Herausforderungen auf Facebook

Das Prinzip ist einfach: Auf Facebook fordern sich vor allem junge Menschen gegenseitig heraus, ins kalte Wasser zu springen – in Brunnen, Bäche, Seen, Badis. Tun das die Herausgeforderten, dürfen sie weitere Nominationen aussprechen, tun sie es nicht, schulden sie den Herausfordernden etwas – Bier, meistens, es kann aber auch etwas anderes sein. Ursprung der Idee ist wahrscheinlich eine Sammlung für ein krebskrankes Kind in England.

Bildschirmfoto 2014-05-03 um 14.16.17

Der Trend ist mittlerweile so vorüber, dass ihn sogar die etablierten Medien und Politikerinnen und Politiker mitmachen, wie man hier sieht. Das ich nach meiner Meinung gefragt worden bin, hier eine kurze Analyse:

  1. Das Phänomen zeigt, wie Social Media funktionieren: Durch Beziehungen, mit visuellen Inhalten und mit positiven, unterhaltsamen Geschichten, die nicht zu lang sind. Anderen zuschauen, wie sie in einen See springen und wen sie damit in Verlegenheit bringen: Solche Inhalte sind für Facebook ideal.
  2. Das Mem, das verwendet wird, also die Idee, die mediale Verbreitung findet, ist uralt: Auch die klassischen Duelle benutzen die Öffentlichkeit und den Ruf der anderen Person, um sie zu etwas zu zwingen, was sie unter Umständen nicht tun wollte. Viele Wetten unter Jugendlichen funktionieren so, dass es darum geht, das eigene Image vor den Augen eines Publikums zu verteidigen.
  3. Damit sind selbstverständlich auch negative Effekte verbunden: Mobbing benutzt dieselbe soziale Konstellation. Viele schauen wenigen zu, die etwas tun müssen, was sie nicht tun wollen. Fordert man jemanden heraus, der nicht einfach locker in einen Fluss springen will oder kann, so kann das sehr unangenehme Konsequenzen haben. Aber auch diese Art des halb-öffentlichen Übergriffs ist ein Social Media inhärentes Phänomen.

Herausforderungen sind nichts Neues, sind werden medial einfach neu verpackt. Durch die Tatsache, dass alle eine Kamera mit sich führen und wir auch in der Distanz Zeugin oder Zeuge des Sprungs ins Wasser werden können, macht alles viel einfacher.

Aber wie jeder Social-Media-Trend hat auch der eine Halbwertszeit, vor allem, weil es sich letztlich um ein Schneeballsystem handelt: Fordern alle Menschen drei andere heraus, sind sehr schnell alle einmal ins Wasser gesprungen.

 

Facebook und Beziehungen – Zusammenfassung einiger Studien

tumblr_m2d9vnAaUi1qcokc4o1_1280
»Is Facebook part of the separating or part of the congregating; is it a huddling together for warmth or a shuffling away in pain?« – Zitat aus der Cover-Story von The Atlantic, May 2012 (Stephen Marche)

In letzter Zeit habe ich einige Studien zu Facebook und Beziehungen gelesen und möchte einige hier zusammenfassen. Bei Interesse kann ich Privatkopien der Volltexte verschicken, die Links führen meist zu Seiten mit Abstracts der Studien.

Facebook ist ein geeignetes Untersuchungsgebiet, weil die Plattform so verbreitet ist, dass allgemeine Untersuchungen möglich sind. Allerdings verwenden alle Studien ähnliche Testpersonen: Studierende in den ersten Semestern, die entweder Credits oder Geld für die Teilnahme an den Studien erhalten. Die quantitativen Daten werden oft mit einfachen Fragebogen ermittelt, woraus ebenso wie aus der eingeschränkten Untersuchungsbasis eine Reihe von methodischen Problemen resultieren können (beim Ausfüllen ist es beispielsweise durchaus denkbar, dass sich die Befragten systematisch täuschen oder anders erscheinen wollen, als sie sich tatsächlich fühlen; Studierende könnten gewisse Reaktionen aufweisen, die für andere Bevölkerungsgruppen nicht nachweisbar wären). Trotz dieser möglichen Einwände sind die Resultate der Studien wertvoll, weil sie differenzierte Fragen beantworten und Erklärungen mit Daten stützen oder widerlegen können.

  1. Facebook-Abhängigkeit führt zu Eifersucht und Unzufriedenheit in Liebesbeziehungen [Elphiston/Noller, 2011].
    Die Studie operiert mit einem Fragebogen, mit dem »Facebook Intrusion« gemessen wird, d.h. wie stark Facebook den Alltag von Menschen beeinflusst. Ist das stark der Fall, so führt das bei australischen Studierenden zu stärkerer Eifersucht und Überwachungsverhalten in Liebesbeziehungen; beides sind wiederum Faktoren, welche die Zufriedenheit mit der Beziehung negativ beeinflussen.
  2. Vielfältige Einflüsse von Facebook auf Liebesbeziehungen [Bowe, 2010]
    Während gemeinsame Rituale oder öffentliche Liebesbekundungen auf Facebook das Vertrauen in eine Beziehung stärken können, ist das Design respektive die Architektur der Seite dafür geeignet, intime Beziehungen durch Eifersucht oder Besitzansprüche zu bedrohen. Die Präsenz von ehemaligen Partnern auf Facebook ist dabei ein gewichtiger Faktor, zeigen qualitative Interviews mit irischen Studierenden.
  3. Wer Facebook intensiv nutzt, schreibt anderen ein glücklicheres Leben zu. [Chou/Edge, 2012]
    Je länger amerikanische Studierende bei Facebook dabei sind oder je mehr Zeit sie auf der Seite verbringen, desto eher denken sie, dass andere Menschen ein glücklicheres Leben führten und das Leben generell ungerecht sei. Dieser Effekt verringert sich, je mehr Facebook-Kontakte auch außerhalb der Seite zum Bekanntenkreis zählen und je mehr Zeit studierende gemeinsam mit ihren Freunden im direkten Kontakt verbringen.
  4. Wer seinen Status updatet, fühlt sich weniger einsam. [Deters/Mehl, 2013]
    Unabhängig davon, ob amerikanische Studierende Feedback auf ihre Status-Updates erhalten, fühlen sie sich alleine durch das Verfassen einer entsprechenden Meldung mehr mit anderen Menschen verbunden und weniger einsam, wenn sie aufgefordert werden, deutlich häufiger Updates vorzunehmen.
    Bildschirmfoto 2014-02-10 um 22.33.30
  5. Passive Freundschaften auf Facebook führen zu Neid [Krasnova, Wenninger et al, 2013]
    Die Studie weist bei deutschen Studierenden nach, dass negative Gefühle bei der Nutzung von Facebook oft mit Neid zusammenhängen. Neid bezieht sich auf der Plattform insbesondere auf Reisemöglichkeiten, die Freizeitgestaltung und die soziale Eingebundenheit, während die Neidtrigger offline stärker auf den Erfolg einer Person bezogen sind. Der auf FB erlebte Neid führt zu einer geringeren Zufriedenheit mit dem eigenen Leben.

Die Facebook-Verweigerung als Inszenierung

zucksoover-500x500

In der NZZ schreibt Alice Kohli einen Nachruf auf ihr Facebook-Alter-Ego. Darin steht unter anderem:

Das Leben auf Facebook war damit genauso kompliziert geworden wie das richtige Leben. Oder noch komplizierter. Würde ich ohne Facebook etwas verpassen? Würde ich tatsächlich wichtige Kontakte verlieren? Kaum.
An einem Sonntagnachmittag im Dezember, nach knapp sechs Jahren, deaktivierte ich meinen Account. «Diese Freunde werden dich vermissen», mahnte Facebook und zeigte mir vier Gesichter, von denen ich ziemlich sicher war, dass sie mich nicht vermissen würden. Ich drückte den Knopf und war draussen. Mein Leben war ein kleines bisschen weniger kompliziert als vorher.

