für das Verständnis meiner Motive und Handlungen wichtig ist, aus. Die Verkäuferin nutzt nun dieses verzerrte, aber vernetzte Wissen – um im Bild zu bleiben – für beliebige Zwecke: Sie entscheidet aufgrund meiner Einkäufe, ob ich einen Fahrausweis bekommen soll, mich für einen bestimmten Beruf eigne oder ob ich einen Blog führen darf oder nicht. Kurz: Daten werden verzerrt, aggregiert und für sekundäre Zwecke verwendet.
Surveillance, Dustin Davis
Surveillance, Dustin Davis

(6) Regeln biegen, Regeln brechen

Im aktuellen Spiegel (pdf) sagt Snowden im Interview:

Aufgabe der NSA ist es, von allem Wichtigen zu wissen, das außerhalb der Vereinigten Staaten passiert. Das ist eine beträchtliche Aufgabe, und den Leuten dort wird vermittelt, dass es eine existentielle Krise bedeuten kann, nicht alles über jeden zu wissen. Und dann glaubt man irgendwann, dass es schon in Ordnung ist, sich die Regeln etwas hinzubiegen. Und wenn die Menschen einen dann dafür hassen, dass man die Regeln ver- biegt, wird es auf einmal überlebenswichtig, sie sogar zu brechen.

Und der Sicherheitsexperte Jacob Appelbaum fügt hinzu:

Die Vorstellung, es sei in der Tat das Recht, das darüber entscheidet, was passiert und wie es passiert, trifft nicht zu; in Wirklichkeit ist es die Technologie, sind es die Hardware und die Codes. […]

Heute zieht beinahe jeder eine Datenspur hinter sich her, die manipuliert und verdreht werden kann. Firmenvorstände wissen um diese Machtdynamik, und nur wenige wagen es aufzumucken – falls es überhaupt einige wagen und falls es überhaupt welche gibt, die das Spiel durchschauen.

Das heißt: Auch wenn wir davon ausgehen, dass ein umfassender Überwachungsapparat gewollt und legitimiert ist, und auch wenn wir sicherstellen könnten, dass er keine Fehler macht und sauber arbeitet – beides ist höchst unwahrscheinlich – selbst dann wird er seinen Rahmen erweitern, Gesetze hinbiegen und sie schließlich brechen. Die Überwachung selbst schafft neue Möglichkeiten, die letztlich die Bedingungen verändern, unter denen wir leben und entscheiden. Überwachung ist als System autopoietisch: Sie legitimiert sich selbst und weitet sich aus. Wenn Daten gesammelt werden, werden sie auch benutzt – und meist nicht mehr für das, wofür sie gesammelt worden sind.

Geht es in der heutigen politischen Diskussion um Sicherheit, um Terroristinnen und Kinderschänder, so befasst sich das System schon mit Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Überwachung ist falsch, weil sie verändert, wie wir alle handeln und wie wir alle entscheiden.

Überwachung als pädagogische Versuchung

eLearning nutzte ich zum ersten Mal intensiv mit BSCW. Eigentlich handelt es sich dabei um ein öffentliches Verzeichnis von Dateien, die man schon auch kommentieren kann, aber eigentlich legt man nur Dateien ab oder lädt sie runter. Schnell machte ich mich mit einem netten Feature vertraut: Ich hatte die Rechte, um ansehen zu können, wer eine Datei wann geöffnet hatte.

Also überprüfte ich bei Aufträgen an Schülerinnen und Schüler vor einer Lektion, wer denn ein bestimmtes Dokument geöffnet und also den Auftrag erfüllt hatte und wer nicht. Ich machte das auch transparent, setzte es als Druckmittel ein: »Ich überprüfe, wer die Hausaufgaben macht.«

Die Technologie gab mir ein Mittel in die Hände, das es vorher nicht gab. Solche Überwachungsvorgänge wiederholten sich: Wenn Aufgaben per Mail abgegeben werden mussten, merkte ich, wer die Aufgaben früh und wer spät abgab, dasselbe funktioniert bei Google Forms, oft kann ich mir sogar an der IP-Adresse ablesen, ob Schülerinnen und Schüler in der Schule arbeiten oder zuhause.

I want to believe. Lupo Manaro, society6.
I want to believe. Lupo Manaro, society6.

