#filtertipps 1: Zeit als Filter

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Orientierung und Konzentration erfordern bei digitalen Informationen eine Reihe von Kompetenzen, die man englisch »digital literacy« nennt. Filterkompetenz ist ein wichtiger Bestandteil: Die Fähigkeit, nicht relevante Informationen und Inhalte mit Filtern unsichtbar zu machen. Die analoge Welt nutzt viele Filter: Inhaltsverzeichnisse bei Büchern, Kataloge in Bibliotheken, Register, Redaktionen von Zeitungen etc. haben neben vielen anderen Funktionen auch die Aufgabe zu filtern. 

In einer losen Serie möchte ich hier Techniken und Werkzeuge vorstellen, mit denen digitale Informationen gefiltert werden können. Das ist der erste Teil. 

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Als wir das erste Jahr Handys benutzten um SMS zu verschicken, konzipierte ein Freund von mir den »Loop«: Unter Alkoholeinfluss, im Streit oder bei sonstigen Formen von eingeschränkter Zurechnungsfähigkeit könne man SMS zwar entwerfen, solle sie aber erst am nächsten Tag abschicken. Dieser Loop stelle sicher, dass die Nachricht wirklich den eigenen Absichten erfolge.

Er hat damit die Zeit als Filter eingesetzt. Lässt man Zeit verstreichen, so kann sich die Bedeutung von Informationen ändern.

Eine effiziente Strategie im Umgang mit Emails nutzt diese Einsicht ebenfalls. Sie nennt sich Yestermail oder Yesterbox und besteht darin, grundsätzlich immer nur die Email vom vergangenen Tag zu lesen. Viele dringende Anfragen werden bedeutungslos, wenn man 24 Stunden wartet. Mehr noch: Wissen Menschen, dass man diese Filtermethode anwendet, so verzichten sie darauf, Mail zu verschicken, die darauf angelegt sind, einen im konkreten Arbeitsablauf zu unterbrechen.

Dieselbe Technik wenden Menschen schon länger bei der Zeitungslektüre an: Sie lesen lieber den Economist oder die Wochenendausgabe der NZZ auch unter der Woche, statt sich vom täglichen Aufmerksamkeitszirkus des Newsjournalismus vereinnahmen zu lassen. Mit dem zeitlichen Abstand steigt die Klarheit und Informationen werden relevant, weil sie sich in den Köpfen gesetzt haben.

Zeit ist aber auch in einem anderen Kontext ein wichtiger Filterfaktor: Bei Suchresultaten. Google erlaubt uns, einen Zeitraum für Suchresultate festzulegen. Oft interessieren mich nur aktuelle Einträge – dann nutze ich die Möglichkeit, den Zeitraum auf die letzte Woche zu beschränken. Funktioniert aber auch umgekehrt: Wer wissen will, was Newsportale zu einem bestimmten Thema während eines Ereignisses geschrieben haben, kann die Suche so präzise halten und Unwichtiges wegfiltern.

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Dasselbe gilt für die Suche nach wissenschaftlichen Papers bei Google Scholar, nach Büchern bei Google Books und auf der eigenen Festplatte sowie an vielen weiteren Orten: Eine zeitliche Einschränkung verbessert die Suche massiv.

Viele mobile Geräte und Plattformen sind auf Instant-Kommunikation angelegt. Sie unterbrechen unsere Arbeit und Denken mit Push-Nachrichten, weil sie unsere Aufmerksamkeit wollen. Dabei helfen sie uns mehr, wenn wir ihnen Rhythmen und Zeiten vorgeben. Wenn wir also Filter nutzen.

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Kompetenzen für eine digitale Welt

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An einer Weiterbildungsveranstaltung für Schulleitungsmitglieder an Gymnasien plane ich einen Input, der in der Konzeption der Veranstaltung wie folgt umrissen wurde:

Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Kompetenzen Jugendliche im Gymnasium des beginnenden 21. Jahrhunderts erwerben können und sollen, um ihre Aufgabe in der Berufswelt sowie als mündiger Mitglieder der Gesellschaft wahrnehmen zu können.

In einem Input wird die Bedeutung der Digitalisierung für die Didaktik und das Lernen in Thesen nachgezeichnet. Zentral ist dabei auf Wunsch auch die Frage nach der Konzentration und der vertieften Auseinandersetzung mit Inhalten.

Im Folgenden bündle ich Vorüberlegungen und freue mich über Feedback und Kritik.

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1. Das Gymnasium und die Kompetenzen

Der Auftrag der schweizerischen Gymnasien steht im Maturanerkennungsreglement von 1995. Dort steht:

  1. Ziel der Maturitätsschulen ist es, Schülerinnen und Schülern im Hinblick auf ein lebenslanges Lernen grundlegende Kenntnisse zu vermitteln sowie ihre geistige Offenheit und die Fähigkeit zum selbständigen Urteilen zu fördern.
  2. Die Schülerinnen und Schüler gelangen zu jener persönlichen Reife, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet.
  3. Maturandinnen und Maturanden sind fähig, sich den Zugang zu neuem Wissen zu erschliessen, ihre Neugier, ihre Vorstellungskraft und ihre Kommunikationsfähigkeit zu entfalten sowie allein und in Gruppen zu arbeiten. Sie sind nicht nur gewohnt, logisch zu denken und zu abstrahieren, sondern haben auch Übung im intuitiven, analogen und vernetzten Denken.

Diese Ziele und Vorgaben wurden beispielsweise im Kanton Aargau als kompetenzorientierte Modelle formuliert. Unter der Leitung von Peter Bonati wurden sechs Kompetenzbereiche identifiziert, an denen sich der gymnasiale Unterricht orientieren soll:

Quelle, S. 29
Bonati, Was Gymnasiastinnen und Gymnasiasten lernen sollen, S. 29

Der Kompetenzbegriff, den ich im Folgenden übernehme, ist für Bonati dem Begriff der Lernziele deshalb vorzuziehen, weil er »personalisierte Lernziele« meint (ebd., S. 30).

