Mythen der digitalen Kluft

Die digitale Kluft (»digital divide«) bezeichnet das Phänomen, dass gewisse Menschen oder soziale Gruppen die Möglichkeiten digitaler Kommunikation und der Datenverarbeitung intensiv nutzen (können), andere nicht – weil ihnen der Zugang zur Infrastruktur, die notwenigen Geräten oder Kompetenzen fehlen. Diese Kluft vergrößert schon bestehende Unterschiede. So wandelt sich die Arbeitswelt in Europa und in den USA – Arbeit ohne Datenverarbeitung ist nicht mehr denkbar; was wiederum die Hürde für Menschen aus Schwellenländern, gut bezahlte Arbeiten zu erledigen, erhöht.

Jen Schradie erforscht die digitale Kluft und hat bei Cyborgology sieben Mythen widerlegt, die ich hier fünf übersetzen möchte. Die Mythen beziehen sich klar auf einen amerikanischen Kontext, enthalten aber gleichwohl entscheidende Gedanken.

  1. Die digitale Kluft ist vorbei. 
    Stimmt nicht, sagt Schradie.  Entscheidend ist ihrer Meinung nach vor allem die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht: Wer sozial benachteiligt ist, ist auch digital benachteiligt.
  2. Die digitale Kluft ist eine Kluft. 
    Es geht nicht darum, ob Menschen Internetzugang haben oder nicht. Wichtig sind verschiedene Faktoren, so z.B. mit wie vielen Geräten eine Familie aufs Internet zugreifen kann oder ob Menschen sich im Internet mitteilen oder nur fremde Inhalte konsumieren. Hierbei handelt es sich um graduelle Unterschiede.
  3. Die digitale Kluft findet anderswo statt. 
    Es ist entscheidend, lokale Probleme wahrzunehmen. Welche Menschen sind auf Bibliothek- oder Schulinternetzugang angewiesen? Welche müssen ganz auf Zugänge verzichten, weil sie nicht einmal wissen, dass es kostenlose Möglichkeiten gibt? Solche Menschen gibt es überall – auch wenn es in Europa weniger sind als in anderen Ländern, heißt das nicht, dass das Problem nicht bestünde.
  4. Digitale Divide betrifft alte Menschen. 
    Der Mythos besagt, dass die Jungen von heute keine Kluft mehr kennen, nur alte Menschen, die nicht Digital Natives sind. Schradies Untersuchungen zeigen, dass das nicht stimmt. So hat sie z.B. erforscht, wie wahrscheinlich es ist, dass High-School-Absolventinnen und -absolventen bloggen und das mit College-Ausgebildeten verglichen:
    Predicted-Probability-of-Blogging-Among-American-Adults-small
  5. Aber gerade Benachteiligte können doch heute mit Mobiltelefonen online gehen…
    Wichtig sei intensive und vielfältige Nutzung des Internets. Wer mit dem Smartphone surft, kann keine zehnseitigen Paper schreiben und sie kollaborativ bearbeiten.

Gerade weil digitale Werkzeuge immer selbstverständlicher scheinen, ist es wichtig zu sehen, dass sie nicht allen Menschen zur Verfügung stehen. Vergleiche dazu auch meinen Vortrag und meinen Essay zu dieser Frage.

Elektronische Medien aus Sicht der Lehrpersonen

Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V., kurz BITKOM, hat 2011 mit »Schule 2.0« eine repräsentative Untersuchung zum Einsatz elektronischer Medien an Schulen aus Lehrersicht publiziert (Volltext als pdf).

Die Resultate sind durchaus interessant und sollen hier kurz zusammengefasst werden. Ich fokussiere auf den Vergleich der Fächer, obwohl die Umfrageergebnisse auch Geschlechter, Schultyp und Alter unterscheiden.

Bildschirmfoto 2013-01-27 um 13.44.14 Bildschirmfoto 2013-01-27 um 13.43.53

Die ersten beiden Grafiken zeigen, dass 85% der Lehrpersonen von sich sagen, ein positives Verhältnis zu elektronischen Medien zu haben – man könnte denken, die These, dass vor allem die wenig medienaffine Menschen Lehrerin oder Lehrer werden, sei falsch. Allerdings sind solche Ergebnisse immer mit Sorgfalt zu genießen: Wenn der Frame der elektronischen Medien gesetzt ist, geben wenige Menschen an, diesen negativ gegenüberzustehen. Man müsste hier Vergleichswerte anderer Berufsgruppen kennen.

Auf jeden Fall sind rund 10% weniger der Ansicht, elektronische Medien ließen sich im Unterricht sinnvoll einsetzen. Dasselbe gilt, sie man unten sieht, auch für Social Media: Ein Viertel der befragten Lehrkräfte findet, Social Media seien für den Unterricht untauglich. Bildschirmfoto 2013-01-27 um 13.46.07

Bildschirmfoto 2013-01-27 um 13.44.57

Aspekte, die Social Media auszeichnen, kommen aber dann bei den Einsatzmöglichkeiten im Unterricht wenig zum Tragen – letztlich dienen elektronische Medien traditionellen Vorstellungen vom Unterricht; aus welchen Gründen auch immer. 
Bildschirmfoto 2013-01-27 um 13.45.46

 

Auch den sechs Aussagen zum Einsatz von elektronischen Hilfsmitteln stimmen jeweils rund drei Viertel der Lehrpersonen zu: Schülerinnen und Schüler scheinen ihnen motiviert, konzentriert; sie arbeiten gut in Gruppen und individuell, lernen schneller und können Inhalte besser darstellen.

