Digitale Themen 2015 – eine Vorschau

Welche digitale Fragen sollen 2015 diskutiert werden, welche Konzepte gewinnen an Bedeutung? Eine Zusammenfassung einiger Gedanken aus Texten schlauer Menschen. 

* * *

    1. Algorithmen werden gleichzeitig bequem und unheimlich.
      Als »uncanny valley« bezeichnet man die Tatsache, dass menschenähnliche Roboter oder Figuren starke Abwehrreaktionen hervorrufen, sobald sie sehr menschliche Verhaltensweisen fast perfekt imitieren können. Zeynep Tufekci bezeichnet Algorithmen als das »uncanny valley« der Computerverwendung: Programme, die lernfähig sind oder künstlicher Intelligenz aufweisen, werden immer bedeutender – aber auch immer unheimlicher. Das hat zwei Hauptgründe:
      Erstens sind sie oft nicht wie Werkzeuge für Handlungen verwendbar, sondern werden von einer zentralisierten Plattform kontrolliert. Google ist kein Bibliothekskatalog, Facebook kein Telefon – weil neben den Absichten der User auch Absichten der Plattformbetreiber auf die Algorithmen einwirken.
      Zweitens fällen Algorithmen zunehmend Entscheidungen, bei denen nicht eine bessere einer schlechteren Variante vorgezogen werden kann (wie z.B. bei der Wahl der kürzesten Route auf einer Karte). Algorithmen urteilen also auch – ohne dass die Benutzerinnen und Benutzer verstehen, wie sie das tun. Die Suchresultate von Google sind ein Beispiel für eine solche Entscheidung. Niemand kann abschätzen, ob die angeblich relevanten Ergebnisse tatsächlich die relevantesten sind. (Hier ein drastisches Beispiel.)
      Gleichzeitig werden die Algorithmen aber auch immer bequemer: Auf unseren Smartphones lassen wir bewusst oder unbewusst viele Programme mitlaufen, weil sie scheinbar viele Erleichterungen ermöglichen.
    2. Denken in einem digitalen Kontext verstehen. 
      Defizitorientierte Aussagen über digitale Techniken (lesen, Notizen anlegen, Informationen abspeichern) sind 2015 überholt. Aktuelle Studien wie die von Storm und Stone (2014, Privatkopie der Studie per Mail erhältlich) oder Anne Mangen (leicht defizitorientierter Überblick aus dem New Scientist) zeigen, dass technologische Veränderungen das ganze Umfeld der spezifischen Kompetenzen verändern. Kürzer und klarer: Digitales Lesen oder Schreiben ist ein Prozess, der nicht direkt vergleichbar ist mit analogem Lesen oder Schreiben.
      Forschung und Didaktik müssen hier einen Schritt weitergehen und sich von der Vergleichsperspektive lösen. Wer verstehen will, wie Menschen mit digitalen Hilfsmittel interagieren, darf diese nicht in einem analogen Kontext evaluieren, sondern muss sich damit befassen, was sie erreichen wollen und wie sie das tun. Technische Möglichkeiten weisen – so Danah Boyd – Affordances auf: Sie machen gewisse Dinge einfacher und andere schwieriger. Wer viele Informationen auf einem Smartphone abspeichern kann, wird sich anders an Wichtiges erinnern.
    3. Fehler akzeptieren lernen, um Freiheit zu bewahren. 
      Soziale Netzwerke werden von vielen Menschen verwendet, um Beschwerden an mächtige Unternehmen weiterzuleiten. Die Aufmerksamkeit des eigenen Netzwerkes verhilft dem einzelnen Kunden dabei zu besserem Kundenservice. Gleichzeitig machen diese Reklamationen auch deutlich, dass Fehler kaum noch toleriert werden. Das führt wiederum dazu, dass Unternehmen ihre Mitarbeitenden lückenlos überwachen und kontrollieren. Hans de Zwart beschreibt in einem langen, sehr lesenswerten Essay, was es bedeutet, dass jeder Mensch heute lückenlos überwacht und kontrolliert werden kann. Sein Fazit: Nur wenn wir lernen, mit Fehlern und mangelnder Perfektion umzugehen, werden wir frei bleiben können.