Versucht man, die Aufgabe des Gymnasiums auf einen Nenner zu bringen, dann geht es darum, dass Lernende darauf vorbereitet werden, sich in Wissensprozessen sozial zu verhalten. Also etwa zu arbeiten, gesellschaftliche Systeme zu pflegen, Kritik zu üben, Politik zu betreiben…

2. Die Folgen der Digitalisierung

Die Wissensarbeit des Journalismus wurde durch die Digitalisierung sehr schnell und direkt betroffen – weshalb an seinem Beispiel einige Folgen klar aufgezeigt werden können (vgl. dazu den ersten Teil von »online first«):

  1. Aufweichung der Gate-Keeper-Rolle
    Redaktionen von Massenmedien sind weiterhin für die Auswahl der Inhalte, die ein breites Publikum wahrnehmen kann, verantwortlich. Aber ihre Selektionskraft hat nachgelassen: Digitale Kanäle können andere Akzente setzen und Themen aufkommen lassen, welche die etablierten Medien dann übernehmen.
  2. Verlust der Informationsmonopols
    Findet ein Ereignis statt, dann können Interessierte heute aus einer Palette von Kanälen auswählen. Augenzeugen berichten auf Twitter, Zeitungen und Fernsehstationen aus verschiedenen Länder online. Es ergibt sich also auch eine
  3. Internationalisierung
    zumal viele Netzwerke länderübergreifend gebildet werden.
  4. Auflösung von Kontexten
    Informationen sind nicht mehr in ganze Zeitschriften oder Sendungen eingebettet, sondern werden selektiv verbreitet: Teils als Zitate oder als einzelne Artikel. Jeder User im Web 2.0 hat einen eigenen Kontext.
  5. Kürzere Aufmerksamkeitsspannen
    Untersuchungen zeigen, dass journalistische Texte zunehmend kürzer werden und von längeren oft nur die ersten Abschnitte gelesen werden.
  6. Experimente
    Aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Situation – Werbetreibende zahlen im Vergleich mit gedruckten Medien online deutlich weniger für Werbung – sind Journalistinnen und Journalisten heute gefordert, neue Formen wie »Listicles« zu erproben, die digital Erfolg haben und auch neue Formen von Werbung (so genannte »native ads«) ermöglichen.

Diese sechs Einsichten können leicht auf die Schule übertragen werden. Auch hier geht ein Monopol verloren. Inhalte und Umgebungen für Lernprozesse finden sich heute im Netz. Einheiten in hoch stehendem Frontalunterricht (Bsp. Kahn Academy) sind ebenso verfügbar wie ganze Kurse, bei denen die Teilnehmenden auf Materialien von Fachleuten zurückgreifen können, aber auch selbst produktiv werden (Bsp. MOOCs). Wie im Journalismus ist der Kontext der Schule nicht mehr zwingend: Wer Algebra lernen möchte, muss nicht gleichzeitig einen Deutschkurs besuchen, Literatur lesen, Fremdsprachen erwerben und Sport treiben. Auch der Einfluss auf die Aufmerksamkeitsspannen sind beobachtbar: Die Hirne von Schülerinnen und Schüler passend sich an digitale Kontexte an, sie verarbeiten auch schulische Informationen ähnlich wie die im Netz. Das betrifft alle schulischen Aktivitäten, vom Speichern von Informationen über den Leseprozess bis zur sozialen Interaktion.

Digitalisierung hat aber auch gesellschaftliche Auswirkungen, die sich besonders in der Arbeitswelt zeigten. Der Beruf der Journalistin oder des Journalisten ist dafür ein gutes Beispiel: Zu allen Fähigkeiten, die im Beruf schon immer wichtig waren – Wissen strukturieren und vermitteln können, gute Geschichten aufspüren, Menschen zum Sprechen bringen, Debatten führen -, treten nach Auffassung vieler Expertinnen und Experten heute die Kompetenzen, mit Daten und Programmen umgehen zu können. »Datenjournalismus«, wie diese Bewegung heißt, erfordert als Journalistinnen und Journalisten, die zusätzlich Kompetenzen in Statistik und Informatik mitbringen und mit Fachleuten in diesen Bereichen so zusammenarbeiten können, dass sie eine gemeinsame Sprache finden. Projekte, bei denen große Datenmengen so verarbeitet werden, dass sich ein breites Publikum in interaktiven Darstellungen einen Überblick verschaffen können, erfordern eine neue Form von Teamarbeit, weil letztlich im Produkt nicht mehr erkannt werden kann, von wem welcher Teil stammt.

Die drei oben genannten Ziele der gymnasialen Ausbildung – lebenslanges Lernen, gesellschaftliche Verantwortung, Zugang zu neuem Wissen – haben sich durch die Digitalisierung verändert. Das heißt nicht, dass über Jahrhunderte erprobte Lern- und Lehrmethoden komplett obsolet würden, wie das ein naiver Fortschrittsglaube bei jeder Innovation so lange behauptet, bis das Gegenteil belegt ist. Vielmehr bedeutet es, dass neue Möglichkeiten zu bewährten hinzutreten: Und zwar sowohl im Umgang mit Inhalten wie auch in der sozialen Interaktion.

Bezieht man diese Einsicht auf die Kompetenzen, so meint Digitalisierung gerade nicht eine Aufwertung der IKT-Kompetenzen. Sie ersetzen Reflexion, sprachlichen Ausdruck, Sozialverhalten und die Fähigkeit, sich motivieren zu können, keinesfalls – werden aber ähnlich basal. Am Gymnasium gibt es seit Jahren die Tendenz, Informatik als ein Fach zu isolieren, in dem meist Anwendungsübungen durchgeführt werden. Diese Tendenz ist heute ähnlich gefährlich wie die absurde Vorstellung, Reflexionskompetenz oder Sozialverhalten als Fach vermitteln zu wollen. Diese überfachlichen Kompetenzen hebe ich bewusst heraus, weil die für die Digitalisierung nötige Medienkompetenz genau darauf basiert: Sie lässt sich nicht auf die Nutzung und Produktion von Medien reduzieren, sondern muss auch ihre Einflüsse auf die Gesellschaft und Individuen reflektieren.

3. Vom Mensch zur Maschine

Zu den unsichtbaren Folgen der Digitalisierung gehört unsere zunehmende Abhängigkeit von Algorithmen: Ohne Programme fährt heute kein Auto mehr, Kühe werden von Algorithmen gemolken und Informationen gefiltert. Programme fällen zunehmend Entscheidungen für uns: Sei es, was wir zu sehen bekommen, wenn wir bei Google nach bestimmten Begriffen oder Bildern suchen, oder sei es, wie ein Auto optimal einparkiert wird.

