Die Vorstellung, Lehrpersonen müssten für Kinder oder Jugendliche Vorbilder sein, ist verbreitet. Sie ist meiner Meinung nach aber irreführend und in einigen Aspekten problematisch. Lehrpersonen sollten sich professionell verhalten und eine Kultur etablieren, in der alle Schüler*innen sich wohlfühlen und gut lernen können.
Problem 1: Nachahmung
Ich bin Lehrer, aber ich bin auch ein Mensch mit Schwächen und problematischen Gewohnheiten. Wenn ich mich nun als Vorbild inszeniere, dann gehe ich davon aus, dass Schüler*innen sich so verhalten sollten, wie ich das mache. Ich trinke z.B. sehr viel, zu viel Kaffee. Das sollten Jugendliche aus gesundheitlichen Gründen nicht tun. Nun könnte ich als Vorbild so tun, als wäre das anders, den Kaffee also heimlich konsumieren und auf Nachfragen mit Halbwahrheiten antworten (»nicht mehr so viel wie früher, haha«.) Dann würde ich wiederum vorleben, dass man Schwächen verstecken und andere darüber belügen sollte.
Ganz allgemein ist es wohl keine gesunde Vorstellung, so sein zu wollen, wie jemand anders. Die Schüler*innen, die wir unterrichten, sollten nicht so werden wie wir – weder auf einer individuellen noch auf einer kollektiven Ebene. Ich kenne viele (gute) Schulen, aber an keiner würde ich für die Idee einstehen, dass die Gesellschaft besser würde, wenn sich Schüler*innen als Erwachsene so verhalten würden wie die Lehrpersonen an dieser Schule.
Problem 2: eigene Wege gehen
Als Lehrer in einem Fachlehrersystem kenne ich das Problem, dass jede Lehrperson das eigene Fach für das wichtigste hält. Sie hat es gewählt, studiert; sie vertritt es mit Begeisterung. Nur: Schüler*innen können nicht 12 Fächer mit Begeisterung anpacken. Sie müssen auswählen, priorisieren, eigene Wege finden und sich nach der Matur für ein eigenes Studium entscheiden.
Ähnlich verhält es sich in anderen Bereichen des Lebens. Menschen können sich ganz unterschiedlich verhalten und sie müssen herausfinden, welche Haltungen und Handlungen zu ihnen passen und welche nicht. Die Vorbild-Idee geht davon aus, dass es einen richtigen und viele falsche Wege gibt (und dass die Lehrperson den richtigen eingeschlagen hat).
Wie absurd das ist, zeigt sich z.B. bei der Berufswahl: Es ist völlig klar, dass nicht alle Schüler*innen für den Beruf der Lehrperson geeignet sind. Ist die Lehrperson nun in der Rolle des Vorbilds, dann ergeben sich hier kognitive Konflikte, die Schüler*innen nicht dabei unterstützen, eigene Wege zu gehen. Ganz unterschiedliche Wege.
Problem 3: Asymmetrie
Lehrpersonen nehmen eine ganz bestimmte Rolle mit Pflichten und Rechten ein. Sie benutzen eigene Toiletten, haben Verpflegungsmöglichkeiten und Rückzugsräume und werden bezahlt. Sie arbeiten an einer Schule, d.h. sie bereiten Unterricht vor und begleiten Schüler*innen. Diese besuchen eine Schule und lernen dort im Idealfall, sind geprägt von ihren Peers und ihrer Entwicklung. Kurz: Lehrpersonen sind komplett andere Menschen in anderen Situation als Schüler*innen.
Die Vorbild-Idee ebnet diese Unterschiede ein und gibt vor, dass Schüler*innen sich genauso wie Lehrpersonen verhalten könnten, wenn sie nur wollten. Das ist aber weder sinnvoll noch möglich.
Lösung: eine Kultur etablieren
Lehrpersonen, die sich professionell verhalten, schaffen eine Kultur. Diese besteht aus expliziten und impliziten Erwartungen, aus festgelegten Abläufen, aus Interventionen, Gesprächen etc. Die Kultur zielt nicht darauf auf ab, dass die Lehrpersonen nachgeahmt werden, sondern dass Lernen stattfindet, ein angenehmer sozialer Umgang möglich ist, Regeln und Erwartungen eingehalten werden. Diese Regeln und Erwartungen werden erklärt und begründet. Schüler*innen müssen einander nicht deshalb respektieren oder zuhören, weil die Lehrperson es tut, sondern weil es richtig und sinnvoll ist.
So bedeutet der Verzicht auf die Vorbild-Vorstellung gerade nicht »anything goes«. Sie bedeutet, unehrliche Inszenierungen zu vermeiden und die Energie auf das zu fokussieren, was wirklich wichtig ist an einer Schule: das Lernen und der soziale Umgang miteinander.