Die Studie hinterlässt letztlich ein diffuses Gefühl: Die hohe Zustimmung zeigt in ihrer Gleichförmigkeit kaum Handlungsmöglichkeiten auf; es scheint mir sehr unklar zu sein, wie der Einsatz verändert und vor allem verbessert werden könnte.

Kontrollverlust und Filtersouveränität

Wie jede technische Innovation wurden auch die Möglichkeiten sozialer Vernetzung im Internet von Anfang an als Gefahr wahrgenommen. Fast zehn Jahre bevor Facebook erstmals im Netz auftauchte, lief in den Kinos ein Thriller mit Sandra Bullock in der Hauptrolle. The Net  (Irwin Winkler, 1995) zeigt eine Computerspezialistin, die ihre Beziehungen und geschäftlichen Kontakte praktisch komplett übers Internet abwickelt. Dies führt im Lauf des Films dazu, dass sie die Kontrolle über ihren Besitz, ihr Leben, ihre Beziehungen und ihre Identität verliert: Ihre Kreditkarten sind ungültig, ihre Sozialversicherungsnummer einer vorbestraften Frau zugeteilt, ihr Haus wird verkauft. Das Internet wird von der effizienten Technologie zur lebensbedrohlichen Waffe, die sich gegen die Benutzerin selbst wendet.

Diese düsteren Hollywood-Vision beschreiben keine Realität – aber sie zeigen, wie stark die Ängste sind, die mit der Gestaltung einer Online-Identität und der Pflege eines digitalen Beziehungsnetzes zusammenhängen. Wenn es sich letztlich nur um Daten handelt, die abbilden, wer ein Mensch ist und mit wem er in Kontakt steht, dann scheint es naheliegend, dass diese Daten missbraucht werden.

492741_6984057_lz

Michael Seemann, ein deutscher Kulturwissenschaftler, der in seinen Arbeiten die gesellschaftlichen Veränderungen durch digitale Technologie nachzeichnet, fasst diese Zusammenhänge wie folgt zusammen:

Die These vom Kontrollverlust besagt, dass wir zunehmend die Kontrolle über Daten und Inhalte im Internet verlieren. Betroffen ist jede Form der Informationskontrolle: Staatsgeheimnisse, Datenschutz, Urheberrecht, Public Relations, sowie die Komplexitätsreduktion durch Institutionen.

Die Vorstellung von »informationeller Selbstbestimmung«, die viele Menschen haben und die auch rechtlich dokumentiert ist, ist angesichts der Möglichkeiten der Datensammlung, der Datenspeicherung und insbesondere der Datenverknüpfung nicht mehr länger haltbar. »Ein Kontrollverlust entsteht, wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt«, schreibt Seemann (pdf, S. 74). Er gibt dafür zwei Gründe an: Erstens bilden mobile und stationäre Aufzeichnungsgeräte die Welt heute digital ab; es gibt keine Handlung, die nicht zu einem Datensatz führen könnte. Zweitens ist es im Internet praktisch kostenlos möglich, Informationen weiterzugeben. Die Konstruktion des Internets ist dem Schutz von Daten entgegengesetzt, weil sie die Zirkulation von Daten erfordert.

Regierungen versuchen dem Kontrollverlust durch immer restriktivere Gesetzgebung in Bezug auf Internetkommunikation beizukommen. Nach dem Vorbild von China gibt es mittlerweile eine Reihe von Ländern, die Inhalte im Internet blocken und den freien Austausch von Informationen behindern. Die Organisation Reporters Without Borders zählt neben China elf weitere Ländern zu den »Feinden des Internets«, 14 weitere Ländern stehen unter Beobachtung, darunter auch Frankreich, Australien und die Türkei (Reporters Without Borders, S. 2) Bezeichnend ist, dass es in diesen Ländern für Expertinnen und Experten immer noch möglich ist, die Sperren zu umgehen und Informationen zu verbreiten, die Bemühungen zur Kontrolle also auch scheitern, wenn sie von Regierungen mit enormen Aufwand unternommen werden. Das heißt nicht, dass die Zensurbestrebungen nicht verheerende Folgen für die Grundrechte der Menschen in diesen Ländern hätten; aber es zeigt, dass der Kontrollverlust in der Internetkommunikation eine Tatsache ist, die nicht rückgängig zu machen ist.

Bildschirmfoto 2012-12-18 um 11.16.30

Diese Einsicht führt Seemann dazu, den Kontrollverlust zu akzeptieren und mit einem ethischen Konzept der Filtersouveränität zu koppeln:

Die Freiheit des Anderen, zu lesen oder nicht zu lesen, was er will, ist die Freiheit des Senders, zu sein, wie er will. «Filtersouveränität», so habe ich diese neue Informationsethik genannt, ist eine radikale Umkehr in unserem Verhältnis zu Daten.