Menschen werden sich zunehmend mit Programmen messen und ihre Fähigkeiten maschinell erweitern und verbessern. So sehr vielen an »natürlichen Menschen« gelegen ist: Der soziale Druck, mit dem Technologie zu neuen Normen führt, führt zum sozialen Ausschluss all derer, die sich ihm entgegenstellen. Wer heute ohne E-Mail-Adresse oder Handy leben will, muss gravierende private und berufliche Konsequenzen auf sich nehmen. Und so gibt es keine Postboten mehr, die ihre Pakete nicht mit GPS und schlauen Maschinen verteilen, die ihren Arbeitsalltag vermessen und optimieren und ihnen jede Routenentscheidung abnehmen.

Ihr Beruf ist – wie viele andere auch – durch die Digitalisierung gefährdet. Maschinen werden Menschen viele Aufgaben abnehmen: Meist unangenehme, aber oft auch solche, mit denen heute für viele Menschen ein Einkommen erzielt werden kann.

Welche Jobs werden durch die Digitalisierung wie stark gefährdet? - Quelle
Welche Jobs werden durch die Digitalisierung wie stark gefährdet? – Quelle

Digitalisierung von Arbeit bedeutet aber nicht nur, dass Abläufe automatisiert werden. Plattformen wie Amazons »Mechanical Turk« erlauben es, auf menschliche Intelligenz wie eine Ressource zuzugreifen: Kreative Arbeiten mit Texten und Bildern werden an ein Heer von Menschen vergeben, die zuhause am Computer sitzen und für ein paar Cents Aufgaben erledigen, für die noch vor wenigen Jahren Menschen angestellt wurden. Auch wenn man solche Verfahren nicht völlig pessimistisch beurteilt, so zeigen sie, dass Zusammenarbeit unter Menschen immer stärker auch unter Einbezug von digitalen Werkzeugen möglich ist und erleichtert wird.

Greifen Algorithmen in den Arbeitsprozess ein, so ist das mit einer zunehmenden Standardisierung verbunden, die sich auch in der Bildung bemerkbar macht. In seinem Buch Gadget macht Jaron Lanier eine feinsinnige Anmerkung zum Turing-Test, der besagt, dass Computer dann denken können, wenn Menschen in Chats nicht mehr unterscheiden können, ob sie es mit menschlichen oder algorithmischen Partnern zu tun haben. Der Test, so Lanier, messe zwei Dinge gleichzeitig: Das Verhalten der Chatpartner – aber auch die Anforderung, welche die Versuchsperson an menschliches Verhalten stellt. Diese Anforderungen würden zunehmend sinken, befürchtet Lanier. Wenn z.B. schulische Leistungen nur noch in Bezug auf standardisierte Tests, also Algorithmen, gemessen werden, dann wird menschliches Verhalten bald so beurteilt, wie man die Leistung von Computern einschätzt.

4. Kompetenzen für eine digitalisierte Welt

Aus dieser exemplarischen Veranschaulichung der Konsequenzen der Digitalisierung für die Schule und die Gesellschaft ergibt sich die Forderung, dass junge Menschen lernen müssen, sich in einer Welt zu orientieren, in denen Informationen vermittelt und Arbeit digital durchgeführt werden. Sie müssen Werkzeuge, Maschinen und Programme einsetzen können, aber diesen Einsatz auch reflektieren.

In diesem Zusammenhang spricht man von »digital literacy«, auf Deutsch nur ungenügend mit »Informationskompetenz« übersetzt. Definiert werden kann diese Kompetenz wie folgt:

Die Fähigkeit, digitale Informationen aus verschiedenen Quellen und in verschiedenen Formaten zu verstehen und zu nutzen. Gemeint ist nicht ein einfacher Lesevorgang, vielmehr ist gemeint, die Informationen beim Lesen auf ihren Gehalt und ihre Bedeutung zu prüfen. Dabei wird das Bewusstsein entwickelt, digitale Werkzeuge zielorientiert und reflektiert einzusetzen, neue Medien schaffen zu können, sie aber auch zu evaluieren, analysieren und in ihre Bestandteile zu zerlegen.

Ergänzt werden müsste noch eine soziale Fähigkeit: Beziehungen digital aufzubauen und zu pflegen und sich so ein persönliches Lernnetzwerk anzulegen, das lebenslanges Lernen ermöglicht.

Diese Sammlung an digitalen Kompetenzen kann leicht zerlegt werden:

  1. Visuelle Kommunikation.
  2. Wahre und relevante von falscher und irrelevanter Information trennen.
  3. Die Quellen von Informationen ermitteln können, auch wenn das digital erschwert wird.
  4. Filter einrichten und pflegen.
  5. Jedem Stück Information mit der richtigen Menge an Aufmerksamkeit begegnen und sich nicht ablenken lassen.
  6. Repetitive Arbeitsschritte mithilfe von Programmen abkürzen.
  7. Verstehen, wie Algorithmen und Suchmaschinen funktionieren und wo ihre Schwächen liegen.
  8. Über die eigene Filter-Bubble nachdenken.
  9. Über Einfluss in sozialen Netzwerken nachdenken.
  10. Reflektieren, dass digitale Kommunikation Menschen ausgrenzen kann.

Diese unvollständige Sammlung hat jeweils einen aktiven und einen passiven Teil: Genau so wichtig wie die Rezeption von digitalen Inhalten ist ihre Produktion.

5. Fazit

Nehmen die Schweizer Gymnasien ihren Auftrag ernst, kommen sie gar nicht darum herum, digitale Medien in den Unterricht einzubeziehen. Mündige Mitglieder der Gesellschaft, die in einer Wissens- und Informationsgesellschaft verantwortlich handeln können und sich selbst motivieren, kommen im 21. Jahrhundert ohne digitale Kompetenzen nicht mehr aus. Dabei geht es um viel mehr, als ICT projektweise einzubeziehen und lustige Filmli zu drehen oder ein Dokument kollaborativ zu bearbeiten: Auf dem Spiel steht letztlich das Verständnis für das Funktionieren der Wissensverbreitung und der Gestaltung von Arbeitsplätzen.