Sie schlägt damit in eine Kerbe, in die schon viele geschlagen haben, z.B. die Autorin Zadie Smith in einem Essay für die New York Review of Books:

Shouldn’t we struggle against Facebook? Everything in it is reduced to the size of its founder. Blue, because it turns out Zuckerberg is red-green color-blind. “Blue is the richest color for me—I can see all of blue.” Poking, because that’s what shy boys do to girls they are scared to talk to. Preoccupied with personal trivia, because Mark Zuckerberg thinks the exchange of personal trivia is what “friendship” is.

Ich bin anderer Meinung und habe dazu einen Kommentar geschrieben. Die dahinter stehenden Gedanken können bei Nathan Jurgenson vertieft werden, der über diesen Social-Media-kritischen Diskurs schreibt, dass es dabei darum gehe, Schwierigkeiten und Unzufriedenheiten im Leben auf einer technischen Ebene als etwas darzustellen, was sich lösen oder heilen lasse: »it is about reframing our anxieties and difficulties as something we can fix«. Das heißt, dass Menschen Beziehungen, Einsamkeit, Vertrauen, Wertschätzung, Selbstvertrauen etc. immer schwer fallen – sie in der Kritik an Technologie der Illusion nachgehen können, es gäbe einfache Rezepte für ein besseres Leben in dieser Hinsicht.

Mein Kommentar zum Artikel kenn gut auf der NZZ-Seite diskutiert werden kann (oder natürlich auch hier):

Mir scheint, diese Beitrag widerspricht sich performativ. Facebook ist die inszenierte Oberfläche – ein Mittel, um als etwas zu erscheinen, was wir gerne wären, nicht sind. Es gibt viele andere: Unsere Kleidung, unsere Autos, unsere Wohnungen. Wie wir reden, was wir arbeiten, was wir unternehmen. Jede Meinung zu Facebook ist genau so eine Inszenierung wie ein Facebook-Profil. Wer sich demonstrativ verweigert unterscheidet sich nicht von denen, die sich demonstrativ mitteilen.
Zu sagen, man könne »Menschen begegnen, ohne sich darum zu kümmern, ob sie auf einer selbstgebauten Skala der digitalen Meta-Ebene vielleicht Sonderlinge wären«, halte ich für eine Illusion. Menschen bauen sich Skalen und sich konstruieren Meta-Ebenen. Ob sie das digital oder analog tun, ist letztlich irrelevant.
Damit will ich nicht sagen, dass das Leben ohne Facebook nicht wunderbar funktionieren würde. Aber Menschen, die darauf verzichten, leben nicht mehr oder echter, als die, die das Tool nutzen. Wir brauchen Kommunikationsmittel, weil wir als Menschen eine symbolische und eine körperliche Seite haben. Zu werten, wie Menschen sich symbolisch inszenieren, halte ich für überheblich und unnötig.

Facebook speichert auch nicht-publizierte Inhalte

Bildschirmfoto 2013-12-15 um 12.55.41

Öffnen wir Facebook, werden wir eingeladen, Inhalte zu teilen. Eine Statusmeldung zu tippen, ein Foto hochzuladen. Oft öffnen wir Facebook, weil wir unserem Netzwerk etwas mitzuteilen haben. Und dann entscheiden wir uns anders, löschen die Nachricht oder teilen das Bild doch nicht.

Wie eine Forschungsarbeit von Sauvik Das und Adam Kramer nahe legt, kann Facebook auch auf diese Inhalte zugreifen, welche User gar nicht publiziert haben. Die beiden Wissenschaftler untersuchen nämlich mit Daten von Facebook, unter welchen Umständen »Self-Censoring«, also Selbstzensur erfolgt. Ihre Ergebnisse:

We studied the last-minute self-censorship habits of 3.9 million English speaking Facebook users, and found that a large majority (71%) self-censored content at least once. Decisions to self-censor appeared to be driven by two principles: […] while posts directed at vague audiences (e.g., status updates) are censored more, so are posts directed at specifically defined targets (e.g., group posts), because it is easier to doubt the relevance of content directed at these focused audiences.

Es gibt einen nachvollziehbaren Grund, weshalb Facebook wissen möchte, wann und wie Nutzerinnen und Nutzer Inhalte nicht publizieren: Diese Inhalte betreffen Bereiche, in denen Facebook kein Vertrauen genießt und die deshalb auch für Werbekunden nicht zugänglich gemacht werden können. Findet Facebook heraus, welche User weshalb Inhalte selbst-zensieren, können Änderungen an der Architektur einen Anreiz schaffen, dass das seltener geschieht.

Die Tatsache, dass Facebook auch nicht-veröffentliche Inhalte speichert und durchsucht, ist beängstigend. In einem Slate-Artikel wird zurecht auf die Parallele zu den elektronischen Überwachungsmöglichkeiten des FBI und der NSA hingewiesen. Problematisch ist insbesondere, dass Facebook erstaunlich genau darüber informiert, wie das Unternehmen an Informationen über Nutzerinnen und Nutzer gelangt – dabei aber die Möglichkeit verschweigt, dass auch nicht-veröffentliche Informationen gespeichert werden:

Deine Informationen umfassen auch diejenigen Daten, die du anderen Personen auf Facebook zugänglich machst, zum Beispiel wenn du eine Statusmeldung postest, ein Foto hochlädst oder die Meldung eines Freundes kommentierst.

Auch wenn ein offizieller Facebook-Sprecher behauptet, Facebook würde unveröffentlichte Statusmeldungen nicht speichern, zeigt das Beispiel zeigt ein weiteres Mal, weshalb wir heute davon ausgehen müssen, dass alles, was wir an einem internetfähigen Gerät tun, erstens Unternehmen und Staaten zugänglich ist, zweitens auf Arten ausgewertet werden wird, die wir uns heute nicht vorstellen können.

Wer Facebook oft nutzt, fühlt sich schlechter

Eine differenzierte Studie von Kross et al. (2013) hat ergeben, dass Menschen durch die Nutzung von Facebook sich generell weniger gut fühlen. Die 82 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie wurden während zwei Wochen fünf Mal täglich per SMS befragt, wie es ihnen gehe. Parallel dazu wurde ihre Aktivität auf Facebook erhoben. Aus der Verbindung der Daten hat sich ergeben, dass das Wohlbefinden nicht zu intensiveren Nutzung von Facebook führe, die Nutzung aber direkt mit schlechterem Wohlbefinden verbunden sei. Dabei wurde Wohlbefinden in zwei Kategorien aufgespalten: einerseits in den aktuellen Gefühlszustand (wie geht es der Person), andererseits mit der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Der Gefühlszustand wurde durch die kurzfristige Nutzung von Facebook innerhalb eines Tages negativ beeinflusst, die Lebenszufriedenheit mittelfristig über die Facebooknutzung während zwei Wochen.

Die Autorinnen und Autoren hielten in der Diskussion ihrer Ergebnisse fest, dass sie auch alternative Erklärungen geprüft hätten:

Erstens führt direkte soziale Interaktion nicht zu einer Verschlechterung des Wohlbefindens, sondern gar zu einer Verbesserung. Daher kann man annehmen, dass Facebook eine einzigartige Interaktion mit einem sozialen Netzwerk ist, aus der eine Reduktion der Zufriedenheit resultiert. Zweitens kann ausgeschlossen werden, dass die Verschlechterung des Wohlbefindens darauf zurückzuführen ist, dass Menschen Facebook immer dann nutzen, wenn es ihnen nicht gut geht. Während weder der aktuelle Gefühlszustand noch die erlebte Besorgnis mit der Facebook-Nutzung korrelierten, führte die gefühlte Einsamkeit zu einem Anstieg der Facebook-Nutzung, der aber wiederum die Gefühlslage stärker verschlechtert als die Einsamkeit alleine. (Kross et al., 2013, S. 4)

Die Studie verweist auf frühere Untersuchungen, die nahe legen, dass weder isolierte Formen von Beschäftigung noch Internetaktivitäten alleine negative emotionale Auswirkungen haben – das soziale Netzwerk hat hier also offenbar eine wirklich herausragende negative Eigenschaft: Je mehr wir Facebook brauchen, desto schlechter geht es uns.