Praktisch bedeutet das, dass Informationen so mitgeteilt werden sollen, dass andere in der Lage sind, Filter einzusetzen. Zu denken sind Beispielsweise an Werbefilter: Moderne Browser ermöglichen die Installation von Zusatzprogrammen, die Werbung im Internet komplett ausblenden (z.B. AdBlock). Soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und Instragram zwingen User immer stärker dazu, sich auch Werbung anzusehen, indem sie direkt in die Funktionalität der Werkzeuge eingebunden wird. Wer die Dienste nutzen will, muss sich Werbung ansehen. Filtersouveränität wird verhindert.

Würde man Seemanns Überlegungen auf die Schule beziehen, so müsste man Schülerinnen und Schülern basierend auf der Einsicht, dass Lehrpersonen nicht kontrollieren können, was mit ihren Inhalten und Inputs passiert, die Freiheit gewähren, aus dem Informationsausgebot auszuwählen.

Filter allgemein verstanden ermöglichen die Suche nach erwünschten und das Ausblenden von unerwünschten Inhalten. Sie sind deshalb wichtig, weil die Speicherkapazitäten digitaler Medien heute die menschliche Fähigkeit, Daten zu verarbeiten, bei weitem übersteigern. Das zeigt das Potential dieser Entwicklung: Von Lehrerseite her kann jede Redundanz vermieden werden. Lehrvorträge müssten einmal gehalten werden und wären dann immer abrufbar, auffindbar. Dadurch könnten viel mehr interessante Referate zu verschiedenen Themen entstehen, eine Beschränkung auf ausgewählte Themen um Schülerinnen und Schüler nicht zu überfordern, wäre nicht nötig – da sie ja ihre eigenen Filter einsetzen und mit denen Überforderung verhindern. Die Fähigkeit, Filter einzusetzen, stellt eine wesentliche Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien dar.

Wie Jugendliche Privatsphäre verstehen

Jugendliche bauen oft im öffentlichen Raum Gemeinschaften auf: In Shoppingzentren, auf Plätzen, in der Schule. Nur so kann ihr Verständnis von Privatsphäre verstanden werden. Im Folgenden einige Gedanken zum Umgang von Jugendlichen mit Privatsphäre – die hinter das Vorurteil zurückgehen, Jugendliche würden hemmungslos schützenswerte Inhalte publik machen.

86116_12055252_i

Danah boyd versteht Privatsphäre nicht als juristisches Konzept, sondern als eine soziale Norm, die immer wieder neu ausgehandelt wird. Jugendliche kennen selten private Räume, sie teilen Zimmer oder müssen damit rechnen, dass ihre Eltern sich aus verschiedenen Gründen Zutritt zum Zimmer verschaffen. Diese grundlegende Erfahrung führt dazu, dass sie Privatsphäre als Kontrolle des Informationsflusses oder als Kontrolle der sozialen Situation verstehen. Privat sind für Jugendliche die Informationen, von denen sie bestimmen können, wer sie in welchem Kontext erhält und was damit geschieht. Jugendliche sind in Bezug auf ihre Privatsphäre mit paradoxen Verhaltensweisen der Erwachsenen konfrontiert: Einerseits beklagen sie, dass Jugendliche sich nicht um ihre eigene Privatsphäre kümmern würden und Informationen zu freizügig publizierten, andererseits verletzen sie die Privatsphäre von Jugendlichen systematisch, meist in der Absicht, sie zu schützen.

Dabei würde, so boyd, Zugänglichkeit und Öffentlichkeit verwechselt. Jugendliche haben klare Vorstellungen von Vertrauen und vom Umgang mit Informationen; ihre soziale Position sowie die Architektur von Netzwerken hindern sie aber oft daran, den Fluss von Informationen zu kontrollieren. Sie kommunizieren aber in einem für sie klaren Kontext, sie wissen, für wen Informationen oder Daten bestimmt sind und für wen nicht. Jugendliche entwickeln eine Art implizite Ethik des Informationsflusses, können sie aber oft nicht so umsetzen, wie sie das möchten, auch deshalb, weil es sich um Normen handelt, die sie nicht selbst bestimmen können. Man kann das mit einem analogen Beispiel verdeutlichen: Nur weil Eltern das Tagebuch ihrer Kinder lesen könnten, heißt das nicht, dass sie es lesen dürfen. Dasselbe gilt für soziale Netzwerke: Eltern zwingen ihre Kinder oft dazu, ihnen Zugang zu ihren Profilen zu gewähren; Lehrpersonen können den Facebook-Profilen ihrer Schülerinnen und Schüler oft Informationen finden, die klar privat sind. Wenn also Erwachsene sich Zugang zu privaten Informationen verschaffen können, dürfen sie diese Informationen nicht als öffentliche betrachten.