 

 

Die Struktur der Netzgeneration

Die Tatsache, dass heute andere Medien genutzt werden als in früheren Zeiten rechtfertigt es nicht, eine ganze Generation als andersartig zu mystifizieren. Im Gegenteil, die Generation, die mit diesen neuen Medien aufwächst, betrachtet sie als ebenso selbstverständliche Begleiter ihres Alltags wie die Generationen vor ihr den Fernseher, das Telefon oder das Radio.

Dieser Haltung von Rolf Schulmeister, der in seinem breiten Essay argumentativ bestreitet, dass es eine Net-Generation gibt, wird in einer aufwändigen Studie des Deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) von 2014 eine andere Perspektive gegenübergestellt:

Die Sphären Jugend und Medien sind also durch vielfältige Beziehungen miteinander verwoben. Allzu oft ist dementsprechend auch die Rede von Mediengenerationen, die durch einen jeweils charakteristischen Umgang mit – wiederum spezifischen – Medien gekennzeichnet sind. Heute wird dabei vor allem auf das Medium Internet Bezug genommen. Diagnostische Schlüsselbegriffe lauten dann Netzgeneration oder Generation @ (S. 17).

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U25-Internet-Millieus, 14-24-Jährige

Die DIVSI-Studie postuliert aber ebenfalls keine Einheitlichkeit, sondern leitet anhand von Unterscheidungen nach dem Bildungsniveau (tief, mittel und hoch) und der normativen Grundorientierung (traditionell, modern, postmodern) sieben Internet-Niveaus für die Altersgruppe 14 bis 24-Jahre ab (S. 28 ff.):

  1. Verunsicherte (tief, traditionell), 3%
    Nutzen das Internet eher wenig und bewerten ihre Kompetenz dafür als ungenügend. Sie sind verunsichert und misstrauisch gegenüber dem Internet, aber auch mit ihrem eigenen Leben unzufrieden.
  2. Vorsichtige (mittel, traditionell), 7%
    Diese Jugendlichen wünschen sich ein ähnliches Leben wie es ihre Eltern hatten und sind sozial eher unauffällig. Das gilt auch für ihre Internetnutzung: Sie ist verantwortungsbewusst und zurückhaltend, die »Vorsichtigen« hinterlassen im Netz wenig Spuren. Sie geben an, auf die meisten Internetdienstleistungen verzichten zu können.
  3. Verantwortungsbedachte (hoch, traditionell), 8%
    Im Vergleich mit den ersten beiden Gruppen nutzen sie das Netz intensiver, aber kaum zu Lifestyle-Zwecken. Sie orientieren sich an bekannten Strukturen und sind daher dem Internet gegenüber skeptisch eingestellt; vor allem mögliche Rechtsverstöße schrecken sie ab.
  4. Skeptiker (hoch, traditionell-modern), 10%
    Die Gruppe orientiert sich an Idealen wie Gerechtigkeit, Demokratie und Toleranz verfügt über ein hohes Sendungsbewusstsein. Um die eigene Meinung zu vertreten wird digitale Kommunikation genutzt, für die Freizeitgestaltung jedoch kaum. Aufgrund ihrer kritischen Haltung sehen sie die Sicherheit im Netz als ein Problem.
  5. Unbekümmerte (tief, modern), 18%
    Sie nutzen das Internet häufig und hauptsächlich zu Unterhaltungszwecken. Vernetzung und Inszenierung sind für sie wichtig. Unbekümmert sind sie lediglich gegenüber Vertrauen und Sicherheit im Internet, mit ihrem Leben sind sie generell wenig zufrieden.
  6. Pragmatische (mittel-hoch, modern), 28%
    Diese große Gruppe ist mit ihrem Leben, ihren Beziehungen und ihrem Aussehen sehr zufrieden und versuchen Leistung, Disziplin und Spaß zu verbinden. Dabei ist das Netz ein Mittel, das selbstverständlich und kompetent genutzt wird.
  7. Souveräne (hoch, postmodern), 26%
    Mobile und kreative Jugendliche, welche sehr intensiv und lange online sind und versiert, aber nicht unreflektiert Netzwerke pflegen und kulturelle Inhalte erstellen, verbreiten und konsumieren.

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Wie Jugendliche Social Media zur Beziehungspflege nutzen

Es sind nur Ausschnitte, kleine Teile von mir selbst und es gleich nicht meinem Leben. Du könntest nicht viel über mich sagen, wenn du mich nur auf Facebook kennen würdest. Das hat nichts damit zu tun wer ich bin, also wer ich wirklich bin. Es ist nur so allgemeines Zeug, das ich mag und was ich tue, oder einfach Dinge, die andere, die ich kenne, mögen oder interessant finden.

Nahum über seine Selbstrepräsentation auf Facebook

Weil quantitative Methoden oft ungenau sind, wenn es um subjektive Zusammenhänge wie Beziehungen geht, haben Fatimah Awan und David Gauntlett (Publikation auf Anfrage per Mail erhältlich) mit 14- und 15-jährigen Jugendlichen einen kreativen Prozess durchgeführt: Nach einer Einführung ließen sie »Identitätskisten« herstellen, welche einen Innen- und einen Außenraum hatten, den die Jugendlichen mit Collagen beklebten. Sie sollten dabei an drei Dinge denken: »Ich«, »meine Welt«, »meine Medien«. Diese Boxen ließen sie von den Jugendlichen ohne ein bestimmtes Fragenraster präsentieren, so dass sie die Aspekte hervorheben konnten, die für sie von besonderer Bedeutung waren. Die dabei gewonnen Erkenntnisse bilden einen guten Ausgangspunkt für eine vertiefte Diskussion der Auswirkungen digitaler Medien, die anders als zu Beginn der Geschichte des Internets immer auch mit den eigenen sozialen Strukturen verbunden sind.

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Die folgende Liste ist zu generell, weil sie einerseits spezifische Kontexte außer Acht lässt, andererseits uneinheitliche Praktiken und Haltungen verallgemeinert. Aber sie zeigt bestimmte Tendenzen auf, die durch internationale Studien recht gut belegt sind.