Die Resultate der Studie müssen aber vorsichtig betrachtet werden. Es ist äußerst schwierig, in diesem Bereich von Kausalität zu sprechen, zumal die Facebook-Nutzung erfragt wurde und nicht objektiv registriert wurde. Negative Gefühle beeinflussen unsere Wahrnehmung und trüben damit unsere Einschätzung der Nutzungsdauer, was die ganze Studie verzerrt haben könnte. Es ist – so zeigt dieses Beispiel – äußerst schwierig, Versuchsanlagen zu finden, die zu verlässlichen Aussagen über die emotionalen Auswirkungen von sozialen Netzwerken führen.

(Ich danke Nico Scheidegger für die Hinweise (FB), die zu einer Überarbeitung des Beitrags geführt haben.) 

Mass Distraction

Auch der digitale Mensch ist ein Mensch

Zeynep Tufecki ist eine Forscherin, deren Arbeiten verdeutlichen, welche Funktion Social Media für das Leben der Menschen heute haben. Ihren Aufsatz  »We Were Always Human« habe ich heute mit großem Interesse gelesen und möchte die wichtigsten Argumentationslinien hier nachzeichnen.

Tufecki geht von einer dualistischen Definition des Menschen aus: Er verbindet eine körperliche Präsenz mit einer symbolischen. In der Stimme sind sie verbunden, in der Schrift – so zeigt ein Verweis auf eine berühmte Platon-Stelle – nicht. Die Schrift lässt sich vom Körper trennen und erzeugt so eine körperlose Symbolik:

Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht passt, und sie selber weiß nicht, zu wem sie reden soll, zu wem nicht. (Platon,  Phaidros 275D)

Technologie, so führt Tufecki ihre Argumentation weiter, ändere an der Dualität des Menschen nichts: Weder die Bibliothek von Alexandria noch die Erfindung der Schreibmaschine, des Telegrafen oder des Internets. Aber Menschen würden daran arbeiten, die Sphäre des Symbolischen zu erweitern und zu externalisieren.

Das kann in der frühen Phase des Internets beobachtet werden, in der vornehmlich wohlhabende, aufgeschlossene, junge, weiße Männer digitale Kommunikation verwendet haben, um damit multiple und fragmentarische Persönlichkeiten zu entwerfen, die sich oft rein symbolisch manifestierten und keine körperlichen Konsequenzen hatten.

Heute, in Zeiten von Social Media, nähere sich die digitale Bevölkerung der realen an – und sei damit viel stärker an Körper gebunden, der letztlich alle Rollen, die Menschen online einnehmen könnten, verbinde. Dadurch wird deutlich, dass frühe theoretische Arbeiten zum Internet einen Digitalen Dualismus vertreten haben, der nicht haltbar ist: Der symbolische Bereich des Menschen kann nicht als »Cyberspace« oder »virtuelle Welt« von der körperlichen, realen Welt gelöst werden, weil sonst auch alle Bücher, Höhlenmalereien oder Telefongespräche eine »virtuelle Welt« bilden würden.

Samuel Schimek: Facebook This. Social Media Photobooth.
Samuel Schimek: Facebook This. Social Media Photobooth.

Tufecki hat die Nutzung von Facebook früh intensiv untersucht. Wie Daniel Miller spricht sie davon, es gäbe nicht ein Facebook, sondern für jede Kultur eines. Sie macht nun in ihrem Aufsatz mehrere aufschlussreiche Feststellungen:

  1. Unabhängig von ihren Einstellungen passen sich Menschen – z.B. in Bezug auf Privatsphäre – an die in ihrer Community herrschenden Normen in einem sozialen Netzwerk an.
  2. Deshalb agieren viele dort mit ihrem realen Namen, obwohl sie Bedenken in Bezug auf ihre Privatsphäre haben.
  3. Auf Facebook sind viele Nutzerinnen und Nutzer »Grassroot Surveillance« ausgesetzt, also einer niederschwelligen Überwachung durch ihre Mitmenschen, die es ihnen erschwert, verschiedene Rollen anzunehmen, ohne – im Fall von Jugendlichen – von ihren Eltern, ihren Lehrpersonen oder ihren Freunden dabei indirekt beobachtet zu werden.
  4. Dadurch werden sich neue Normen und Umgangsformen ergeben, die aber noch nicht genügend entwickelt sind, so dass gerade Facebook zur Zeit von Tufeckis Untersuchung zu vielen Konflikten unter Jugendlichen geführt hat.

Tufeckis Untersuchungen konnten aufzeigen, dass es ein Spektrum in Bezug auf die Aufgeschlossenheit gegenüber digitaler Kommunikation gibt. Sie verwendet die Begriffe »cyberasozial« und »cyberhypersozial« für Menschen, die nicht willens oder fähig sind, digitale Beziehungen zu pflegen respektive in hohem Masse willens und fähig dazu sind.

Dieser Charakterzug ist unabhängig von technischer Kompetenz einerseits, von der Intensität und Quantität von offline Beziehungen andererseits: Das Vorurteil, nur sozial nicht eingebundene Menschen würden digitale Beziehungen pflegen, lässt sich durch Tufeckis Untersuchungen widerlegen.

Ihr Fazit:

The size of our capacity and ability for affection and bonding remains grounded in our humanness. And that perhaps is the most impor- tant conclusion. “Faster, higher, and stronger” through technology may be tempting, but we are, as we have always been, human and our limits transcend technology. We are, as we always were, human, all too human.

 

Schulgerüchte auf Social Media

Wie jede Organisation gibt es an Schulen dunkle Kommunikation: Bösartiges, Unsicheres, Nebensächliches beschäftigt Lernende wie Lehrende in den Pausen und auf dem Schulweg. Das Schulgeschehen wird zum Gegenstand der Unterhaltung und so emotional verarbeitet.

An der Kantonsschule in Zug ist daraus ein innovatives Projekt entstanden: Die KSZ Confessions (Facebook-Link). Auf der Seite werden »Geständnisse« von Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen (?) anonym publiziert.

Bildschirmfoto 2013-06-04 um 10.26.00

Die dunkle Kommunikation rückt ins Licht, aber ohne Schaden zu verursachen. Die Geständnisse wirken aus der Distanz entweder harmlos oder so gehaltvoll, dass sie echte Reflexionen auslösen können, wie folgende Beispiele zeigen:

Ich war unglaublich süchtig nach dem Schlumpf-Spiel. Darin hatte ich einmal Melonen gepflanzt und diese mussten 36h wachsen. Als sie reif waren, war ich im GS-Unterricht. Ich begab mich auf das Klo und erntete die Melonen.

Wenn ich die Kantonsschule Zug mit einem Wort beschreiben müsste, wäre dies «ineffizient«!

Praktisch alle Frauen unserer Klasse wurden, ohne einen triftigen Grund zu haben, aufgefordert, bei der Schulpsychologin vorbeizugehen.

Die Distanz durch die Zeit und die Anonymität des sozialen Netzwerks erlauben über wichtige Erfahrungen so zu sprechen, dass sie verarbeitet, aber auch von anderen genutzt werden können.