Die Verwechslung von Zugänglichkeit und Öffentlichkeit basiert auch auf technischen Möglichkeiten: Auch in analogen Gesprächen wäre es möglich, private Informationen öffentlich zu machen, aber es würde erstens soziale Normen verletzen und ist zweitens technisch schwierig zu bewerkstelligen. Analoge Kommunikation ist im Normalfall privat und muss mit viel Aufwand öffentlich gemacht werden. Die Struktur der sozialen Netzwerke und die Absichten der Jugendlichen führen aber nach boyd dazu, dass das analoge Muster umgekehrt wird: Sie kommunizieren im Normalfall öffentlich und verwenden ihre Anstrengungen darauf, bestimmte Informationen auszuschließen und nur privat zugänglich zu machen. Die öffentliche Form der Kommunikation meint aber nicht, dass sie alle etwas anginge, sondern vielmehr, dass sie die etwas angeht, von denen innerhalb der bestehenden sozialen Normen erwartet werden kann, dass sie die Informationen zur Kenntnis nehmen.

Für Jugendliche ist es von großer Bedeutung, sichtbar zu sein. Sie sind sich auch bewusst, dass diese Sichtbarkeit mit Nachteilen verbunden ist, und verzichten deshalb auch darauf, alles sichtbar zu machen, sondern nur bewusst gewählte Inhalte. Das lässt sich am Umgang mit Bildern gut ablesen, die Jugendliche oft auf ihren Profilen publizieren, aber nur dann, wenn sie darauf so erscheinen, dass sie mit ihrer Erscheinung einverstanden sind. In der JAMES-Studie 2012 gaben fast 40% der Jugendlichen an, dass sie es schon erlebt haben, dass ohne ihre Zustimmung Bilder veröffentlicht wurden; wiederum rund 40% davon haben das als störend empfunden. Bilder entstehen in einem Kontext, soziale Normen legen fest, wie sie zugänglich gemacht werden dürfen. Nur weil Jugendliche sich oft digital zeigen, heißt das nicht, dass auch andere sie zeigen dürften oder ihre Inhalte weiterverbreiten dürfen. Jugendliche müssen ihr Auftreten, auch digital, selber bestimmen können. Die Verletzung der Privatsphäre erfolgt in diesem Bereich aber nicht durch Peers, auch Eltern veröffentlichen oft Bilder von Jugendlichen, ohne dafür eine Erlaubnis einzuholen.

1049001_6713794_b

Öffentliche Kommunikation erfordert zusätzliche Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre, die Jugendliche oft kunstvoll einsetzen oder gar erfinden. Es handelt sich um technische Möglichkeiten, aber auch um den Einsatz von Codes, von Täuschungen oder die Erfordernis von Vorwissen. So können beispielsweise Songtexte oft dazu dienen, eine Aussage zu machen, die nur Jugendliche, die den Song und seinen Kontext verstehen, entschlüsseln können. So ist es möglich, für alle sichtbar zu sprechen, die Bedeutung des Gesagten aber nur ausgewählten Adressatinnen und Adressaten zugänglich zu machen.

Die JIM-Studie 2012

Ende November ist die JIM-Studie 2012 veröffentlicht worden, mit der »Jugend, Information, (Multi-) Media« in Deutschland untersucht werden, also das Mediennutzungsverhalten Jugendlicher. Befragt wurde eine repräsentative Auswahl von über 1200 Jugendlichen, die Studie erscheint bereits zum 15. Mal.

Zusammenfassendes Ergebnis in Bezug auf die Mediennutzung ist eine gewisse Stabilität – man könnte auch sagen, eine Sättigung ist erreicht:

Die Nutzung der eher traditionellen Medien wie Radio und Fernsehen als auch der Gebrauch der „neuen Medien“ wie Internet und Handy erweist sich (hinsichtlich der Zuwendung) als stabil. (12f.)

Diese Mediennutzung verteilt sich wie folgt auf die Geschlechter und Medienarten:

Bildschirmfoto 2012-12-01 um 15.59.52

In Bezug auf die Nutzung des Internets sind folgende Daten relevant: Mehr als 85% der Jugendlichen haben einen eigenen Internetzugang (im Haushalt fast alle), 68% nutzen das Internet täglich, über 90% mehrmals pro Woche, knapp 90% halten die Nutzung des Internets für »wichtig« oder »sehr wichtig« – Musik zu hören ist aber wichtiger. Die Bedeutung des Internets erreicht einen Höhepunkt mit 16 und 17 Jahren und nimmt danach leicht ab.

In Bezug auf den Bildungshintergrund stufen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sowohl Printmedien und Bücher wie auch das Internet als wichtiger ein als ihr Alterskollegen in Haupt- und Realschule.

Bei widersprüchlichen Informationen genießt das Internet das geringste Vertrauen, wie folgende Grafik zeigt. Auch hier gibts es Bildungsunterschiede, vor allem in Bezug auf den Stellenwert des Fernsehens:

Bildschirmfoto 2012-12-01 um 16.05.13

Jugendliche nutzen das Internet rund 130 Minuten pro Tag, leicht weniger als 2011, je höher der Bildungsgrad, desto weniger lang nutzen Jugendliche das Internet (Gymnasium 124 Minuten, Hauptschule 157 Minuten). Der Hauptgrund für die Nutzung ist bei allen Jugendlichen die Kommunikation:

Bildschirmfoto 2012-12-01 um 16.08.53

Unter Kommunikation verstehen Jugendliche hauptsächlich Social Media. Auch hier nimmt die Nutzung mit dem Alter zu – und dann kurz vor 20 wieder ab. Rund 80% der Jugendlichen sind täglich oder mehrmals pro Woche auf Social Media aktiv. Hier macht die Studie aber eine große Stagnation aus:

Dass sich das Internet für Jugendliche zu einem echten „Mitmach-Medium“ entwickelt hat, kann auch im Jahr 2012 nicht bestätigt werden. Eigene Inhalte werden nur von einem Fünftel regelmäßig erstellt (ohne Communities), wobei auch hier der Löwenanteil auf das Schreiben von Beiträgen in Foren und das Einstellen von Bildern und Videos entfällt. Keine der Alters- oder Bildungsgruppen tritt hier besonders in Erscheinung und auch die geschlechtsspezifische Betrachtung zeigt keine Besonderheiten. (38)

Bildschirmfoto 2012-12-01 um 16.13.08

Social Media bedeutet für Jugendliche fast ausschließlich Facebook. Dort haben Jugendliche im Durchschnitt 270 »Freunde«, deutlich mehr als 2011 (200) und 2010 (160).

Dort werden hauptsächlich Nachrichten verschickt:

Bildschirmfoto 2012-12-01 um 16.14.14

Fast die Hälfte der Jugendlichen nutzt das Internet täglich oder mehrmals pro Woche für Schule und Ausbildung.

Die JIM-Studie untersucht auch Cybermobbing – mit einer recht offenen, unklaren Frage:

Bildschirmfoto 2012-12-01 um 16.12.25

 

Die Schule leistet, das zeigt die Studie auch, einen wichtigen Beitrag zum Aufbau von Medienkompetenz; vor allem auch bei jüngeren Schülerinnen und Schülern:

Die Ergebnisse zeigen, dass die Aufklärung im Bereich Medienkompetenz von Jugendlichen durchaus angenommen wird und sich sowohl in ihrem Medienwissen als auch im konkreten Nutzungsverhalten niederschlagen kann. (60)

Bildschirmfoto 2012-12-01 um 16.17.05

 

Das Fazit der Studie weist vor allem auf die steigende Nutzung von mobilen Internetzugängen hin:

Die Ergebnisse der JIM-Studie 2012 zeigen, dass die Medienwelt der Jugendlichen – trotz großer Kontinuität zum Beispiel bei der Nutzung von Fernsehen, Radio und Büchern – auch sehr dynamisch ist. Die aktuell stark ansteigende Nutzung von mobilem Internet macht deutlich, dass auch hier Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, die dem Jugendschutz und den Bedürfnissen von Jugendlichen gerecht werden. Während bei Computern technische Vorkehrungen, Jugendschutzprogramme und Filter zumindest einen gewissen Schutz vor ungeeigneten Inhalten gewährleisten, gilt es entsprechende Möglich- keiten für Smartphones und die mobile Internetnutzung noch zu entwickeln.  (67)

 

Digitaler Dualismus

Der Begriff Dualismus taucht in der Diskussion des Körper-Geist-Problems regelmäßig auf: Die naive, intuitive Position besagt, dass Menschen einen Körper und einen Geist haben, die nebeneinander existieren. Die Frage, wie man sich eine Interaktion zwischen materiellem Körper und nicht-materiellem Geist vorstellen müsse, stiftet dabei große Verwirrung. Die Verwirrung könnte gelöst werden, indem man eine so genannt monistische Position einnimmt: Es gibt nur den Körper, der in der Lage ist, so etwas wie geistige Phänomene hervorzubringen. Oder es gibt nur den Geist, der uns die Illusion gibt, einen Körper zu haben und in einer physisch manifestierten Realität zu leben.

Grafik zum Leib-Seele-Problem, Ausschnitt. Wikimedia.

Ausgehend von dieser Beschreibung kann man sich nun dem Problem der virtuellen und der realen Welt zuwenden. Auch hier gibt es eine naive dualistische Position: Sie besagt, dass es neben der realen Welt eine virtuelle Scheinwelt gibt. Eine nahe liegende Kritik an Social Media verwendet diese Art von Dualismus, um festzuhalten, dass Facebook-Freunde keine echten Freunde seien, Konversationen auf Social Media keine echten Gespräche (vgl. z.B. Sherry Turkle), Aktivitäten in der virtuellen Sphäre generell eine Ablenkung von dem, was in der Realität wichtig ist.

Der Dualismus ist auch in Bezug auf unsere Persönlichkeit eine verbreitete Position: Er gibt vor, wir hätten eine feste Identität, die sich in der physischen Welt manifestiert (über unser Aussehen, unser Verhalten, unsere Eigenschaften etc.). In der virtuellen Welt präsentieren wir dann Facetten dieser Identität, eigentliche Zerrbilder – häufig versehen mit Pseudonymen oder Avataren. Auch hier wird schnell eine Bedrohung unserer Identität festgestellt: Durch die virtuelle Zersplitterung könnten wir uns verlieren, vergessen, wer wir wirklich sind und was unsere Bedürfnisse sind.