      Geert de Roeck: The Worker.
      Geert de Roeck: The Worker.
    4. Netiquette 2.0 lernen. 
      In den frühen Foren gab es explizite Verhaltensregeln. Die fehlen im Social Web – obwohl einige Normen vernünftig und verständlich wären. Im Guardian wurden sie kürzlich von Helen Lewis zusammengefasst, hier eine verkürzte Version:
      (1) Vermeide Anti-Virality und ignoriere den Kool-Aid-Point.
      Sobald Inhalte viral verbreitet werden oder Frauen viel Wertschätzung im Netz erhalten, entsteht automatisch eine Gegenbewegung. Diese speist sich nicht aus Argumenten, sondern aus Ablehnung der Aufmerksamkeitsverteilung. Nicht mitmachen!
      (2) Höfliche Gleichgültigkeit. 
      In Restaurants und im öffentlichen Verkehr sehen und hören wir viel, was uns nichts angeht. Im Netz auch: Bitte wegsehen und weghören.
      (3) Konservative Neutralität hacken. 
      Wenn Plattformbetreiber wie Google oder Facebook vorgeben, neutral zu sein, meinen sie damit, dass sie den Status Quo nicht infrage stellen. Vorgaben und Anforderungen umgehen, wenn sie eigenen Bedürfnissen widersprechen.
      (4) Handlungen, nicht Lippenbekenntnisse. 
      Viele Anliegen buhlen um Aufmerksamkeit – die durch das Absetzen von Statusmeldungen häufig vergeben wird. Gute Taten entstehen aber nicht immer durch Worte allein. Netzaktivismus mag einiges bewirken, oft braucht es aber etwas mehr als ein paar Klicks.
      (5) Kontext mitbedenken. 
      Wir lachen hemmungslos über die doofen Menschen, die Paul McCartney nicht kennen.
      Das ist noch ein harmloses Beispiel. Würde man unsere Bilder und Kommentare aus dem Kontext reißen, erschienen wir alle lächerlich.
    5. Neue soziale Netzwerke. 
      Nathan Jurgenson zeigt es am Beispiel von Ello: Wir brauchen neue Social Media, welche sich ernsthafte Gedanken über soziale Interaktionen machen, ohne primär Werbung verkaufen zu wollen. Es ist zu hoffen, dass 2015 diesbezüglich ein innovatives Jahr wird.

Gibt es eine Gesellschaft ohne Geheimnisse?

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Das Geheimnis ist, so gesehen, Anlass einer Gewissensentscheidung, die einem niemand abnehmen kann; man muss sich klar darüber werden, warum man schweigt. Oder eben doch redet. Und welche Folgen dies haben könnte. In jedem Fall gilt: Das Gesagte lässt sich – einmal in der Welt – nicht mehr in das Ungesagte zurückverwandeln. Und das plötzlich öffentlich Gewordene kann nicht mehr zum Nicht-Öffentlichen werden.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat am Montag im Tages-Anzeiger über die Bedrohung des Geheimnisses durch Transparenz geschrieben (Version aus dem Web-Archiv). Dass digitale Medien das menschliche Leben transparenter machen und so Geheimnisse durch Kontrolle ersetzen, ist ein Gemeinplatz der gehobenen Medienkritik. Im Folgenden eine kurze Analyse des Arguments.

mehr-als Liest man die einleitenden Sätze von Pörksen, so wird klar, dass sein Argument auf der Annahme basiert, mediale Umwälzungen machten alles öffentlich Sagbar. Blicken wir in die Instagram-Kanälen junger Menschen, so scheinen wir das tatsächlich zu sehen: Sie »dokumentieren mit Selfies [ihre] Existenz als Laienpaparazzi in eigener Sache«, wie Pörksen schreibt.

Neben dieser Selbstinszenierung setzen auch Unternehmen und Staaten alles daran, unser Leben in Daten zu verwandeln. Barzahlungen sollen zugunsten von nachverfolgbaren Zahlungen unterbunden werden, Webseitenbesucher werden per Tracking verfolgt, Handyantennen und Kameras im öffentlichen Raum ermöglichen Bewegungsprofile.

Diese Entwicklung hat einen hohen Preis, den wir alle bezahlen. Und es ist wichtig, dass eine Auseinandersetzung darüber stattfindet, ob wir den Preis zahlen wollen.

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Aber der Preis, so behaupte ich, ist nicht das Geheimnis. Noch einmal Pörksen:

Denn ein Geheimnis erschafft, wie bereits der Soziologe Georg Simmel formulierte, eine zweite Welt, ein Refugium des Unbeobachteten und Unsichtbaren. In diese Welt können wir uns zurückziehen. Hier können wir uns erholen und müssen nicht mehr funktionieren. Hier können wir einem anderen von Erschöpfung, Krankheit oder unseren Sehnsüchten erzählen – im Vertrauen auf seine Verlässlichkeit und sein Schweigen.

Geheimnisse und Öffentlichkeit sind aber kulturell und sozial veränderliche Konzepte, wie die Arbeiten von Foucault (besonders die Vorlesungen von 83/84) zeigen. Nur ein Beispiel: Die Ehe war nicht immer ein öffentlicher Bund. Das heißt: Selbst wenn Dinge öffentlich werden, verschließt das den Raum der Geheimnisse nicht. Der Grund liegt darin, dass eben das Leben keine Datenbank ist, sich nicht auf Daten reduzieren lässt. Pörksens Annahme, Transparenz zerstöre die Möglichkeit des Geheimnisses, muss davon ausgehen, dass Gefühle wie Liebe, Scham, Ekel etc. – wie sie in den abgebildeten Beispielen von Postsecret ausgeführt werden – in Daten auflösbar sind. Weil das aber nicht der Fall ist, eröffnen selbst Social Media neue Räume für menschliche Geheimnisse. Das zeigen selbst die radikalsten Versuche, das eigene Leben transparent zu machen.