Das Projekt scheint mir sehr innovativ zu sein. Es nutzt die technischen Möglichkeiten, schafft Identifikation und löst Prozesse aus, die einer Verbesserung des Klimas und des Unterrichts dienlich sein können. Und es ist enorm mutig, diesen Aussagen einen halb-offiziellen Platz einzuräumen (die Schulleitung fordert, dass heikle Inhalte gelöscht werden – danke Paul Zübli für den Hinweis in den Kommentaren!).

Freundschaft in Zeiten von Social Media

Der folgende Essay sprengt den Rahmen eines Blogposts. Wer ihn ausdrucken möchte, kann das mit einer gut lesbaren pdf-Version tun. Wie immer bin ich an weiter führenden Inputs und Kritik sehr interessiert. 

Ich habe den Text zwei Überarbeitungen und Erweiterungen unterzogen (Version 1, Version 2). Neu sind die Abschnitte zu Jane Austen, zur parasozialen Interaktion und zur Körperlichkeit hinzugekommen, andere wurden erweitert. Ich danke für die vielen Rückmeldungen, besonders Sarah Genner, Peter Gassner, Jan Zuppinger, Britta Holden, Romana Ganzoni, Martin Lindner, Michèle Meyer, Dominik Achermann und Marianne Schäfer.) 

Ich suche Zeichen, aber wofür? Was ist das Objekt meiner Lektüre? Ist es jenes: werde ich geliebt (nicht mehr geliebt, noch immer geliebt)? Ist es meine Zukunft, die ich zu lesen versuche? […] Ist es letztlich nicht eher so, dass ich von jener Frage abhängig bliebe, auf die ich vom Gesicht des Anderen unermüdlich die Antwort fordere: was bin ich wert? – Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Die Unsicherheit der Zeichen

Bildschirmfoto 2013-05-25 um 15.51.31

Eine der ersten Lektionen, die wir beim Nachdenken über Social Media lernen, besteht in der Erkenntnis, dass Facebook-Freunde keine echten Freunde sind. Wirklich überraschen wird uns diese Einsicht  nicht; sie stellt aber für viele Menschen den Abschluss ihrer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Social Media, Beziehungen und Freundschaften dar. In den folgenden Abschnitten möchte ich dieses Verhältnis von verschiedenen Seiten her diskutieren und einige Thesen dazu präsentieren, welche das Vorurteil hinterfragen, das besagt, digital gepflegte Beziehungen seien oberflächlicher oder weniger real als andere.

Ein guter Freund ist das Beste auf der Welt. Aber 500 Freunde? Unter der Herrschaft von Facebook wächst die Zahl der Freunde wie Entengrütze im Gartenteich. Es gibt aber noch jemanden, der sich dem Netzwerk entzieht: den Mof – den Menschen ohne Freunde. In einer Zeit, in der es mehr Blogger als Bäcker gibt, ist der Mof wie ein blasser, mickriger Erpel, der sich vor lauter Entengrütze nicht ins Wasser traut und das Schwimmen verlernt. Mofs werden verlacht. Aber was ist das zwanghafte Horten von Freunden anderes als ein neues Messie-Syndrom? Wer irgendwann im Meer seiner Freunde zu ertrinken droht, der brauchte wie Schneider Böck das rettende Federvieh. Nur hat sich unser Erpel namens Mof längst in die Blumenrabatte zurückgezogen, schnabuliert ekstatisch Schnecken und wird darüber fett und flugunfähig. – Heike Kunert, Die Zeit 23, 2013

Ob wir in den sozialen Netzwerken tatsächlich nicht nur das Schwimmen im Ententeich verlernen, sondern auch noch gleich flugunfähig werden, ist zumindest auf den ersten Blick nicht klar. Menschen trinken immer noch Rotwein zusammen, erzählen sich Geheimnisse und bringen sich gegenseitig Suppe, wenn jemand krank ist.

Freundschaft – Versuch einer Definition

Ich glaube, Freundschaft kann sich bloß praktisch erzeugen, praktisch Dauer gewinnen. Neigung, ja sogar Liebe hilft alles nichts zur Freundschaft, die wahre, die tätige, produktive besteht darin, daß wir gleichen Schritt im Leben halten, daß er meine Zwecke billigt, ich die seinigen, und daß wir so unverrückt zusammen fortgehen. – Goethe, Maximen und Reflexionen, Vierte Abteilung

Goethes pragmatische Ansicht kann als Ausgangspunkt für eine Präzisierung der Beziehung dienen, die hier als Freundschaft bezeichnet wird: Gemeint ist eine Beziehung, die eine Geschichte hat und sich über gemeinsame Erfahrungen definiert. Dabei werden Spielregeln in Bezug auf gegenseitige Erwartungen festgelegt, die normalerweise eingehalten werden. Die Spielregeln ergeben sich dabei im Spiel selber – Bedingung für eine Freundschaft ist also der Austausch und das Vertrauen darauf, dass der oder die andere die eigenen Erwartungen respektiert.

Erfahrungen und Austausch sind Bedingung für eine Freundschaft. Sie sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln und ergeben sich durch sprachliche Vermittlungs- und Deutungsverfahren.

Entscheidend ist dabei auch die Bedeutung von Wiederholungen und Ritualen, durch die sich auch Anteilnahme manifestieren kann: Immer wieder gemeinsam dasselbe tun, sich ähnliche Geschichten anhören, die Erlebnisse im Beruf und in der Familie austauschen, loswerden, abhören; gemeinsame Interessen pflegen, Hobbies aufbauen, sprachliche Marotten entwickeln etc.

Und doch ist Freundschaft nicht vorhersehbar, obwohl sich die freundschaftliche Beziehung oft anfühlt, als wäre darin vieles vorbestimmt: Mit wem ich in eine freundschaftliche Beziehung trete, ist in hohem Maße zufällig, genauer: kontingent. Wir treffen viele Menschen, die wir noch nicht kennen, lernen einige davon kennen und mit wenigen schließen wir Freundschaft.

Originaltweet
Originaltweet


Die Funktion von Social Media in Freundschaften

With instant messaging, ‘Whassup?’ is all you need to say. Texting is for ‘Where are you, where am I, let’s do this, let’s do that.’ Among friends, however, texting can be just as random as IM. Among close friends, you can text to just say ‘Whassup?’ – Reynold, 16, zitiert in: Sherry Turkle, Alone Together (2012)

Zunächst sind Social Media einfach eine weitere Form von menschlicher Kommunikation. Menschen reden miteinander oft über belanglose Dinge, weil sie so zeigen können, dass sie soziale Wesen sind. Ob sie das nun auf dem wöchentlichen Gemüsemarkt, in der Umkleide des Fitnessstudios oder auf Twitter tun, scheint nicht relevant zu sein und verändert die Struktur ihrer Beziehungen nicht. Viele Beziehungen benötigen Small Talk um gegenseitige Erwartungen zu erfüllen (z.B. um am Schluss eines Gesprächs nicht den Eindruck zu erwecken, jemand würde zurückgewiesen). Small Talk hilft auch dabei, sich kennen und vertrauen zu lernen. Social Media sind voll mit Small Talk.

Social Media bedeuten für unsere Kommunikation darüber hinaus größere Effizienz und höhere Geschwindigkeit. So verändern sie den Aufbau und die Pflege von Freundschaften, wie die im Folgenden diskutierten Aspekte ausführlich zeigen. Mobiler Zugriff auf Netzwerke macht es Freundinnen und Freunden möglich, sich unabhängig von Ort und Zeit besprechen zu können, ohne dass es dafür einen bestimmten Anlass oder einen größeren Energieaufwand bräuchte. Kommt hinzu, dass der soziale Aspekt ja auch beinhaltet, dass Mitteilungen öffentlich gemacht werden können, d.h. ein ganzes Netzwerk oder eine ganze Gruppe erreichen können. Wer ständig mit all seinen Bekannten kommunizieren kann, braucht Selektionskriterien und -techniken. Und hier liegt wohl eine der wesentlichen Veränderungen.