  1. Wenig neue Beziehungen durch Social Media
    Social Media ist für die meisten Jugendliche kein Werkzeug, um neue Menschen kennen zu lernen. Die meisten Jugendlichen kennen ihre Freunde aus der Schule, über andere Freunde oder aus der Nachbarschaft. Neue Freundschaften betreffen häufig Jugendliche, deren Bekanntschaft in der Schule oder in Vereinen schon gemacht wurde, allerdings ohne intensive Gespräche, die über soziale Netzwerke initiiert werden können.
  2. Social Media als Erweiterung der alltäglichen sozialen Erfahrung
    Neue Medien dienen Jugendlichen hauptsächlich dazu, Beziehungen zu erhalten und zu intensivieren. So erwähnen sie beispielsweise häufig die Möglichkeit, mit entfernt lebenden Verwandten im Kontakt zu stehen. Die Freundschaften hängen aber nicht von ihrer medialen Erweiterung ab.
  3. Nähe und Routine
    Der Hauptmodus der Konversation unter Freundinnen und Freunden auf Social Media besteht in einer Versicherung, dass man an einander denkt und die Verbindung aufrecht erhalten will. »An mich hat niemand gedacht«, meine eine 17-jährige Schülerin bei einer Befragung im September 2013, als sie eingestehen musste, als einziges Mitglied ihrer Klasse um acht Uhr noch keine WhatsApp-Nachricht erhalten zu haben (eigene Quelle). Dadurch entsteht oft ein belangloses Geplaudere, das schnell zu einer Routine werden kann. Gespräche nehmen einen formalisierten Lauf, was zu einer gewissen Frustration und einer Social-Media-Müdigkeit führen kann. Zudem entsteht schnell ein Druck, ein bestimmtes Engagement aufrecht erhalten zu müssen.
  4. Unterschiedliche Beziehungen auf Social Media pflegen
    Es gibt keine Belege dafür, dass Jugendliche nicht in der Lage wären, nähere Freunde von entfernten Bekannten zu unterscheiden, obwohl die meisten Netzwerke dafür denselben Status vorsehen (z.B. die Kategorie »Freund« auf Facebook). In Befragungen weisen Jugendliche regelmäßig darauf hin, dass nur ein kleiner Teil dieser Freunde tatsächliche Freunde seien. Daraus lässt sich ableiten, dass sie Differenzierungen vornehmen, auch wenn es oft technisch schwierig wenn nicht unmöglich ist, sie umzusetzen.
  5. Bequemlichkeit
    Social Media macht für Jugendliche das Leben einfacher, weil die schnelle und direkte Kommunikation oft eine Erleichterung darstellt. »Es verändert meine Identität nicht, es ändert nur die Dinge, die ich tue, zum Beispiel, wie schnell ich etwas tun kann«, meinte eine der Schülerinnen, die Awan und Gauntlett befragten.
  6. Offenheit und Kontrolle
    Jugendliche nehmen soziale Netzwerke als Möglichkeit wahr, sich freier Ausdrücken zu können, ohne sich beispielsweise vor einer Gruppe lächerlich zu machen oder sich schämen zu müssen, weil sie einen bestimmten Grad von Anonymität und Distanz wahrnehmen. Gleichzeitig erleben sie mehr Kontrolle in sozialen Situationen, weil beispielsweise Gespräche grundlos abgebrochen werden können oder schwierige Themen angesprochen werden können, ohne die direkte Reaktion der anderen Person einbeziehen zu müssen. Sie fühlen sich in der Online-Kommunikation oft sicherer als im direkten Kontakt mit anderen Jugendlichen.
  7. Mangel an Vertrauen und Klarheit
    Jugendliche wissen, dass andere sie falsch verstehen könnten oder die Informationen, die sie ihnen geben, gegen sie verwenden können.
  8. Authentische Selbstrepräsentation
    Man kann davon ausgehen, dass die meisten Jugendlichen nicht ein ideales Selbstbild verkörpern, sondern sich mehr oder weniger so präsentieren, wie sie sich sozial verhalten.
  9. Bewusstsein für Privatsphäre
    So echt die Selbstrepräsentation oft ist, so lückenhaft ist sie. Viele Profile enthalten sehr generische Informationen über Fernsehsendungen, die jemand mag, oder nichtssagende Ferienbilder. Das entspricht einem hohen Bewusstsein für Privatsphäre und die Erwartungen anderer, die auf den Profilen nichts auf den ersten Blick Störendes entdecken sollten, sondern vor allem Interessantes und Attraktives.
  10. Eindimensionale Beziehungen
    Jugendliche sprechen Online-Beziehungen in der Regel viele Qualitäten ab, die für sie wichtig sind. Neben dem Vertrauen ist es vor allem der mangelnde Blickkontakt, der ihnen fehlt und der für sie wichtig ist.

Das Bild, das diese zehn Punkte zeichnen, ist kein einheitliches. Es ergeben sich Brüche und Widersprüche, die nicht aufzulösen sind, sondern als Beschreibung einer sozialen Realität durchaus akzeptabel sind. So ist es beispielsweise paradox, dass Menschen in halb-anonymen Situationen oft viel offener über ihre Probleme reden als im direkten Austausch mit ihren Mitmenschen.

Im folgenden Abschnitt wird nun die Perspektive umgedreht: Während Jugendlichen oft eine gewisse Kontrolle über oder Verantwortung für die Beziehungen, die sie pflegen, zugeschrieben wird, nutzen sie online Werkzeuge, die mit ganz bestimmten kulturellen und wirtschaftlichen Absichten designt wurden, und so das Verhalten von Jugendlichen direkt beeinflussen.

Während ein deterministischer Ansatz besagen würde, dass die Optionen zur Gestaltung eines Profils dazu führen, dass sich die Möglichkeiten zum Ausdruck einer Identität reduzieren, ist die Annahme einer Wechselwirkung zwischen der alltäglichen Lebenspraktiken von Menschen, wirtschaftlichen Abläufen und kulturellen Gegebenheiten wohl zielführender und präziser. Sander De Ridder hat beispielsweise in einer Untersuchung der Nutzung von Netlog durch belgische Jugendliche herausgearbeitet, wie Technologie, Partizipation, Subjektivität und Repräsentation in sozialen Netzwerken in einander übergehen. Das heißt konkret, dass gewisse technologische Beschränkungen oder Möglichkeiten zu Partizipation führen oder aufgrund mangelnder Partizipation – aus ökonomischen Überlegungen – an die Wünsche der Nutzerinnen und Nutzer angepasst werden. Gleichzeitig beziehen sich Designer von Software auf die subjektiven Erfahrungen der Nutzerinnen und Nutzer – ihr Verhalten auf den Netzwerken wird bis in kleinste Detail analysiert und später durch präzise Anreize gesteuert. Und doch entwickeln Gemeinschaften jeweils eigene Codes für Repräsentation. In De Ridders Untersuchung ging es z.B. um die Frage, unter welchen Bedingungen Jugendliche auf Netlog ihre sexuelle Orientierung definieren – eine Angabe, die im Gegensatz zum biologischen Geschlecht (es stehen nur die Optionen »männlich« und »weiblich« zur Auswahl) fakultativ ist. Diese Angaben können im System selbst vorgenommen werden, was User mit einem als »männlich« definierten Profil fast doppelt so häufig tun wie die anderen, »weiblichen«. Ebenso tun es die Profile häufiger, die angeben, auf der Suche nach einer Beziehung zu sein, eine weitere von der Software angebotene Option.