Das hat Nathan Jurgenson in einem lesenswerten Wired-Artikel ausgeführt:

But a human life is not a database, nor is privacy the mere act of keeping data about ourselves hidden. In reality, privacy operates not like a door that’s kept either open or closed but like a fan dance, a seductive game of reveal and conceal.
By that standard, the explosion of personal information online is giving rise to new mysteries, new unknowns. When you post a photo on Instagram, it offers up not just answers but hints at new questions: Who were you with and why? What were you feeling? What happened between the updates, and why was it left out? Secrets, creative concealments, the spaces between posts—this is where privacy flourishes today.

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Der Privatsphäre geht es ganz gut

Instagram, Caroline Spring
Instagram, Caroline Spring

Nathan Jurgenson, ein amerikanischer Soziologe, den ich aufgrund seiner kritischen Arbeiten zum digitalen Dualismus sehr schätze, hat bei Wired einen dichten Essay zur Privatsphäre im Web 2.0 publiziert. Im Folgenden fasse ich seine wesentlichen Aussagen zusammen.

Weil das Leben keine Datenbank ist, ist Privatsphäre nicht etwas, was an- oder ausgeschaltet werden kann. Sie ist vielmehr ein Spiel, bei dem es um Enthüllungen und Verhüllungen geht. Nur weil viele Informationen einer Öffentlichkeit oder einer Halböffentlichkeit zugänglich sind, ändert sich das nicht: Auch wenn auf Instagram viele Momente des Tages dokumentiert werden, ergeben sich dennoch viele Zwischenräume oder Lücken:

When you post a photo on Instagram, it offers up not just answers but hints at new questions: Who were you with and why? What were you feeling? What happened between the updates, and why was it left out? Secrets, creative concealments, the spaces between posts—this is where privacy flourishes today.

Jurgenson verweist auf Danah Boyds Analyse der Privatsphäre von Jugendlichen, die Techniken einsetzen, um trotz öffentlicher Kommunikation Geheimnisse schützen zu wollen. Zentral, so Jurgenson, sei die Fähigkeit, kontrollieren zu können, was wann enthüllt wird. Richtige Privatsphäre ist Autonomie und die gibt es weiterhin. Jurgenson verweist auf Möglichkeiten, eine Fülle von Informationen zu publizieren und sie dann schrittweise wieder zu löschen.

Viele Menschen, das zeigen Untersuchungen, legen einen großen Wert darauf. Sie verzichten bewusst darauf, Momente ihres Lebens abzubilden und mitzuteilen. War es in den Zeiten der analogen Fotografie ein Zeichen für die Bedeutung eines Ereignisses, dass es fotografiert wurde, ist das heute umgekehrt: Was nicht fotografiert wird, ist Menschen wirklich nahe.

Jurgensons Fazit: Öffentlichkeit nimmt der Privatsphäre nicht den nötigen Raum, sondern ermöglicht sie. Was privat und was öffentlich ist, hängt von einander ab.

Eine Interpretation des Offline-Diskurses

Disconnect.
Disconnect. Elena Sariñena

Schweizer Blogger haben den kommenden Sonntag, den 15. Dezember, als Offlinetag designiert. Ihre Aufforderung:

Verbringt den Tag offline – mit Freunden und Familie, zu Hause, in der Natur, im Lieblingsrestaurant.

Was steckt hinter diesem Wunsch von Menschen, die ihre Smartphones und Laptops ständig nutzen?

Wie die knappe Aufforderung, die ich oben zitiert habe, zeigt, wird in der Vorstellung von Offline-Phasen der Mythos konstruiert, das Leben ohne digitale Kommunikation sei reichhaltiger, echter. »Freunde und Familie«, »Natur«, »Lieblingsrestaurant« – all das wird uns ja durch unser Smartphone nicht genommen. Der nostalgische Wunsch nach einer Zeit, in der Begegnungen und Gespräche tiefer waren, der Mensch mit seiner Umwelt verankert, Konzentration einfacher und Tätigkeiten sinnerfüllt – dieser Wunsch kennzeichnet die Moderne, deren Denkerinnen und Denker seit der Romantik über die Entfremdung klagen, zu welcher die Technologie geführt habe.

Das hat stark mit der Wahrnehmung unsere Identität zu tun. Die Kehrseite des Mythos ist die Vorstellung, es gäbe hinter unseren Avataren und unseren Inszenierung von uns selbst ein wahres Ich. »Sei ganz dich selbst« ist die paradoxe Aufforderung der Lifestyle-Magazine, die einem gleichzeitig die Anweisung mitgeben, wie denn dieses authentische Ich sich kleiden, ernähren und sexuell erfüllen müsse. Genau so selbstverständlich wie die Erfahrung einer Entfremdung ist die Einsicht der modernen Philosophie, dass Identität aus der Spannung zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmung der anderen besteht, oder kurz: Dass es kein Ich ohne die Inszenierung eines Ichs geben kann.