Push oder pull?

Whitney Erin Boesel beschreibt in einem lesenswerten Essay ein Phänomen, das sie »Devolution« der Freundschaft nennt. Devolution bezeichnet für sie zunächst die Übergabe von Arbeitsschritten an die Empfänger einer Dienstleistung: Vom Einchecken am Flughafen über die Wundpflege bis zum Kassiervorgang im Supermarkt werden immer mehr Arbeitsschritte verschoben. Dasselbe passiere bei Freundschaften. Ein wesentlicher Aspekt freundschaftlicher Kommunikation besteht darin, einander zu erzählen, was man ohne den Freund/die Freundin erlebt hat: Lärmige Nachbarn, Streit mit anderem Freund, Beförderung bei der Arbeit, Städtetrip nach Paris, neues Hobby: Schrebergarten, tolles Rezept ausprobiert. Solche Inhalte kommunizieren nun aber viele Menschen auf sozialen Netzwerken: Die lärmigen Nachbarn erhalten einen Witz auf Twitter, der Streit mit dem Freund wird in einer kryptischen Facebook-Nachricht angedeutet, die Beförderung überall freudig verkündet und mit Likes bedacht, der Städtetrip nach Paris, der Schrebergarten und die Kochkünste fotografiert und gepostet.

War es vor Social Media die Entscheidung der Produzierenden von Information, welche Inhalte sie wem wie mitteilen wollten (»push«), so verlagert sie sich zunehmend zu den Konsumierenden (»pull«): Wo soll ich bei meinen Freunden mitlesen? Diese Entscheidung wird auch deshalb schwieriger, weil wir auch viele Dinge automatisch kommunizieren: Unser Spotify-Account teilt anderen mit, welche Musik wir hören, unser Online-Game-Account verkündet High-Scores und unsere Kindle-App versendet die liebsten Zitate – alles ohne bewusste Entscheidung.

Dadurch verändern sich Erwartungen: Als guter Freund lese ich bei meinen Freundinnen und Freunden aufmerksam mit und weiß vieles schon, wenn ich ihnen begegne; sie hingegen langweilen mich nicht durch eine Repetition dessen, was sie mir schon per Social Media mitgeteilt haben könnten. Ist aber nun die Weigerung, bestimmte Netzwerke zu benutzen, dasselbe wie Freundinnen und Freunden nicht zuhören? Haben Mitteilungen, die an ein größeres Publikum gerichtet sind, denselben Stellenwert wie persönliche? Und warum nicht?


FOBM & FOMO

Durch die schiere Menge an Inhalten in sozialen Netzwerken entstehen zwei Ängste: Die »Fear of being missed« (FOBM) entsteht, wenn ich in meinen Netzwerken zu wenig interessante Inhalte einstellen kann und mich meine Freundinnen und Freunde nicht mehr genügend wahrnehmen, weil ich gerade keine Radieschen geerntet, keinen Coq-Au-Vin gekocht und keinen Essay publiziert habe. Die »Fear of missing out« (FOMO) hingegen ist das umgekehrte Problem: Ich kann die Produkte meiner Freundinnen und Freunde nicht mehr ausreichend rezipieren und verliere auf einem oder mehreren Netzwerken den Anschluss.

We come to experience the column of unopened messages in our inboxes as a burden. Then, we project our feelings and worry that our messages are a burden to others. – Sherry Turkle, Alone Together

Die so sauber bezeichneten Ängste sind nichts Neues. Wir möchten uns alle gerne als attraktive Personen präsentieren und befürchten, die Beziehung zu wichtigen Freundinnen und Freunden zu gefährden, wenn wir nicht aufmerksam genug sind. Aber die sozialen Netzwerke schaffen durch ihre Effizienz mehr Möglichkeiten: Für Präsenz, aber auch für Konsum. Das wöchentliche Telefongespräch, der jährliche Ausflug und das Geschenk zum Geburtstag reicht nicht mehr: In real-time müssen Time-Lines gecheckt, Kommentare hinterlassen, Likes gedrückt und Inhalte weiterverbreitet werden. Freundschaften werden atemloser. Zur Angst, etwas zu verpassen und vermisst zu werden, kommt die Angst, zu langsam und zu wenig kompetent zu sein.


Die Dunbar-Zahl und Weak Ties

Grundsätzlich entsteht hier lediglich eine Sichtbarmachung und Quantifizierung eines Problems, das bei unseren Beziehungen schon immer besteht. Wir können nicht allen Menschen, die wir kennen, zum Geburtstag eine Karte oder ein Geschenk schicken, wir können uns nicht bei allen daran erinnern, ob sie ihren Kaffee schwarz oder mit Milch oder als Tee mögen, und wir vergessen manchmal nicht nur die Namen, Gesichter oder Geschichten von Menschen, sondern sie selbst. Das  nehmen wir aber selten so deutlich wahr, weil wir meistens von den Menschen, die wir nicht beschenken, auch nicht zur Geburtstagsfeier eingeladen werden.

Auf Social Media sind wir aber auf jedem Geburtstag dabei. Unsere Netzwerke sind größer als die Zahl der Beziehungen, die wir pflegen können. Robin Dunbar nimmt an, wir könnten kognitiv maximal 150 Beziehungen pflegen. Es wird einige Anpassungen erfordern bis wir verstehen, dass wir in sozialen Netzwerken viele  so genannte »Weak Ties«, schwache Verbindungen, pflegen. Diese haben eine wichtige Funktion. Wenn unsere Wohnung überschwemmt wird und wir für einige Wochen bei jemandem unterkommen müssen, sind das immer Menschen, zu denen uns »Strong Ties« verbinden. Wollen wir aber einen Restaurant-Tipp für unsere nächste Städtereise erhalten, ein Smartphone verkaufen oder fachsimpeln, helfen uns »Weak Ties« weiter. Menschen mit vielen Strong Ties fühlen sich in der Tendenz glücklicher, die mit vielen Weak Ties sind erfolgreicher.

Gute Netzwerke, so behauptet Howard Rheingold, umfassen starke und schwache Verbindungen. Viele Social-Media-Beziehungen sind schwach – d.h. aber nicht, dass sie wertlos sind oder nicht in zu starken werden können. Wer regelmäßig Restaurant-Tipps austauscht, geht vielleicht einmal zusammen essen und wer oft über Motorräder fachsimpelt, trifft sich bald einmal auf einer Messe. Zentral ist, dass wir von den Weak Ties Neues erfahren und uns auf die Strong Ties verlassen können.


Parasoziale Interaktion

Die Medienpsychologie beschreibt mit dem Begriff der parasozialen Interaktion die Möglichkeit, mit einer Person eine Beziehung aufzubauen, die nur medial vermittelt existiert. Genauer:

Parasoziale Interaktion beschreibt etwas, das auf den ersten Blick wie eine soziale Interaktion aussieht: zwei Personen handeln in wechselseitigem Bezug aufeinander. Parasozial ist sie deshalb, weil dieses Handeln einseitig stattfindet. Auf der einen Seite steht eine reale Person, die das Gefühl hat, mit einer zweiten, fiktiven Person – z.B. einem Charakter in einer Fernsehserie oder dem Medienbild einer »celebrity« – sozial zu interagieren. Sie verfolgt das Leben der fiktiven Person, fiebert mit, lernt ihn oder sie kennen, kurz, die reale baut über die Zeit eine emotionale Bindung zur fiktiven Person auf. Die Bindung bleibt allerdings notgedrungen einseitig; der Fernsehbildschirm wirkt als Einwegspiegel im sozialen Handeln. – Till Westermayer, Carta

Parasoziale Interaktion ist als Phänomen nicht mit dem Aufkommen sozialer Netzwerke verbunden: Auch Gebete können als parasoziale Interaktion verstanden werden.