Jugendliche nutzen aber vielfach die Möglichkeit, ihre sexuelle Orientierung und ihren Beziehungsstatus in einem freien Text zu verfassen, mit dem sie sich vorstellen können. So schrieb etwa ein 17-jähriges Mädchen:

Deine Liebe ist meine Droge, Jonaaaaaaaaas ❤
7. April ’10 ❤

Jugendliche entwickeln also eigene Strategien, um Freiräume innerhalb der von Softwaredesign geschaffenen Strukturen zu generieren. De Ridder bemerkt dazu folgerichtig:

User geben Technologie eine unterschiedliche Bedeutung. In der Folge resultiert aus dieser interpretativen Flexibilität Kontingenz und Komplexität im Verhältnis von Gesellschaft und Technologie, statt einer einseitigen Bestimmung.

Kurz: Während Netzwerke die Darstellung von Individuen und die Möglichkeiten ihrer Beziehungen durch technische Vorgaben prägen, lassen sie dennoch genügend Freiräume, um gehackt zu werden – hacken verstanden als die Fähigkeit, Grenzen kreativ und spielerisch zu überwinden.

Als Vergleich könnte die Fähigkeit von Jugendlichen herangezogen werden, auch Schuluniformen individuell zu tragen, selbst wenn alle Kleidungsstücke vorgegeben sind.

Diese Strategien und Fertigkeiten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wirtschaftliche Interessen mittels Medialisierung auch intime Beziehungen von Jugendlichen in bestimmte Bahnen lenken. Dabei ist es äußerst schwierig, präzise darzustellen, wie das geschieht, gerade weil es kein einseitiger Prozess ist und Medialisierung oft bewusst gewählt wird. Problematisch erscheint, dass wirtschaftliche und kulturelle Kräfte, die hinter Social Media stehen, durch die intensivere Nutzung immer stärker unsichtbar werden, was De Ridder im Gespräch mit Fokusgruppen mit Teenagern erstaunt hat.

Vorsatz: Wikipedia verbessern

Ich habe eben die düsteren Zukunftsprognosen zu Wikipedia im Schneeschmelze-Blog gelesen. Und einen Vorsatz gefasst:

Ich werde jeden Monat einen Wikipedia-Artikel substantiell überarbeiten und seine Qualität merklich steigern. Die bearbeiteten Artikel publiziere ich auf meiner Benutzerseite.

Gerne lade ich Interessierte ein, es mir gleichzutun. Als Hashtag schlage ich #besserewiki vor.

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Ein Twitter-Experiment

Eine Woche lang, so habe ich mir vorgenommen, würde ich Meldung auf Twitter nur weiterleiten (retweeten = RT) oder auf andere Meldungen antworten, aber keine selber schreiben.

Was wäre der Sinn dieses Vorgehens? Wie David Bauer schon mehrfach bemerkt hat – kürzlich auf medium.com – verstehen sich zu viele Menschen in sozialen Netzwerken als Urhebende von Informationen, die sie eigentlich lediglich weiterleiten. Aufsehenserregende Nachrichten stammen selten von den Menschen, die darüber schreiben, sondern werden von ihnen lediglich zitiert oder paraphrasiert. Bauers Fazit:

Don’t add to the noise, amplify the signal. The interwebs thank you.

Ich wollte also versuchen, hier etwas disziplinierten zu agieren. Es ist mir gelungen: Abgesehen von Hinweisen auf meine Blogposts, die von WordPress automatisch generiert werden, habe ich eine Woche keine Tweets verschickt, die nicht Antworten waren oder Retweets.

Das fiel mir oft nicht ganz einfach. Die Parallele zwischen dem Gripen und dem iPhone, die beides unnötige teure Spielzeuge sind, die trotz besseren Wissens gekauft werden, hätte einen guten Tweets abgegeben. Zudem wollte ich fragen, welches Swisscom-Infinity-Abo denn jemand wie ich wählen sollte (das habe ich dann auf Facebook gemacht, aber nur eine Antwort erhalten); ich wollte Diskussionen zu den Fingerabdrücken auf dem iPhone starten (habe ich dann per Reply gemacht) oder mich über vieles ärgern, was diese Woche so vorgefallen ist. Zudem wollte ich oft auf interessante Texte verweisen und sie mit einem spezifischen Kommentar versehen, statt einen Tweet weiterzuleiten, der in meinen Augen ungenau war.

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Solche Experimente zeigen immer wieder Aspekte der eigenen Mediennutzung auf, die man ohne sie nicht bemerken würde (z.B. meinen Drang, zu allem meine Meinung kundzutun; oder: die Bedeutung der Möglichkeit, auf Twitter Fragen stellen zu können und hilfreiche Antworten zu erhalten). Aber sie beschränken die Möglichkeiten, ein eigenes, aussagekräftiges Profil aufzubauen.

Pornografie, Gamen – und die Entwicklung junger Männer

In seinem Vortrag und dem zugehörigen E-Book »The Demise of Guys« untersucht der Psychologe Philip G. Zimbardo zusammen mit Nikita Duncan die Fragestellung, warum junge Männer mit immer mehr akademischen, sozialen und romantisch-sexuellen Problemen konfrontiert seien. Die populärwissenschaftliche Argumentation geht von folgender Feststellung aus:

These guys aren’t interested in maintaining long-term romantic relationships, marriage, fatherhood and being the head of their own family. Many have come to prefer the company of men over women, and they live to escape the so-called real world and readily slip into alternative worlds for stimulation. More and more they’re living in other worlds that exclude girls — or any direct social interaction, for that matter.