Bezeichnend am Diskurs über Offline-Phasen ist die Pathologisierung von gewissen Verhaltensweisen. Wer zu oft auf einen Bildschirm starrt, gilt als süchtig und krank. Ohne neuartige Verhaltensweisen beschreiben zu können, werden sie als eine Abweichung von dem angesehen, was gesund und normal ist. Das zeigt auch das bekannte Video »I Forgot my Phone«: Als abweichend wird nicht die junge Frau angesehen, die sich der Vernetzung entzieht, sondern die Menschen, welche Verhaltensweisen an den Tag legen, die wir in unserem Alltag alle reproduzieren.

Letztlich geht es um die Bedrohung der neuen Möglichkeiten. Smartphones verändern Menschen: Sie erweitern unser Gedächtnis, unser Denken, sie verändern unsere Gefühle, unser Begehren. Wie das geschieht, wissen wir noch nicht genau – aber es wird Menschen nicht weniger echt und nicht weniger gesund machen, als sie es ohne digitale Technologie sind. Das Bedürfnis, Gefühle und Begehren zu normalisieren, ist die treibende Kraft hinter den Disconnectivistinnen und Disconnectivisten.

Dagegen spricht nichts. Es ist völlig legitim, Erfahrungen zu sammeln und zu reflektieren. Aber die Hoffnung, dadurch gesunder oder echter zu werden, ignoriert wesentliche Erkenntnisse über das Wesen des Menschen.

Das hält auch ein lesenswerter Artikel von Holm Friebe fest, der zeigt, wie stark diese Widersprüche auch mit den Gegebenheiten der Arbeitswelt und den Vorstellungen von Arbeit zusammenhängen:

Dass in einem derart nervösen Klima Besinnungsappelle, die uns zum achtsameren Umgang mit unserer Zeit mahnen und zu einem diätetischen Medienverhalten animieren, erneut Konjunktur haben und gerade in den sozialen Medien eine hohe Viralität erzielen, ist nicht Dialektik, sondern Ausdruck einer widersprüchlichen Wehmut.

(Viele Argumente nehmen Bezug auf Nathan Jurgensons Analyse der  »Disconnectionists«, wie er sie nennt.) 

Social Media, Kritik und Kulturpessimismus

Wir lernen. Langsam zwar, aber wir lernen. Und die Welt verändert sich und das tut weh, als wenn ein Mensch zu schnell wachsen würde.
Statt bitter zu werden und traurig vom Untergang der Kultur und unserer Werte zu reden, könnte man murmeln: Ja und? Dann gibt es eben keine Bücher auf Papier mehr, dann lernen Babys das Programmieren und Menschen treffen sich im Netz. Häuser werden höher – es ist Veränderung und ich bin ein Teil davon.

»Ja und?«, schlägt Sibylle Berg als Reaktion auf den Wandel vor. Die Welt, so könnte man denken, hat sich immer verändert, weil Menschen sich verändern und die Natur auch.

Wandel wird oft auf zwei Arten wahrgenommen: Als Fortschritt oder als Bedrohung. Progressive und konservative Reaktionen rufen die meiste Resonanz hervor, sie bedienen die Wünsche oder Ängste der Menschen, die mit Technologie und Wandel konfrontiert sind. Das gilt besonders für Social Media: In diesem Blog erhalte ich am meisten Reaktionen auf Texte, die z.B. festhalten, dass Kinderfotos auf Social Media problematisch sind, oder auf solche, in denen ich festhalte, dass Kulturpessimismus nicht angebracht ist, wie z.B. hier oder hier.

Dabei sind meiner Meinung nach zwei Vorstellungen naiv: Dass Wandel verhinderbar wäre, indem man seine Auswirkungen laut genug kritisiert, ist eine ebenso unreflektierte Position wie die, dass uns keine anderen Haltung bleibt, als mit dem Strom zu schwimmen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Veränderungen ist wichtig, aber nicht, um sie rückgängig zu machen, sondern um einen angemessenen Umgang mit ihnen zu finden, sie zu verstehen und sie zu gestalten. Kritische Denkerinnen und Denker wie Lovink, Boessel oder Jurgenson distanzieren sich durch fundamentale Kritik von unreflektiertem Umgang mit Technologie und Medien, fordern aber auch keine Technologie- oder Medienabstinenz. Radikale Positionen führen zu Aporien, entweder in einen Technik-Determinismus der Marketingwelt, in der mir Apple, Hollywood und Nestle mitteilen, wie ein Leben zu führen wäre und welche Gedanken zu denken sind, oder aber in eine Widerstands-Fantasie wie die des Una-Bombers.

Wandel - eine Gelegenheitsschwemme.
Wandel – eine Gelegenheitsschwemme.

Die sinnvolle Haltung, das mein Fazit, ist nicht: »Ja und?«, sondern besteht aus drei Fragen:

  1. »Was passiert da?« 
  2. »Was bedeutet das?«
  3. »Wie kann ich damit umgehen?«

Das gilt auch und gerade für die Schule. Dort gibt es Zeit, über Lernen, Lehren und Technologie nachzudenken. Nicht vorgeben, alte Rezepte seien nicht zu verbessern, weil es alte Rezepte seien. Nicht annehmen, neue Hilfsmittel würden eine neue Lern- und Lehrkultur etablieren. Sondern ausprobieren, nachdenken, wieder probieren und wieder nachdenken. Vorgaben hinterfragen, Praktiken hinterfragen, Technik hinterfragen. Was nicht funktioniert, verwerfen, was funktioniert, verbessern.