Neuartig sind Vermischungsprozesse, die passieren: Social Media verbinden bekannte und unbekannte Personen ein- oder mehrdirektional. So können auch unter Bekannten parasoziale Interaktionen stattfinden (weil z.B. jemand nicht reagiert) – und parasoziale Interaktionen mit Celebrities oder gar fiktionalen Figuren können auf Facebook oder Twitter Antworten auslösen. In Neuen Medien, so Westermayer, entsteht »ein Kontinuum von Beziehungen und Interaktionsformen, die von enger sozialer Beziehung/Interaktion über lose soziale Beziehungen bis hin zu gelegentlichen Interaktionen und echter parasozialer Interaktion/Beziehung reichen.«

Das erklärt nun, wenn es so stimmt, zwei Dinge: Den harten Realitätscheck, wenn das Medium gewechselt wird – die leichte, schwellenlose Gruppenzugehörigkeit im Netz läuft bei der Begegnung im realen Raum Gefahr, zu zerschellen; begleitet von dem Gefühl, aus dem Netz sozialer Beziehungen zu fallen.

Und, zweitens, im Umkehrschluss: Ist es nur auf Twitter so, oder sind nicht – und das geht über strong and weak ties hinaus – soziale Beziehungen auch außerhalb sozialer Medien weniger fest und klar definiert, als es vielleicht gemeinhin den Anschein haben mag? Wer sind unsere parasozialen Interaktionspartner im realen Raum – und wer, glauben wir, steht zu uns in einer sozialen Beziehung, sieht das aber nicht so?

Soziale Netzwerke zeigen die Asymmetrie sozialer Interaktion und Freundschaft auf: Wer schon einmal Soziogramme von Schulklassen erstellt hat, weiß, dass längst nicht alle, die wir als Freunde wahrnehmen, uns auch als Freunde einschätzen.

Und dieser Gedankengang zeigt auch auf, dass Freundschaft auf ein Medium beschränkt sein kann. Gewisse Aspekte, die für eine Identität wichtig sein können, sind unter Umständen an ihre mediale Repräsentation gebunden: Der Twitter-Kanal einer Person, ihre Instagram-Bilder oder ihre Snapchats lösen möglicherweise eine große Faszination und Sympathie aus, zu der es keine Entsprechung außerhalb dieser Medien gibt. Und umgekehrt: Die Stimmlage einer Person, ihre Gesten, ihr Blick lassen sich nicht auf Facebook abbilden.

Will McAvoy ist der Protagonist der Fernsehserie »Newsroom«.
Will McAvoy ist der Protagonist der Fernsehserie »Newsroom«.


Kontrollverlust – Filter, Selektion und Archiv

Ein problematischerer Aspekt ist aber die Uneinheitlichkeit der Netzwerke: Als User von Social Media ist nicht ersichtlich, was andere User sehen. Mein Nachrichtenstrom wird durch eine Reihe von Filtern geformt – zeitliche, algorithmische sowie persönlich eingestellte. Ich kann einige meiner Kontakte stumm schalten, von anderen nur wenige Beiträge lesen. Algorithmen berechnen zudem, was für mich wichtig sein könnte und blenden Unwichtiges automatisch aus.

Wer Informationen verbreitet, kann nicht wissen, ob und wie sie ankommen – weil die Empfangenden weit gehende Filtersouveränität genießen. Und die Empfangenden müssen selbst bestimmte und automatisierte Selektionsmechanismen einsetzen, die ihnen gewisse Inhalte ausblenden – ohne zu wissen, wie wichtig sie für den Aufbau und die Pflege einer Beziehung sind. Eines der stärksten Argumente von Sherry Turkle besagt, dass tragfähige Beziehungen auch Kritik und Langweile aushalten müssenKurz: Der Freund kennt den Informationsstand der Freundin nicht – und umgekehrt.

Andererseits haben sie Zugriff auf ein Archiv vergangener Äußerungen. Freundschaft ergibt sich auch durch gemeinsame Erinnerungen, die wiederholt und gefestigt werden. Die Möglichkeit, jederzeit nach Fotos oder Meldungen im Archiv zu suchen, verändert die Bildung von gemeinsamen Erinnerungen und schafft neue Bedingungen für Freundschaften. Beziehungen ergeben sich aus Erlebnissen in Momenten, die sich verändern, wenn sie in Archive abgefüllt werden und sich unverändert jederzeit abrufen lassen.


Positivgesellschaft

Das allgemeine Verdikt der Positivgesellschaft heisst ‘Gefällt mir’. Es ist bezeichnend, dass Facebook sich konsequent weigerte, einen Dislike-Button einzuführen. Die Positivgesellschaft meidet jede Spielart der Negativität, denn diese bringt die Kommunikation ins Stocken. […] Auf ‘Like’ folgt schneller Anschlusskommunikation als auf ‘Dislike’. Die Negativität der Ablehnung lässt sich vor allem ökonomisch nicht verwerten. – Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft

Die Reaktionen, mit denen Archiveinträgen begegnet werden können, sind recht uniform. Der oben zitierte Byung-Chul Han leitet das Erfordernis, positiv sein zu müssen, weil sich in sozialen Netzwerken positive Botschaften darstellen und verbreiten lassen, aus dem Bedürfnis nach Transparenz ab. Negative Gefühle und der Umgang mit Schmerz und Leiden erhalten in der transparenten Gesellschaft keinen Raum; generell verunmöglicht Transparenz Bereiche, in denen Menschen nicht den Blicken von anderen ausgesetzt sind. Beziehungen werden gewissermassen totalitär, sie vereinnahmen Menschen und zwingen sie zur Positivität, ohne Ungedachtem, Undenkbarem, Unbewusste, und Undarstellbarem Raum zu geben. Dadurch entfällt aber die Basis von Vertrauen, weil Kontrolle allgegenwärtig ist und Geheimnisse verunmöglicht.

Freundschaft wird zu einem Teil der eigenen Leistung; meine Freunde und mein Netzwerk dienen der Ausstellung des eigenen Wertes, der nun scheinbar transparent berechnet und dargestellt werden kann, wie das Systeme wie Klout vorgeben.


Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung

Der Mensch ist sich nicht einmal selbst transparent – wie sollte er dieser Forderung andern gegenüber genügen sollen? Freundschaften haben auch die Funktion, Selbst- und Fremdwahrnehmung zu vermitteln. Die Regeln des sozialen Miteinanders verhindern oft, dass wir ehrliche Rückmeldungen über unsere Wirkung auf andere mit unserem subjektiven Erleben koppeln können.

Charles Cooley

Social Media scheinen diese Vermittlung obsolet zu machen, weil sie vorgeben, dass Teilnehmende ihre Auftritte kontrollieren können und so wahrgenommen werden, wie sie wahrgenommen werden wollen. Viele Menschen formulieren als Ideal einer romantischen Beziehung, sich so zeigen zu können, wie sie wirklich sind. Dabei machen sie aber gleichzeitig deutlich, dass sie sich in verschiedenen Beziehungen verschieden präsentieren. Freundschaft wird wesentlich dadurch bestimmt, wie sich Menschen Freundinnen und Freunden gegenüber präsentieren und wie sie von ihnen wahrgenommen werden. Werden Social Media zum Medium der Freundschaft, so zeigt man sich mit dem Profil gleichzeitig auch einer Öffentlichkeit. Diese Profile sind aber oft bewusst gestaltet und entsprechen einer Identität, die mehr angenommen werden als vorgegeben sind. Social Media zeigen, dass wir nie so sind, wie wir wirklich sind, weil wir nur sind, wenn wir von anderen wahrgenommen werden und uns eine Identität zugeschrieben wird, die sich an unserem eigenen Verständnis reiben kann.