Lernende zu überwachen ist eine pädagogische Versuchung. Die Illusion, der Mehrwert der Überwachung könnte pädagogisch genutzt werden, ist verführerisch. Warum handelt es sich um eine Illusion? Kontrolle schafft Druck und falsche Anreize. Wer ohne Kontrolle nicht lernt, lernt mit Kontrolle selten besser. Zudem verschaffen Daten oft einen falschen Eindruck: Wer die Hausaufgaben um 23.55 abschickt, erweckt den Eindruck, sie in letzter Minute erledigt zu haben, obwohl sie vielleicht längst gemacht waren, aber erst dann verschickt wurden.

Wie widersteht man der Versuchung?

Mein Vorschlag wäre folgender:

  1. Wenn immer es geht, Lernende online mit Pseudonymen arbeiten lassen. 
  2. So wenig Daten wie möglich erfassen.
  3. Die Möglichkeiten der Überwachung nicht nutzen.
  4. Transparent machen, welche Daten man einsehen kann und wie man mit ihnen umgeht – Lernende nicht überraschen und sie nicht versteckt überwachen.

Gerne würde ich diesen Gedankengang diskutieren.

Vorstellung: Me & My Shadow – Welche Spuren hinterlassen wir im Internet?

Die ästhetisch sehr ansprechende Website »Me & My Shadow« vermittelt sehr anschaulich Informationen über digitale Spuren, die wir im Internet hinterlassen. Die Seite gibt es leider nur auf Englisch, eine Lektüre der Texte und ein Durchlauf durch die interaktiven Angebote ist aber sehr lohnend.

 

 

Das Feature »Trace my Shadow« erlaubt es zu erfahren, welche Spuren man überhaupt im Internet hinterlässt – basierend auf einigen Nutzungsangaben. Danach ist es möglich, zu jeder Spur genauere Angaben zu erhalten.

Die Seite bietet auch die Möglichkeit, interaktiv zu erfahren, was die wesentlichen Punkte der EULA (»End User Licence Agreements« oder Allgemeine Geschäftsbestimmungen) von Online-Diensten sind, welche versteckten Datensammlungen damit legitimiert werden – siehe »Lost in Small Print«.

Die Betreiber der Seite beschreiben den Zweck ihres Angebots wie folgt:

Me and my shadow is a new initiative by Tactical Tech that will examine different aspects of the digital traces we leave behind us online. The project has developed out of a growing concern for the way that privacy issues are impacting social networking users and owners of online and mobile devices. These are important issues for everyone, but they have a particularly serious impact on rights and transparency advocates, independent journalists, and activists who can be targets of surveillance, censorship and control.
[Übersetzung phw:] »Me and my shadow« ist eine neue Initiative von Tactical Tech. Sie überprüft verschiedene Aspekte von digitalen Spuren, die wir online hinterlassen. Das Projekt ist aus der wachsenden Besorgnis entstanden, dass Privatsphärenprobleme Nutzer von Social Media und mobilen Geräten immer stärker beeinflussen. Dabei handelt es sich um wichtige Themen für jedermann, aber besonders für AktivistInnen im Bereich der Privatsphäre, unabhängige JournalistInnen und andere AktivistInnen, die das Ziel von Überwachung, Zensur und Kontrolle werden könnten. 

Facebook durchsucht Chats

In einem einflussreicher Artikel von Reuters sagte der Chief Security Officer von Facebook, Joe Sullivan, dass Facebook proaktiv die Kommunikation seiner Nutzer auf potentielle Straftaten durchsuche. Konkret werden Chats protokolliert (und selbstverständlich bei Facebook gespeichert), aber auch auf bestimmte Schlüsselwörter durchsucht. Es ist unklar, wie das genau funktioniert, aber offenbar spielen folgende Faktoren eine Rolle:

  1. Die Art der Beziehung (Beziehungen, die nicht »real« zu sein scheinen, sind für Facebook verdächtiger).
  2. Das Alter der Chatteilnehmenden – junge User werden besonders geschützt.
  3. Bestimmte Begriffe oder Wendungen.
  4. Die Tatsache, ob jemand schon einmal wegen eines angeblichen Fehlverhaltens gemeldet worden ist.

Unklar ist, ob Facebook in Deutschland proaktiv auf Strafverfolgungsbehörden zugeht, wenn das Unternehmen aufgrund seiner automatisierten Systeme einen Verdacht auf eine potentielle Straftat hat, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. In einem Fall in Florida konnte mit dem System offenbar ein 33-jähriger Mann verhaftet werden, der sich mit einem 13-jährigen Mädchen treffen wollte.