Schulgespräche mit Expertinnen und Experten via Twitter

Der direkte Kontakt mit Wissenschaftlerinnen, Künstlern, Politikerinnen und anderen Persönlichkeiten ist für Schülerinnen und Schüler von großem Wert. Sie sind Perspektiven ausgesetzt, die nicht primär mit dem Unterrichtskontext zu tun haben und erhalten direkten Zugang zu wichtigen Themen.

Oft erlebe ich es so, dass Klassen etwas überfordert sind mit solchen Begegnungen. Sie freuen sich darauf, sie hören dann aufmerksam zu – trauen sich aber kaum, ein echte Gespräch zu eröffnen. Nach wenigen zögerlichen Fragen zeigt sich dann in der Nachbesprechung, wie interessiert sie waren und wie viel sie zu einer interessanten Diskussion hätten beitragen können, nicht nur durch Fragen, sondern durch eigene Meinungen, Erlebnisse etc.

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Die Durchführung eines solchen Gespräches via Social Media bzw. Twitter hat viele Vorteile. Ich beziehe mich auf die Beschreibung eines Kommunikationskurses der Rutger University, wo ein Live-Gespräch mit Nathan Jurgenson, einem der interessantesten Theoretiker von Social Media (vgl. seine Gedanken zu digitalem Dualismus), durchgeführt wurde. Die verantwortliche Dozentin, Mary Chayko, beschreibt wichtige Aspekte, die bei einer solche Online-Begegnung beachtet werden müssen, damit sie erfolgreich durchgeführt werden kann:

  1. Die Klasse muss mit den technischen Mitteln und ihrem Einsatz so vertraut sein, dass keine Hindernisse entstehen. Idealerweise verwendet man eine Plattform, die Schülerinnen und Schüler kennen und nutzen. 
  2. Die Begegnung muss vorbereitet werden. Neben intensiver Lektüre relevanter Texte hat Chayko alle Lernenden gebeten, eine Frage zu formulieren und ihnen dazu ein Feedback gegeben. So kommt sicher eine Konversation in Gang.
  3. Die Person, mit der man spricht, muss ein solches Gespräch führen können, unter Umständen mit wenig Moderation durch die Lehrperson.
  4. Das Gespräch muss im Unterricht nachbearbeitet und ausgewertet werden.
  5. Der Einsatz von solchen Gesprächen muss sehr dosiert erfolgen (z.B. ein Mal pro Semester), er ist sehr aufwändig.

Nathan Jurgenson zog eine statistische Bilanz, wie oft er gefragt wurde und wie viele Antworten er gab:

http://twitter.com/#!/nathanjurgenson/status/258350385834643456

Chayko bewertet das Ergebnis als positiv – trotz des großen Aufwands. Das schönste Ergebnis war, dass sich ein face-to-face Backchannel ergeben hat. Das muss kurz erklärt werden: Oft wird Social Media als Backchannel bezeichnet: Bei Konferenzen, Sitzungen oder im Unterricht ergibt sich heute oft eine zweite Gesprächsschicht auf Social Media, wo andere Fragen gestellt und andere Themen diskutiert werden. Diese Backchannels können durch »Twitterwalls« sichtbar gemacht werden. Im Falle der Klasse von Chayko war der Backchannel aber im Unterricht: Die Studierenden haben gelacht und miteinander geredet, während sie mit Jurgenson diskutiert haben:

But my favorite outcome was the way the face-to-face “backchannel,” and the class as a community, began, during this event, to coalesce.

Zum Schluss noch ein technischer Hinweis: Mit Google+ ist es auch möglich, mehrdimensionale Begegnungen durchzuführen. Wie der Screenshot von Roland Gesthuizen zeigt, kombiniert es Videotelefonie mit Chats und gemeinsamer Bearbeitung von Dokumenten. Das kann für Gruppenarbeiten sinnvoll sein, würde bei Begegnungen aber auch ermöglichen, dass der Gast einen Vortrag halten könnte in einer Klasse und dann per Chat oder per Video befragt werden könnte.

ACCELN hangout  activity Screen Shot 2012-10-29 at 10.07.55 PM

Digitaler Dualismus

Der Begriff Dualismus taucht in der Diskussion des Körper-Geist-Problems regelmäßig auf: Die naive, intuitive Position besagt, dass Menschen einen Körper und einen Geist haben, die nebeneinander existieren. Die Frage, wie man sich eine Interaktion zwischen materiellem Körper und nicht-materiellem Geist vorstellen müsse, stiftet dabei große Verwirrung. Die Verwirrung könnte gelöst werden, indem man eine so genannt monistische Position einnimmt: Es gibt nur den Körper, der in der Lage ist, so etwas wie geistige Phänomene hervorzubringen. Oder es gibt nur den Geist, der uns die Illusion gibt, einen Körper zu haben und in einer physisch manifestierten Realität zu leben.