Selbstverständlich ist Zimbardos Perspektive geprägt von einer normativen Vorstellung von Geschlechterrollen: Genügen Männer nicht einem heteronormativen Ideal einer traditionellen Familie und der Vorstellung der protestantischen Arbeitsethik, wird das als Problem wahrgenommen. Neben diese Kritik an »The Demise of Guys« möchte ich eine zweite Stellen: Zimbardo ist digitaler Dualist, denn er nimmt an, »the so called real world« sei wichtiger als ihre virtuellen Erweiterungen.

Die Problemanalyse verdient trotz dieser gewichtigen Einwände einen zweiten Blick. Neben einer sozialen Analyse (Wandel von Rollenbildern, Betreuungsmodellen, ökonomische Umwälzungen) weist sie auf zwei mediale Einflüsse hin, welche das Leben junger Männer erschweren – und zwar aus ihrer eigenen Sicht: Pornografie und Videogames machten junge Männer zunehmend schüchtern – und diese Schüchternheit zieht weitere unerwünschte Folgen nach sich.

Untersuchungen von Zimbardo und anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben ergeben, dass in den letzten 30 Jahren:

  • soziale Phobien von 2% auf 12% angestiegen sind (Definition: »marked and persistent fear of one or more situations in which the person is exposed to possible scrutiny by others and fears that he or she may do something or act in a way that will be humiliating or embarrassing«)
  • Schüchternheit bei Erwachsenen von 40% auf 58% angestiegen sind (Definition: Menschen bezeichnen sich selbst als schüchtern)
  • Schüchternheit bei Kindern zwischen 8 und 10 Jahren nach Angaben ihrer Eltern von 30% auf 61% angestiegen sind
  • Schüchternheit in Deutschland und den USA mit rund 60% doppelt so stark vertreten ist wie in Israel (30%)
  • Schüchternheit von rund 65% der Betroffenen als persönliches Problem bezeichnet wird.
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Shy, Doc Diventia, society6

Obwohl die Zahlen keinen größeren Anstieg bei Männern als bei Frauen nahe legen, bezeichnet Zimbardo Schüchternheit für Männer aufgrund bestehender Normen als größeres Problem. Sie würden zunehmend eine wichtige Fähigkeit verlieren, nämlich ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu führen:

They don’t know the language of face contact, the nonverbal and verbal set of rules that enable you to comfortably talk with and listen to somebody else and get them to respond back in kind. This lack of social interaction skills surfaces most especially with desirable girls and women. (Demise of Guys, The New Shyness)

Warum liegen die Gründe dafür beim Porno- und Videospielkonsum? Es handelt sich um vertraute, kontrollierbare Umfelder. Die große Übung im Umgang mit diesen Medien verschafft jungen Männern eine große Kompetenz und versorgt sie mit regelmäßigen Stimuli, so dass die Eindrücke und Reize von Gesprächen mit Mitmenschen dagegen abfallen. Zudem handelt es sich dabei um unkontrollierbare Situationen mit ungewissem Ausgang, was mit viel Frustration verbunden ist. Es entsteht eine Art Teufelskreis: Je weniger geübt junge Männer in direktem Kontakt und Gesprächsführung sind, desto unbefriedigender verlaufen diese Erfahrungen für sie und desto stärker ziehen sie sich zurück.

Dieser Mechanismus leuchtet ein. Es ist irreführend, an dieser Stelle von Sucht zu sprechen, wie das Zimbardo tut. Mir scheint es wichtiger darauf hinzuweisen, dass Jugendliche sich alternative Handlungsmöglichkeiten erarbeiten sollten: Sie sollten möglichst frei wählen können, ob sie Zeit mit Freundinnen und Freunden verbringen oder vor dem Bildschirm. Tun sie aber nur letzteres, laufen sie Gefahr, ersteres entweder gar nicht zu lernen oder zu verlernen. Schüchternheit wäre ein Indikator dafür.

Porno-Filter: Ein Problem und eine Lösung

Die Digitalisierung der Medien und der Kommunikation bedeutet grundsätzlich, dass alle produzierten Inhalte für alle Teilnehmenden abrufbar sind. Also können auch Kinder und Jugendliche sich via Internet Bilder, Videos und Texte ansehen, vor denen sie ihre Eltern möglicherweise schützen wollen. Kurz: Es gibt heute keine Möglichkeit zu verhindern, dass Minderjährige Pornografie konsumieren.

Nun gibt es aber – ausgehend von einem Vorstoss von David Cameron in Großbritannien – Bestrebungen, das Internet zu filtern (auch in Deutschland und in der Schweiz). Konkret sieht ein Bildschirm, der den britischen Haushalten präsentiert wird, wohl so aus:

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Daran werden drei fundamentale Probleme deutlich:

  1. Es geht nicht allein um (harte) Pornografie, sondern eine Mischung von verschiedenen Inhalten und Anliegen.
  2. Die Filter, welche die Internet-Service-Provider auf der Basis eines Konzepts von Huawei entwickeln, können nicht funktionieren: Sie müssen nicht nur Pornografie blockieren, sondern auch Aufklärungsmaterial, sie werden nicht nur Seiten über Essstörungen, sondern auch solche von Ernährungsberaterinnen und -beratern blockieren und sie werden nicht nur den Zugang zu Werkzeugen blockieren, mit denen man die Filter umgehen könnte, sondern auch eine kritische Diskussion der Filter.
  3. Auch wenn die Filter Information in Bezug auf ihre Umgehung zu blockieren versuchen: Die Filter können umgangen werden. Selbst der chinesische Firewall, der umfassend blockiert, ist für Eingeweihte nicht wirkungsvoll.

Es ist keine Lösung, wenn die Regierung eines Landes starre und allgemeine Filterlisten konzipiert, die Inhalte aufgrund unklarer Kriterien blockieren – auch wenn das Anliegen von Eltern und pädagogisch Verantwortlichen, Kinder gewissen Inhalten nicht auszusetzen, verständlich ist.