Ich möchte der Vorstellung des digitalen Dualismus nun Alternativen gegenüberstellen. Eine Möglichkeit wäre es, festzustellen, dass das, was wir Realität nennen, in einem hohen Grad virtuell ist. Unser Hirn konstruiert grundsätzlich seine Außenwelt – genau so, wie das ein Computer tut. Wir sehen die Welt nicht als das, was sie ist – sondern wir stellen uns eine Welt vor und passen das Modell so an, dass unsere Interaktionen mit der Welt möglichst effizient sind. Genau so ist unsere Persönlichkeit in hohem Masse virtuell: Sie bestand nie aus einer Einheit, sondern wird bestimmt durch Erzählungen, Vorstellungen, Fiktionen, Auslassungen und Hinzufügungen. Als soziale Wesen präsentieren wir uns immer anderen Menschen – ganz ähnlich, wie das auf Facebook-Profilen passiert.

Der Künstler Roland Wagner Bezzola präsentiert sich auf Facebook. Stand 7. November 2012.

Man kann aber auch eine andere Perspektive einnehmen – wie das Nathan Jurgenson tut. Er spricht davon, dass das Virtuelle Teil der Realität ist – und schon immer war. Digitale Technologien ermöglichen nun einfach eine erweiterte Realität, eine Augmented Reality. Seine These lautet:

This speaks to a fundamental way of conceptualizing and theorizing the Internet specifically, and spaces and places generally: that digital and material realities dialectically co-construct each other. For example, social networking sites (e.g., MySpace, Facebook) are not separate from the physical world, but rather they have everything to do with it, and the physical world has much to do with digital socializing. No longer can we think of a “real” world opposed to being “online”. Instead, we need to think with a paradigm that centers on the implosion of the worlds of bits and atoms into the augmented reality that has seemingly become ascendant.
[Übersetzung phw:] Daraus kann man ableiten, wie eine Konzeptionalisierung und eine Theorie des Internets – und allgemeiner von Räumen und Orten – aussehen müsste: Digitale und physische Realitäten konstruieren sich dialektisch gegenseitig. Nehmen wir als Beispiel soziale Netzwerke wie MySpace und Facebook: Sie sind nicht von der realen Welt zu unterscheiden, sondern haben damit zu tun – genau so wie die physische Welt mit digitalisierten sozialen Prozessen zu tun hat. Wir können das »Reale« nicht länger als Gegensatz zu »Online« denken. Stattdessen brauchen wir ein Paradigma, das die Implosion der Welt der Bits und Atome in eine erweiterte Realität berücksichtigt.

Um ein konkretes Beispiel zu machen: In den USA ist es bei WG-Besichtigungen zunehmend üblich, dass Bewerberinnen und Bewerber ihr Facebook-Profil angeben müssen, damit überprüft werden kann, ob das, was sie von sich behaupten, wirklich stimmt. Damit trägt die virtuelle Sphäre dazu bei, eine reale Identität zu konstruieren. Ähnlich stellen sich Menschen der Netzgemeinde bei Treffen in der realen Welt häufig mit ihrem Twitter-Handle vor: Ihre Identität kann nur über ihre Profile auf sozialen Netzwerken markiert werden.

So überzeugend diese Feststellungen sind, so wichtig ist es, terminologisch genau zu bleiben. Giorgio Fontana hält fest, dass die Opposition oder Dualität zwischen einer digitalen Sphäre und einer realen nicht haltbar ist – das heiße aber nicht, dass man nicht zwischen online und offline oder digital oder analog unterscheiden könne. Zudem müsse man verschiedene Perspektiven unterscheiden:

”Real” can mean “belonging to reality” (ontology) but also “authentic” (a real friend – sociology, folk psychology, etc.). Jurgenson is right when he says that digital is not opposed to real in both senses: a conversation on Facebook or on Skype is not less real neither less authentic than a face-to-face one. It’s just different; really different: while rejecting the naive idea of it being inauthentic or unreal, we should also consider carefully what changes between these two ways of interacting.
[Übersetzung phw:] »Real« kann heißen »zur Realität gehörend« (ontologisch), aber auch »authentisch« (ein realer Freund – Soziologie, Volkspsychologie etc.). Jurgenson hat Recht, wenn er sagt, das Digitale sei dem Realen in beiden Bedeutungen nicht entgegengesetzt: ein Gespräch auf Facebook oder Skype ist nicht weniger real und nicht weniger authentisch als face-to-face-Gespräch. Es ist einfach anders; wirklich anders: Während die naive Sichtweise, es sei nicht authentisch oder nicht real zurückzuweisen ist, sollte man genau prüfen, was die beiden Arten der Interaktion unterscheidet.

Die Bedeutung dieser Analyse und dieser Fragen wird offenbar, wenn man sich vor Augen hält, was Luciano Floridi konstatiert hat:

[W]e are probably the last generation to experience a clear difference between offline and online.

Digitaler Dualismus wird verschwinden, weil die beiden Sphären sich nicht mehr unterscheiden lassen. Wir werden die Augen durch Brillen sehen, die unser Modell von der Realität mit Informationen ergänzen – und in der virtuellen Sphäre unsere Städte, Wohnungen und Mitmenschen auf eine ganz natürliche Art und Weise erleben. Das heißt nicht, dass wir über diese Erfahrungen und Seinsweisen nicht nachdenken sollten.

reality is virtual enough – Juan Antonio Zamarripa, society6

Zur Bedeutung von »social« in Social Media

Versucht man den Begriff »Social Media« wörtlich zu übersetzen, so wirkt »soziale Medien« sofort schief. Handelt es sich um »soziale« Medien – also solche, die sich auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt beziehen, ihn fördern, auf ihn einwirken? Das stimmt alles nicht ganz.