Grafik zum Leib-Seele-Problem, Ausschnitt. Wikimedia.

Ausgehend von dieser Beschreibung kann man sich nun dem Problem der virtuellen und der realen Welt zuwenden. Auch hier gibt es eine naive dualistische Position: Sie besagt, dass es neben der realen Welt eine virtuelle Scheinwelt gibt. Eine nahe liegende Kritik an Social Media verwendet diese Art von Dualismus, um festzuhalten, dass Facebook-Freunde keine echten Freunde seien, Konversationen auf Social Media keine echten Gespräche (vgl. z.B. Sherry Turkle), Aktivitäten in der virtuellen Sphäre generell eine Ablenkung von dem, was in der Realität wichtig ist.

Der Dualismus ist auch in Bezug auf unsere Persönlichkeit eine verbreitete Position: Er gibt vor, wir hätten eine feste Identität, die sich in der physischen Welt manifestiert (über unser Aussehen, unser Verhalten, unsere Eigenschaften etc.). In der virtuellen Welt präsentieren wir dann Facetten dieser Identität, eigentliche Zerrbilder – häufig versehen mit Pseudonymen oder Avataren. Auch hier wird schnell eine Bedrohung unserer Identität festgestellt: Durch die virtuelle Zersplitterung könnten wir uns verlieren, vergessen, wer wir wirklich sind und was unsere Bedürfnisse sind.

Ich möchte der Vorstellung des digitalen Dualismus nun Alternativen gegenüberstellen. Eine Möglichkeit wäre es, festzustellen, dass das, was wir Realität nennen, in einem hohen Grad virtuell ist. Unser Hirn konstruiert grundsätzlich seine Außenwelt – genau so, wie das ein Computer tut. Wir sehen die Welt nicht als das, was sie ist – sondern wir stellen uns eine Welt vor und passen das Modell so an, dass unsere Interaktionen mit der Welt möglichst effizient sind. Genau so ist unsere Persönlichkeit in hohem Masse virtuell: Sie bestand nie aus einer Einheit, sondern wird bestimmt durch Erzählungen, Vorstellungen, Fiktionen, Auslassungen und Hinzufügungen. Als soziale Wesen präsentieren wir uns immer anderen Menschen – ganz ähnlich, wie das auf Facebook-Profilen passiert.

Der Künstler Roland Wagner Bezzola präsentiert sich auf Facebook. Stand 7. November 2012.

Man kann aber auch eine andere Perspektive einnehmen – wie das Nathan Jurgenson tut. Er spricht davon, dass das Virtuelle Teil der Realität ist – und schon immer war. Digitale Technologien ermöglichen nun einfach eine erweiterte Realität, eine Augmented Reality. Seine These lautet:

This speaks to a fundamental way of conceptualizing and theorizing the Internet specifically, and spaces and places generally: that digital and material realities dialectically co-construct each other. For example, social networking sites (e.g., MySpace, Facebook) are not separate from the physical world, but rather they have everything to do with it, and the physical world has much to do with digital socializing. No longer can we think of a “real” world opposed to being “online”. Instead, we need to think with a paradigm that centers on the implosion of the worlds of bits and atoms into the augmented reality that has seemingly become ascendant.
[Übersetzung phw:] Daraus kann man ableiten, wie eine Konzeptionalisierung und eine Theorie des Internets – und allgemeiner von Räumen und Orten – aussehen müsste: Digitale und physische Realitäten konstruieren sich dialektisch gegenseitig. Nehmen wir als Beispiel soziale Netzwerke wie MySpace und Facebook: Sie sind nicht von der realen Welt zu unterscheiden, sondern haben damit zu tun – genau so wie die physische Welt mit digitalisierten sozialen Prozessen zu tun hat. Wir können das »Reale« nicht länger als Gegensatz zu »Online« denken. Stattdessen brauchen wir ein Paradigma, das die Implosion der Welt der Bits und Atome in eine erweiterte Realität berücksichtigt.

Um ein konkretes Beispiel zu machen: In den USA ist es bei WG-Besichtigungen zunehmend üblich, dass Bewerberinnen und Bewerber ihr Facebook-Profil angeben müssen, damit überprüft werden kann, ob das, was sie von sich behaupten, wirklich stimmt. Damit trägt die virtuelle Sphäre dazu bei, eine reale Identität zu konstruieren. Ähnlich stellen sich Menschen der Netzgemeinde bei Treffen in der realen Welt häufig mit ihrem Twitter-Handle vor: Ihre Identität kann nur über ihre Profile auf sozialen Netzwerken markiert werden.