In einem Brief an Herder formuliert Goethe ein Ideal der Freundschaft, das der Konzeption sozialer Netzwerke radikal entgegen steht:

Wenn wir immer vorsichtig genug wären und uns mit Freunden nur von Einer Seite verbänden, von der sie wirklich mit uns harmonieren, und ihr übriges Wesen weiter nicht in Anspruch nähmen, so würden die Freundschaften weit dauerhafter und ununterbrochner sein. Gewöhnlich aber ist es ein Jugendfehler, den wir selbst im Alter nicht ablegen, daß wir verlangen, der Freund solle gleichsam ein anderes Ich sein, solle mit uns nur ein Ganzes ausmachen, worüber wir uns denn eine Zeit lang täuschen, das aber nicht lange dauern kann. – Goethe, Brief an Herder Dezember 1798

Je stärker unsere Selbstdarstellung auf Social Media erfolgt, desto weniger ist es möglich, Freundschaften auf einzelne Aspekte zu beschränken und den Anspruch auf eine totale Verbindung zurückzuweisen.

Das persönliche Gespräch erlaubt uns deutlicher, Erwartungen zu korrigieren, statt ihnen immer wieder entsprechen zu müssen – Korrekturen an der eigenen Darstellung und der fremden Wahrnehmung vorzunehmen. Und doch braucht es die anderen: »A person is a person through other people«, der Inhalt des Begriffs ubuntu in Südafrika, gilt on- wie offline.


Social Media als Brief oder Telefon

Kürzlich wurde ich gefragt, wie das denn sei, wenn man jemanden wirklich kennen lerne, den oder die man bisher nur über Social Media kannte. Ich war verwirrt. Einerseits kenne ich ja diese Menschen bereits »wirklich«, weil wir Gespräche geführt und gemeinsame Erfahrungen gemacht haben. Andererseits treffen wir ja oft Menschen, von denen wir schon etwas wissen.

In solchen Momenten bin ich versucht, Social Media mit Briefen oder Telefongesprächen zu vergleichen – heute würde niemand den Wert einer Brieffreundschaft oder die Bedeutung von Telefongesprächen in Zweifel ziehen. Und doch haben auch diese Medien Beziehungen beeinflusst und verändert – nicht notwendigerweise negativ, aber auch nicht notwendigerweise positiv, wie ein Abschnitt aus Walter Benjamins Berliner Kindheit von Neunzehnhundert zeigt:

Wenn ich dann, meiner Sinne kaum mehr mächtig, nach langem Tasten durch den finstern Schlauch, anlangte, um den Aufruhr abzustellen, die beiden Hörer, welche das Gewicht von Hanteln hatten, abriß und den Kopf dazwischen preßte, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Nichts war, was die unheimliche Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt ich, wie sie die Besinnung auf Zeit und Pflicht und Vorsatz mir entwand, die eigene Überlegung nichtig machte, und wie das Medium der Stimme, die von drüben seiner sich bemächtigt, folgt, ergab ich mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telephon an mich erging. – Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert

Roland Barthes hat in Bezug auf Freud festgehalten, das Telefon sei der Versuch, »die Trennung zu leugnen«:

Und dann ist der Andre dabei immer im Aufbruch begriffen; er entfernt sich auf doppelte Weise: durch sein Schweigen und durch seine Stimme: an wem ist es, zu sprechen? Wir schweigen gemeinsam: Stauung zweier Leeren. Ich werde dich verlassen, sagt jeden Augenblick die Stimme des Telephons. – Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Fading

Klarer könnte der Bezug zu sozialen Netzwerken nicht hergestellt werden: Auch hier der ständige Aufbruch oder Abbruch, die Nähe, die für Distanz steht. Die Stimme der Social Media sagt nicht »ich werde dich verlassen«, sondern »ich habe dich schon verlassen«. Und doch spricht sie mit uns.

Beziehungen brauchen Medien der Freundschaft und sie verändern sich durch Veränderungen dieser Medien. Intimität, Vertrauen, Erfahrung, Erinnerung und Liebe finden so neue Formen und Ausdrucksweisen – und mit ihnen ändert sich die Sprache, mit der sie ausgedrückt werden. Und mit der Sprache ändern sich die Menschen, aber nicht vollständig. Menschen leben in Freundschaften, berühren andere Menschen, sehen sie und werden gesehen – unabhängig davon, ob sie telefonieren oder chatten. Aber sie verschränken Nähe und Distanz, Annäherung und Entfernung, Bekanntheit und Entfremdung.


Der Körper des Freundes – die Stimme der Freundin

Durch das Telefon dringt die Stimme der Freundin. Gelöst von ihrem Blick, ihrem Gesicht, ihrem Geruch, und ihren Bewegungen. Die Social Media isolieren anderes: Den schriftlichen Ausdruck. Bilder, (Selbst-)portraits. Etwas Kunst. Davon ist aber nichts unvermittelt: Die Gedanken sind in Worte gefasst, die den Erfordernissen des Netzwerkes genügen, die Bilder zeigen selektive Ausschnitte von Körpern, die Kunst passt sich den Bedingungen an, die ihre Verbreitung ermöglichen. Vor die Freundschaft tritt in sozialen Netzwerken die Selbstzensur: Die Erwartungen der anderen sind präsent.

Selfie.
Selfie.

So scheint es konstant Überfluss und Mangel zu geben: Viele Gedanken, aber keine Blicke, keine Mimik, keine Denkbewegung. Keinen Körper, aber viele Bilder von Körpern.

Wer bin ich im realen Blick, im Augenblick (!) des Du? Kann ich den anderen riechen? Hat er/sie einen nervösen Tick, widerspenstiges Haar, Charme? Sinnlichkeiten und ihre Bedeutung. Eros. – Romana Ganzoni, Facebook-Kommentar

Social Media liefern Fragmente und Abbilder. Die Berührung, der Blick, die Stimme – sie fehlen alle. Die Begegnung der Social-Media-Freunde ist eine Verbindung der Fragmente, eine Ent-täuschung: Es gibt zwar gemeinsame Erinnerungen, eine Menge an Interaktionen, eine Vertrautheit, vielleicht auch Vertrauen. Aber Vertrauen bringen wir Personen entgegen, nicht einzelnen Nachrichten. Erst die Begegnung zeigt, ob wir der anderen Person wirklich vertrauen, erst die Augen, der Händedruck, der Kuss des anderen schaffen eine Person, der wir die Bilder, die Texte und Videos zuordnen können.

Max Küng beschreibt eine Freundschaft, wie sie sich knapp vor dem Aufkommen sozialer Netzwerke virtuell anbahnte. Der Höhepunkt seines Textes ist eine Begegnung in Berlin, bei der wir den Übergang, die Verbindung und die Ent-täuschung beobachten können:

So ging es zwei Jahre. Briefe. Pakete. SMS. Dann hatte der Mann in Berlin zu tun. Er nahm ein Hotelzimmer am Alexanderplatz, mit Blick auf den Fernsehturm. Er schickte ihr eine SMS, nur mit der Zimmernummer: »2310«. Eine halbe Stunde später klopfte es an der Tür. Er öffnete. Da stand sie. Was sollten sie tun? Sie schwiegen, hielten sich an den Händen, mehr nicht. Er roch ihr Parfum. Er hörte ihren Atem. Sie waren wie gelähmt. Irgendwann sagte er: »Bitte geh wieder. Wir fangen noch mal an.« Sie ging aus dem Zimmer. Er schloss die Tür. Sie wartete einen Moment, vielleicht eine Minute. Eine Minute ist eine lange Zeit, manchmal. Dann klopfte sie, es klang genau wie zuvor. Er öffnete die Tür. »Komm herein«, sagte er. Sie betrat das Zimmer, dann küssten sie sich. – Max Küng, Zilla & Max


Die Jane-Austen-Freundschaft

Freundschaft ist im wesentlichen eine positive Feedback-Schlaufe: Wir nehmen andere Menschen wahr (ihre Stimme, ihre Texte, ihr Gesicht, ihre Augen etc.) und sie nehmen uns wahr – und es entsteht so etwas wie Sympathie. Mehr ist hier nicht gemeint: »Wahre« Freundschaft ist seit Jahrhunderten ein Ideal, das nicht einmal kohärent formuliert werden kann, sondern sich in Bildern und Metaphern erschöpft.