Die Lösung ist aber naheliegend – wenn auch leicht komplizierter:

  1. Filterkompetenz ist eine Basiskompetenz in der heutigen Medienwelt. Kinder und Jugendliche müssen lernen und üben, wie sie ungewollte Inhalte ausblenden wollen und können.
  2. Eltern müssen das auch üben und lernen.
  3. Internet Service Provider sollen ermuntert werden, entsprechende Angebote zu machen, die individuell anpassbar sind: Fälschlicherweise blockierte Seiten müssen freischaltbar sein, feine Kategorien müssen angeboten werden.
  4. Angebote, mit denen Browser erweitert werden können, um Inhalte zu blockieren – für Chrome z.B. hier – und andere Angebote müssen bekannter werden.
  5. Über Pornografie und schädliche, unerwünschte Inhalte muss eine Diskussion laufen. Sie zu blockieren, ist für eine Gesellschaft keine Lösung.

So wichtig der Schutz von Kindern ist – er rechtfertigt nicht eine Einschränkung  der freien Meinungsäußerung. Sie ist ein Menschenrecht und gilt universell und unteilbar. Sie umfasst aber – in meiner Lesart – auch das Recht, Inhalte zu filtern. Genau so wie wir bestimmen können, welche Bücher in unseren Regalen stehen, genau so können wir bestimmen, welche Inhalte wir im Internet sehen können. Aber wir müssen lernen, wie.

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Lernt löten!

Heute ist in der WoZ ein Gesprächsbericht erschienen, den Kaspar Surber über eine Unterhaltung mit mir geschrieben hat.

Den ganzen Text gibt’s hier.

Jugendliche nutzen das Internet nicht anders, weil sie als «Digital Natives», als Eingeborene der digitalen Welt, aufwachsen. Sondern weil sie aufgrund ihres Alters ein eigenes Beziehungsnetz knüpfen müssten: «Die sozialen Medien funktionieren dabei wie ein Shoppingcenter als halb öffentlicher Raum: So wie Jugendliche dort ihre Zeit verbringen, wollen sie auch auf Facebook sehen und gesehen werden.» Andere wiederum, die nicht den gängigen Normen entsprechen, finden im Internet Gleichgesinnte zum Austausch.

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Zwischen Facebook-Zwang und -Verbot: Social Media in der Schule

Letzte Woche ist eine Handreichung des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg erschienen, die intensiv diskutiert worden ist. Meine Kritik daran habe ich schon formuliert.

Im Anschluss an den Erlass stellt sich die Frage, welche alternativen Vorschläge für einen Umgang mit Social Media an der Schule sich denn als sinnvoll erweisen könnten. Die Handreichung in Baden-Württemberg wurde von einigen Apologetinnen und Apologeten mit der Begründung verteidigt, dass sie die einzige Möglichkeit darstelle, geltendes Recht zu berücksichtigen und Schülerinnen und Schüler davor zu schützen, zum Betreiben eines Facebook-Accounts gezwungen zu werden.

Till Westermayer fragt in einem Kommentar auf seinem Blog beispielsweise zurecht:

Was wäre für  – mit geltendem Datenschutzrecht im Hintergrund – eine sinnvolle Formulierung einer solchen Handreichung zur Nutzung von sozialen Netzwerken/Clouds für dienstliche Zwecke? Unter welchen Umständen würdest du sie erlauben, unter welchen nicht?

Im Folgenden stelle ich meine Vorstellung zum Einsatz von Social Media in der Schule dar. Einige Vorbemerkungen:

  • Die rechtliche Forderung – dass personenbezogene Daten im Internet geschützt werden – kann meiner Meinung nach heute nur von wenigen IT-Profis sicher umgesetzt werden. Für Lehrpersonen und Mitarbeitende einer Schule ist es undenkbar, das Internet zu nutzen und dabei personenbezogene Daten zu schützen. Es ist dafür nicht einmal relevant, ob die Daten in Cloud-Servern gespeichert werden oder via soziale Netzwerke kommuniziert werden: Alleine die Nutzung bestimmter Geräte und Betriebssysteme reicht aus, dass die Daten ungenügend geschützt sind und von außerhalb eines Landes abgefragt bzw. verändert werden können.
  • Soziale Netzwerke sind nicht per se unsicherer als E-Mail.
  • Rechtliche Vorgaben und Geschäftsbestimmungen von Betreibern von Plattformen sind nicht dasselbe. Es ist durchaus möglich, gegen Geschäftsbestimmungen zu verstossen, ohne ein Gesetz zu brechen.
  • Sicherheit, Gesetze, ethische Fragen, (medien-)pädagogische und organisatorische Vorgaben sind an einer Schule in ein Verhältnis zu setzen. Es gibt keine Lösung, die auf keiner dieser Ebenen Abstriche macht und zu Problemen führt.

Auf dieser Grundlage halte ich folgende Prinzipien für sinnvoll:

  1. Für die Schule relevante Arbeiten sollen Lernende im Internet mit Profilen erstellen, die nicht an ihre Person gebunden sind (also mit Pseudonymen) – es sei denn, sie entscheidend sich zusammen mit ihren Eltern dafür, ihren Klarnamen zu verwenden.
  2. Sensible Daten wie Noten, Adresslisten, Telefonnummern etc. gehören nur auf Schulserver, für deren Sicherheit Profis zuständig sind. Lehrpersonen und Lernende müssen instruiert werden, wie mit diesen Daten umgegangen werden soll.
  3. Die mediale Realität von Jugendlichen ist weniger stark zu gewichten als pädagogische Überlegungen, d.h. die Tatsache, dass Jugendliche Facebook nutzen, ist kein Grund, es in der Schule einzusetzen.
  4. Plattformen, die mit dem Content ihrer User Geld verdienen, sollten in der Schule generell gemieden werden – es sei denn, pädagogische Erwägungen sprechen stark dafür.
  5. Es ist in der Regel sinnvoll, für schulische Arbeiten speziell darauf zugeschnittene Tools zu verwenden.
  6. Die Kommunikation zwischen Lehrpersonen und Lehrpersonen und Eltern bzw. Schülerinnen und Schülern braucht einen privaten Kanal. Privat heißt nicht abhörsicher, sondern lediglich nicht-öffentlich. So lange Punkt ii. eingehalten wird, können soziale Netzwerke, E-Mail, mobile Nachrichten oder Telefongespräche sinnvolle Medien dafür sein.
  7. Für die professionelle Vernetzung und den Aufbau eines persönlichen Lernnetzwerkes sollten Lernenden wie Lehrenden möglichst wenig Vorschriften gemacht werden.
Samir Karrhat, Society6.
Samir Karrhat, Society6.