In seiner Social Media-Kritik »Networks Without a Cause« hielt Geert Lovink 2011 fest, »the social« sei heute nur noch ein Feature, während lange Zeit undenkbar gewesen sei, »social« ohne moralische Konnotation zu verwenden: Das Soziale war ein Problem oder ein Ideal. Heute könne man aber Gemeinschaft (»community«) und »the social« problemlos trennen: »social« sei, so Lovink, heute nur noch eine Eigenschaft technologischer Prozesse, ein Teil von Programmen, die Menschen auf Plattformen festhielten, welche ihre Zeit in Anspruch nehmen, ohne gesellschaftliche Strukturen auszubilden oder Gemeinschaften herzustellen.

Diese Kritik am Begriff »social« präzisieren Nathan Jurgenson und Withney Erin Boessel in einem kurzen Essay. Sie unterscheiden zwei Begriffe: »social« und »Social«.

  • social
    Der erste Begriff, der Alltagssprache entnommen, bedeutet so viel wie gesellschafts- oder gemeinschaftsbezogen. Es betrifft alles, was sich zwischen Menschen abspielt: direkt oder indirekt, on- oder offline.
  • Social
    Der zweite Begriff hat eine viel engere Bedeutung: Er meint Interaktionen, die messbar, quantifizierbar, protokollierbar und benutzbar sind. Menschliches Verhalten, das in Datenbanken abgebildet werden kann, ist »Social«. Das hat im deutschsprachigen Raum auch Christoph Kappes schon so formuliert: »’Social‘ meint, dass menschliche Beziehungen maschinell abgebildet werden (zur Zeit noch naiv) und zur Informationsselektion und -verbreitung genutzt werden.«
Gordon Dam, , Australien. Wikimedia/JJ Harrison, CC BY-SA 3.0

Die Autorin und der Autor verwenden für ihre Unterscheidung ein Bild. »social« ist wie der Wasserkreislauf: Es regnet, es bilden sich Bäche, Flüsse; die wiederum bilden Seen und Meere – und von dort verdunstet das Wasser und bildet Wolken. »Social« ist nun ein Stausee: Eine Wassermasse, die eine spezifische Funktion hat (Energie herzustellen) und – ohne das selber zu merken – künstlich gebildet worden ist.

Die spezifische Funktion von »Social« und damit von Social Media ist den Autoren zufolge Arbeit gratis verfügbar zu machen. Das Geschäftsmodell des Web 2.0 sei es, Plattformen durch die von Usern generierten Inhalte attraktiv zu machen – also durch Gratisarbeit. Entsprechend bedrohlich wirkten nicht messbare Aspekte des »sozialen« Internets, die dann – wie das kürzlich Alexis Madrigal getan hat – »dark social« genannt werden.

Geht man noch einen Schritt weiter, so kann man mit Bert te Wildt konstatieren, dass sich »[d]as Mediale vom Individuellen zum Kollektiven hin entwickelt«: War das erste Medium die Stimme des Menschen, gebunden an seinen Körper und seine Individualität, so ist das Medium Internet heute völlig unabhängig von Körpern und Individuen – und damit auch von ihren Beziehungen. Es braucht keine Individuen mehr, um soziale Netzwerke herzustellen – die sozialen Netzwerke schaffen vielmehr Individuen. So ist es z.B. bei gewissen WGs in den USA üblich, dass an einem Zimmer Interessierte mit einem Facebook-Profil beweisen müssen, dass es sie tatsächlich gibt.

JAMES-Studie 2012

Die ZHAW hat 2010 eine große Studie zum Mediennutzungsverhalten von Jugendlichen veröffentlicht, die so genannte JAMES-Studie (Jugend, Aktivitäten, Medien – Schweiz). Befragt wurden über 1000 Jugendliche zwischen 12 und 19.

Dieses Jahr wurde ein zweiter Durchgang durchgeführt. Die Studie wird im Januar 2013 publiziert, eine Präsentation mit ersten Untersuchungsergebnissen ist auf der JAMES-Seite aber schon verfügbar (pdf). Es handelt sich um Zwischenergebnisse, die am 24. Oktober publiziert wurden.

Die Ergebnisse untersuchen das Freizeitverhalten der Jugendlichen – mit Medien und ohne. Der Fokus bei der Ergebnissen liegt darauf, dass sich die Nutzung der Handys verändert hat – die wesentlichen Aspekte können der folgenden Grafik entnommen werden:

Handynutzung im Vergleich 2010-2012. JAMES Studie, ZHAW.

 

Rezension Daniel Miller: Das wilde Netzwerk.

Beim Hören der differenzierten Kontext Reportage »Fördern soziale Medien Einsamkeit?« von DRS 2 (David Zehnder) bin ich auf Daniel Millers Buch »Das wilde Netzwerk. Ein ethnologischer Blick auf Facebook« gestossen, das dieses Jahr im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Im Folgenden eine Rezension, in der ich besonders auf Millers Thesen zu Facebook eingehe.