Die Reaktionen sind deutlich. In seiner SPON-Kolumne fordert Sacha Lobo eine Ausweitung des Briefgeheimnisses hin zu einem »Telemediengeheimnis«:

Private Chats sind 2012 das, was Briefe 1948 waren. Die Frage nach der Sicherheit der User ist berechtigt und muss von Facebook beantwortet werden. Allerdings ist die heimliche Totalüberwachung eines Instruments, das von den meisten Leuten als höchst privat empfunden wird, keine Antwort auf diese Frage. Ungefähr ebenso wenig wie die Installation von Überwachungskameras in Privatwohnungen zum Schutz vor häuslicher Gewalt. Oder die grundsätzliche Öffnung und Durchsicht von Briefen. Womit der Zirkel geschlossen wäre, denn auch den 4 Müttern und den 66 Vätern des Grundgesetzes dürfte klar gewesen sein, dass die ständige Kontrolle aller Inhalte von Briefen, Post und Fernmeldesituationen eventuell Straftaten hätte verhindern können. Aber sie haben das Gegenteil davon ins Grundgesetz geschrieben. […] Wir brauchen ein Telemediengeheimnis.

Die Berliner taz stellt klar, dass es eigentlich keine Gesetzesänderung braucht, es lediglich unklar ist, ob sich Facebook an deutsches Recht halten muss. Zudem zeigt der Artikel, dass nicht nur Facebook, sondern auch Google und Skype Chats und Mails systematisch durchsuchen, es eine Privatsphäre nicht gibt.

Der Artikel zitiert Sullivan mit einer interessanten Aussage zur Frage, ob es nicht problematisch ist, wenn User systematisch überwacht werden:

„Wir wollten nie eine Umgebung schaffen, in der Angestellte private Kommunikation beobachten, deshalb ist es uns sehr wichtig, Technologie zu benutzen, die selten falschen Alarm auslöst“, erklärt Sicherheitschef Sullivan das Überwachungssystem. Chat-Verläufe werden deswegen zunächst maschinell gelesen und erst bei Auffälligkeiten an Menschen weitergeleitet.

Vorstellung: MinorMonitor. Kinder auf Facebook überwachen.

Mit verschiedenen Tools können die online- und offline-Aktivitäten von Kindern am Computer überwacht werden (das Apple Betriebssystem OS X ermöglicht es Eltern sogar, festzulegen, welche Wörter im Wörterbuch ausgeblendet werden sollen). Diese Überwachungskultur gedeiht insbesondere in den USA, wo insbesondere religiöse Kreise daran interessiert sind, gewisse Inhalte von ihren Kindern fernzuhalten – sie aber dennoch in der Nutzung von Neuen Medien schulen möchten.

Meine Empfehlung wäre, solche Tools immer transparent einzusetzen: Kinder also zu informieren, dass ihre Aktivitäten überwacht werden, dass die Eltern sehen können, welche Seiten sie besucht haben, welche Suchanfragen sie verwendet haben, was sie auf Facebook geschrieben haben. Transparent sollte ebenfalls sein, was die Eltern von Kindern erwarten, wenn sie auf Facebook oder im Netz aktiv sind.

MinorMonitor erfordert, dass man sich mit dem Facebook-Account des Kindes einloggen kann, das man überwachen möchte. Das Tool ist gratis und erfordert keine Installation von Software, man muss sich aber registrieren, um es nutzen zu können.

Man sieht an den folgenden Beispielen, dass das Tool nur in Bezug auf die Verwendung der englischen Sprache einen Sinne ergibt. Es durchleuchtet nach bestimmten Kriterien sämtliche Bilder, Kommentare und Freunde (dort achtet das Tool z.B. auf das angegebene Alter). [Die Bilder werden größer, wenn man draufklickt.]


MinorMonitor hat zur Werbung für den Dienst eine hübsche Infografik erstellt, die wiederum die Situation in den USA wiedergibt. Die Grafik zeigt insbesondere, dass sehr junge Kinder schon auf FB aktiv sind und dass Eltern verschiedene Methoden verwenden, um ihre Konten zu überwachen (z.B. werden sie ihre FB-Freunde).