So überzeugend diese Feststellungen sind, so wichtig ist es, terminologisch genau zu bleiben. Giorgio Fontana hält fest, dass die Opposition oder Dualität zwischen einer digitalen Sphäre und einer realen nicht haltbar ist – das heiße aber nicht, dass man nicht zwischen online und offline oder digital oder analog unterscheiden könne. Zudem müsse man verschiedene Perspektiven unterscheiden:

”Real” can mean “belonging to reality” (ontology) but also “authentic” (a real friend – sociology, folk psychology, etc.). Jurgenson is right when he says that digital is not opposed to real in both senses: a conversation on Facebook or on Skype is not less real neither less authentic than a face-to-face one. It’s just different; really different: while rejecting the naive idea of it being inauthentic or unreal, we should also consider carefully what changes between these two ways of interacting.
[Übersetzung phw:] »Real« kann heißen »zur Realität gehörend« (ontologisch), aber auch »authentisch« (ein realer Freund – Soziologie, Volkspsychologie etc.). Jurgenson hat Recht, wenn er sagt, das Digitale sei dem Realen in beiden Bedeutungen nicht entgegengesetzt: ein Gespräch auf Facebook oder Skype ist nicht weniger real und nicht weniger authentisch als face-to-face-Gespräch. Es ist einfach anders; wirklich anders: Während die naive Sichtweise, es sei nicht authentisch oder nicht real zurückzuweisen ist, sollte man genau prüfen, was die beiden Arten der Interaktion unterscheidet.

Die Bedeutung dieser Analyse und dieser Fragen wird offenbar, wenn man sich vor Augen hält, was Luciano Floridi konstatiert hat:

[W]e are probably the last generation to experience a clear difference between offline and online.

Digitaler Dualismus wird verschwinden, weil die beiden Sphären sich nicht mehr unterscheiden lassen. Wir werden die Augen durch Brillen sehen, die unser Modell von der Realität mit Informationen ergänzen – und in der virtuellen Sphäre unsere Städte, Wohnungen und Mitmenschen auf eine ganz natürliche Art und Weise erleben. Das heißt nicht, dass wir über diese Erfahrungen und Seinsweisen nicht nachdenken sollten.

reality is virtual enough – Juan Antonio Zamarripa, society6

Zur Bedeutung von »social« in Social Media

Versucht man den Begriff »Social Media« wörtlich zu übersetzen, so wirkt »soziale Medien« sofort schief. Handelt es sich um »soziale« Medien – also solche, die sich auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt beziehen, ihn fördern, auf ihn einwirken? Das stimmt alles nicht ganz.

In seiner Social Media-Kritik »Networks Without a Cause« hielt Geert Lovink 2011 fest, »the social« sei heute nur noch ein Feature, während lange Zeit undenkbar gewesen sei, »social« ohne moralische Konnotation zu verwenden: Das Soziale war ein Problem oder ein Ideal. Heute könne man aber Gemeinschaft (»community«) und »the social« problemlos trennen: »social« sei, so Lovink, heute nur noch eine Eigenschaft technologischer Prozesse, ein Teil von Programmen, die Menschen auf Plattformen festhielten, welche ihre Zeit in Anspruch nehmen, ohne gesellschaftliche Strukturen auszubilden oder Gemeinschaften herzustellen.

Diese Kritik am Begriff »social« präzisieren Nathan Jurgenson und Withney Erin Boessel in einem kurzen Essay. Sie unterscheiden zwei Begriffe: »social« und »Social«.

  • social
    Der erste Begriff, der Alltagssprache entnommen, bedeutet so viel wie gesellschafts- oder gemeinschaftsbezogen. Es betrifft alles, was sich zwischen Menschen abspielt: direkt oder indirekt, on- oder offline.
  • Social
    Der zweite Begriff hat eine viel engere Bedeutung: Er meint Interaktionen, die messbar, quantifizierbar, protokollierbar und benutzbar sind. Menschliches Verhalten, das in Datenbanken abgebildet werden kann, ist »Social«. Das hat im deutschsprachigen Raum auch Christoph Kappes schon so formuliert: »’Social‘ meint, dass menschliche Beziehungen maschinell abgebildet werden (zur Zeit noch naiv) und zur Informationsselektion und -verbreitung genutzt werden.«
Gordon Dam, , Australien. Wikimedia/JJ Harrison, CC BY-SA 3.0

Die Autorin und der Autor verwenden für ihre Unterscheidung ein Bild. »social« ist wie der Wasserkreislauf: Es regnet, es bilden sich Bäche, Flüsse; die wiederum bilden Seen und Meere – und von dort verdunstet das Wasser und bildet Wolken. »Social« ist nun ein Stausee: Eine Wassermasse, die eine spezifische Funktion hat (Energie herzustellen) und – ohne das selber zu merken – künstlich gebildet worden ist.

Die spezifische Funktion von »Social« und damit von Social Media ist den Autoren zufolge Arbeit gratis verfügbar zu machen. Das Geschäftsmodell des Web 2.0 sei es, Plattformen durch die von Usern generierten Inhalte attraktiv zu machen – also durch Gratisarbeit. Entsprechend bedrohlich wirkten nicht messbare Aspekte des »sozialen« Internets, die dann – wie das kürzlich Alexis Madrigal getan hat – »dark social« genannt werden.