Auf den Kanälen der sozialen Netzwerken bezieht sich diese Feedback-Schlaufe auf formal oft eigentümliche Gebilde: Profilbilder, kurze Sätze, gefilterte Bilder, kurze Videos, Zitate, Links. Intimität entsteht schriftlich. Der Verweis auf »Formen aus dem bürgerlichen Zeitalter« ist nahe liegend. Sympathie entsteht sehr vermittelt und ist oft mit starker Distanz verbunden. Das gilt so auch für Intimität und Freundschaft, wie Helena Fitzgerald in Bezug auf die Briefkultur in den Romanen von Jane Austen festgehalten hat.

There’s a Jane Austen-ish quality to online social life. The written word gains unmatched power and inarguable primacy. Personal relationships now, to a much greater degree than, say, 30 years ago, hinge on our ability to write […]. This change makes us not disconnected so much as it makes us archaic. Austen’s characters easily expressed extreme emotion in long letters and then in person sat twitchily near one another, paralyzed with manners.

Though our letters are not delivered by hand or horse-drawn carriage, our relationships once again live and die in the texts by which we barter with each other. The internet age unavoidably resembles the 19th century novel’s idea of human intimacy as so many of us pour our passionate confessions into emails, messages or chat boxes. Our physical reactions when together are often cover-ups for what we could so candidly admit in writing. – Helena Fitzgerald, Intimacy as Text

 

Persönliche und unpersönliche Beziehungen

Niklas Luhmann hat in Liebe als Passion den Gedanken formuliert, dass unsere Gesellschaft im Gegensatz zu früheren mehr Möglichkeiten zu unpersönlichen und zu intensiveren persönlichen Beziehungen biete. Diese Überlegung passt gut zu Social Media. Intime Beziehungen können mit multimedialer Kommunikation in hoher Kadenz gleichermaßen unterhalten werden wie eine große Zahl sehr loser Beziehungen.

Das Paradox der Intimität auf Social Media zeigt gar die Vermischung dieser Möglichkeiten an: Auf einigen Profilen – z.B. von jungen Frauen – finden sich Aussagen zu intimsten Belangen (Krankheiten, Drogenkonsum, Sexualität, Liebesbeziehungen etc.) die unter dem Schutz eines Profils einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt werden, den nächsten Menschen aber vorenthalten werden. So eröffnen Social Media therapeutische Räume für den Umgang mit belastenden Gedanken und Erfahrungen.

Dass Social Media Möglichkeiten für Freundschaft schaffen, dabei aber auch ihre Bedingungen verändern – auch das sind Einsichten, zu denen man schnell gelangt. Was konkret passiert, kann nicht per Analyse erschlossen werden, sondern braucht das Gespräch unter Freunden: Reden. Zuhören. Nachdenken. Weiterreden. Und weiter zuhören.

Auf FB-Fotos markiert werden – wie man dabei Probleme vermeidet

Bildschirmfoto 2013-05-15 um 12.53.09Auf Facebook können beliebige Fotos »markiert« werden – es kann angegeben werden, wer auf den Fotos zu sehen ist. FB kann zudem automatische Markierungsvorschläge machen, wenn das Gesicht einer Person erkannt wurde.

Interessant ist dabei der entstehende Kontrollverlust: Ob ich auf FB markiert wurde oder nicht, kann ich nur erkennen, wenn ich ein FB-Profil habe und die Markierung dort erscheint. Die Kontrolle darüber, auf welchen Fotos ich wie markiert werde, habe ich zu keinem Zeitpunkt.

Das führt im Fall von Prominenten oder gut vernetzten Personen – es ist mir auch schon zwei Mal passiert – dazu, dass man ungewollt für Werbung eingespannt wird: Sobald man eine bestimmte Person als Kontakt akzeptiert (meist attraktive Bilder von jungen Frauen auf dem Profil), werden Werbefotos gepostet, die mit dem eigenen Namen markiert werden, damit diese Bilder dann im FB-Stream von vielen anderen Menschen auftauchen. Hier gibt es einen Zeitungsartikel zum Problem.

Was ist die Lösung?

  1. Im restriktiven Fall nur echte Freunde oder Bekannte als Kontakte hinzufügen.
  2. Bei Missbrauch entsprechende Profile sofort aus den Kontakten entfernen.
  3. Kontrollieren, ob Markierungen mit meinem FB-Konto verbunden werden und sie allenfalls entfernen. Dafür gibt es eine hilfreiche Einstellung, die sich oben rechts im Zahnrad-Menu > Privatsphäreneinstellungen > Chronik und Markierungen befindet und zuerst aktiviert werden muss, damit man Markierungen zuerst überprüfen kann, bevor sie auf FB erscheinen:

Bildschirmfoto 2013-05-15 um 12.59.06

»Sex-Falle Facebook« – konstruktive Lösungen zu einem Problem

Ein Mann hat in der Schweiz Knaben missbraucht, die er über Facebook kennen gelernt hat. Er hat dazu offenbar ein falsches Profil verwendet, wie der Blick berichtet. Facebook, so die Sprache des Boulevards, sei eine »Sex-Falle«. Dokumentiert wird das mit einer Strassen-Umfrage, bei der Jugendliche zu Protokoll geben, was sie schon alles auf Facebook gelesen haben.

Dazu einige Fragen und Antworten, die auf konstruktive Lösungen hinweisen sollen.

1. Fördern Facebook und Social Media sexuellen Missbrauch? 

Unklar. Facebook schafft eine Atmosphäre, die für das Kennenlernen von Täter und Opfer wichtig ist, man spricht von »grooming« oder »gruscheln«. Es vereinfacht das Kennen Lernen von Jugendlichen und Kindern enorm. Andererseits gab es auch schon vor Facebook viele Wege, Jugendliche und Kinder anzusprechen. Ob es sich hier um eine Verlagerung oder eine Verstärkung handelt, ist meines Erachtens noch ungeklärt.

2. Sind Jugendliche naiv, was die Gefahren von Facebook anbelangt? 

Nein. Jugendliche sind sehr kompetent und werden heute eindringlich vor Gefahren gewarnt. Sie mögen ab und zu mit Fremden chatten, aber generell sind ihnen die Grenzen bewusst und sie sind meistens auch in der Lage, sich zu schützen. Allerdings nutzen Täter typische Schwachstellen von Jugendlichen aus, was aber nicht der Fehler der Betroffenen ist.

3. Hilft ein Schulfach »Facebook«? 

Medienkompetenz ist enorm wichtig und muss in der Schule gelehrt werden. Ob in einem eigenen Fach oder nicht, kann man sich fragen. Wichtiger als ein Fach ist, dass Erwachsene (Eltern, Lehrpersonen, andere Betreuungspersonen) mit Jugendlichen über Medien, Medienverhalten und soziale Netzwerke sprechen. Offen, ohne Angst zu machen und mit echtem Interesse an den Fähigkeiten der Jugendlichen.

4. Was kann man tun, um Kinder zu schützen?

Ihnen aufzeigen, wer ihre Ansprechpersonen sind, wenn sie Probleme haben oder ihnen etwas Merkwürdiges passiert. Weniger gefährdet sind die Kinder, die mit jemandem darüber sprechen, wenn sie seltsame Anfragen per Facebook erhalten.

Bildschirmfoto 2013-02-11 um 10.28.14