Geht man noch einen Schritt weiter, so kann man mit Bert te Wildt konstatieren, dass sich »[d]as Mediale vom Individuellen zum Kollektiven hin entwickelt«: War das erste Medium die Stimme des Menschen, gebunden an seinen Körper und seine Individualität, so ist das Medium Internet heute völlig unabhängig von Körpern und Individuen – und damit auch von ihren Beziehungen. Es braucht keine Individuen mehr, um soziale Netzwerke herzustellen – die sozialen Netzwerke schaffen vielmehr Individuen. So ist es z.B. bei gewissen WGs in den USA üblich, dass an einem Zimmer Interessierte mit einem Facebook-Profil beweisen müssen, dass es sie tatsächlich gibt.

Der Real-Life-Fetisch: Vom Wunsch, »offline« zu sein

Es gibt ein Spiel, das viele Menschen toll finden: Wenn eine Gruppe junger oder mittelalterlicher Erwachsener zusammen im Restaurant isst, wird vereinbart, dass zahlen muss, wer zuerst das Smartphone benutzt. Man schafft einen Anreiz, offline zu bleiben, präsent zu sein: Sich in die Augen zu blicken, ein Gespräch zu führen.Das sind Fähigkeiten, die zunehmend verloren gehen, wenn man populären Technologiekritikern wie der omnipräsenten Sherry Turkle Glauben schenkt. Und doch scheint das Spiel albern, irgendwie auch unnötig.

Rene Magritte: L’Appel des cimes. 1942/43.

In einem Artikel in der Zeit präsentiert nun Eike Kühl in Bezug auf einen Essay von Nathan Jurgenson eine alternative Perspektive: Offline-Sein wird zu einem Fetish, einer Besessenheit. Wir inszenieren uns in unserer Fähigkeit, offline sein zu können. Wer das Internet eine Wochenende lang nicht nutzt, eine Reise ohne Smartphone macht oder bewusst eine Offline-Tätigkeit in Angriff nimmt, kann dies nicht tun, ohne bewusst auf diese Leistung hinzuweisen. Man stellt sich selber als etwas Besonderes heraus, indem man darauf hinweist, dass alle anderen süchtig nach dem Internet seien, abgelenkt und nicht mehr fähig zum tiefgründigen Leben ohne digitale Technik.

Dabei wird von einem dualen Modell ausgegangen, das Jurgenson »digital dualism« nennt: Die Vorstellung, es gebe die reale Welt und dann das Internet. Die beiden Sphären, so das Modell, schließen sich aus: Wer in der realen Welt ist, ist offline. Kühl schreibt dazu von einem eigenen Erlebnis:

Vor einigen Wochen korrigierte ich die Masterarbeit eines Freundes. Es ging um Social Media in Unternehmen, viele Studien, noch mehr Zahlen. An einer Stelle stutzte ich: Es war die Rede von Kontakten im „real life“ im Vergleich zu Kontakten auf Facebook. Ich erinnerte mich an eine Aussage des Pirate-Bay-Gründers Peter Sunde während einer Anhörung. Auf die Frage der Anklage, wann er das erste Mal jemanden im „echten Leben“ kennenlernte, antwortete Sunde: „Ich glaube, das Internet ist auch echt.“ Großartig. Ich strich die Textstelle mit der gleichen Begründung aus.

Das Leben offline wir überhöht. Es ist eine Utopie, in der man sich perfekt konzentrieren kann, erfüllende Beziehungen pflegt, Zeit hat und zur Ruhe kommt. Man ist produktiv und zufrieden. Nur: Diese Zustände gibt es nicht. Wir können uns auch im Internet konzentrieren, pflegen dort erfüllende Beziehungen und sind auch da produktiv und zufrieden – im gleichen Masse, wie wir es auch sonst sind. Das Internet ist Teil des Lebens, es ist das real life.

Kühl weist darauf hin, dass viele Erwachsene im Offline-Sein etwas Nostalgisches sehen:

Viele ältere Nutzer verbinden mit dem Offlinesein in seiner zunehmenden Rarität etwas ebenso Romantisches wie Nostalgisches. Ähnlich der Annahme, dass die besten Texte nur in Handschrift im Notizblock entstehen oder die wahre Musik nur aus den Rillen schwarzer Vinylscheiben erklingt, verbinden viele das digitale Abschalten mit einem veralteten Ideal. Offline, das steht in den Köpfen vieler für ausgedehnte Waldspaziergänge, tiefe Gespräche und gesteigerte Produktivität. Offline, das bedeutet immer auch „damals“: Damals, als wir noch nicht ständig auf E-Mails antworten mussten. Damals, als wir uns nicht ständig ablenken ließen.

Sie bilanziert, die Überhöhung des Offline-Seins »nerve«:

Es scheint fast so, als müsse man seinen Freunden gratulieren, dass sie mal wieder aus de Haus gingen oder während des Essens das iPhone in der Tasche ließen. Dass sie am Wochenende an den See fahren oder drei Tage bei Mutti ihre E-Mails nicht abrufen. Als sei dieses scheinbar selbstverständliche Verhalten einen Toast oder – und damit wird es endgültig bizarr – auch nur einen Tweet wert.