Als Ethnologe schreibt der Londoner Miller grundsätzlich aus einer unaufgeregten Haltung. Er beschreibt Gesellschaften und ihre Beziehungsstrukturen. Für ihn ist Facebook Teil einer Kultur und muss als solcher untersucht werden – im Kontext des Lebens der Menschen, die Facebook nutzen. Diese Kontext findet Miller auf der karibischen Insel Trinidad. Im ersten Teil seines Buches erzählt er sieben Geschichten von Menschen, die auf Trinidad Facebook nutzen. Diese Geschichten sind narrativ konstruiert, wie Miller selber einräumt, es sind nicht Dokumentationen oder Aufzeichnungen, sondern Verdichtungen von Verhaltensweisen. Die Geschichten zeigen zunächst, dass eine Trennung von virtueller und realer Welt kaum haltbar ist: Die virtuelle Welt von Facebook ist ein Teil des realen Lebens von Menschen. Das lässt sich besonders gut verstehen, weil Miller bewusst eine uns fremde Kultur präsentiert.

Er bestätigt mit seinen qualitativen Untersuchungen seine Prämisse, dass

Facebook [sich] stets in regionalen und partikularen Verwendungsweisen realisiert und nirgendwo in einer idealtypischen »Reinform« vorkommt. Die Menschen in der Türkei haben es mit einem ganz anderen Netzwerk zu tun als die in Indonesien. (137)

Zudem gewinnt er aber auch weit reichendere Erkenntnisse, die er in einem analytischen Teil verallgemeinert. Hier seine Thesen mit kurzen Kommentaren:

  1. Facebook erleichtert das Führen von Beziehungen (138)
    Facebook ist einerseits effizient, andererseits befreit es die Menschen von sozialen Konventionen, die mit ihnen nicht besonders gut klar kommen. Wer Hemmungen hat, Menschen anzusprechen oder sich nicht sicher ist, ob ein direkter Kontakt angebracht ist, kann Facebook als »Puffer« (139) nutzen. Die Gefahr, dass virtuelle Beziehungen oberflächlich werden, hält Miller für klein: Bedeutungslose Beziehungen werden nicht gepflegt, auch wenn entsprechende Menschen in sozialen Netzwerken als Kontakte verzeichnet sind.
    Am Beispiel einer Studie von Ilana Gershon (»Breakup 2.0«) zeigt Miller, dass die Tatsache, dass Beziehungen öffentlich geführt werden (und auch beendet werden können), Unsicherheiten schaffen kann und ungewohnte Reaktionen auslösen kann – ein leichter Einwand gegen die These.
  2. Facebook hilft den Einsamen (144)
    Facebook kann Benachteiligungen von Menschen beheben – nicht nur von sozial weniger akzeptierten, sondern auch von Behinderten, von alten Menschen oder Müttern (Vätern?), die Familienarbeit leisten und so weniger Möglichkeiten haben, ihr soziales Netzwerk zu pflegen.
  3. Facebook ist eine Art Meta-Freund (146)
    Wenn ein Freund jemand ist, an den man sich in schwierigen Situationen wenden kann, so vermittelt Facebook solche Freundschaften: Zu jeder Zeit und in jeder Situation ermöglicht mir das Netzwerk, mit jemandem in Kontakt zu treten. Es ist absolut zuverlässig – birgt aber die Gefahr, dass mich die Aktivität anderer in einer schwierigen Situation deprimieren kann. Es ist auch eine sehr seltsame Form von Freundschaft, die nicht auf alle meine Inputs reagiert und völlig virtuell ist, eben: ein Meta-Freund.
  4. Facebook verändert unsere Beziehung zur Privatsphäre (149)
    Eines der Portraits im Buch präsentiert Ajani, eine Frau, die ihr »intensives Privatleben unbedingt für sich behalten möchte« (151). Gleichzeitig nutzt sie aber Facebook regelmässig, sie ist auch sonst im Web 2.0 aktiv: Spielerisch experimentiert sie mit Identitäten, was ihr gerade dabei hilft, ihr Privatleben für sich zu behalten. Damit zeigt Miller, dass die Bedrohung der Privatsphäre, die Facebook immer attestiert wird, auch nur eine Seite der Medaille ist. Korrekter ist es, davon zu sprechen, dass sich die Vorstellungen von Öffentlichkeit und Privatheit verschieben.
  5. Facebook verändert unsere Selbstdarstellung und unser Selbstverständnis (155)
    Miller zeigt, dass die Vorstellung eines »wahren Ichs« und »weniger wahren« Online-Versionen hinfällig ist. Es ist kulturell sehr unterschiedlich ausgeprägt, was das »wahre Ich« ist – soziale Medien können darauf einen Einfluss ausüben, und zwar nicht nur einen negativen. Wichtig ist, dass Facebook »sichtbar« macht, man wird selber zum Gegenstand – ein wichtiger Faktor in Beziehungen und in der Ausbildung einer Identität. »Es wäre […] denkbar, dass es für viele Menschen eine Notwendigkeit ist, sich selbst und ihr Verhalten von einer höheren Instanz absegnen oder verdammen zu lassen. Sie wünschen sich eine übergeordnete moralische Beurteilung ihres Tuns und Lassen – und nutzen Facebook […]« (161).
  6. Mit Facebook enden zwei Jahrhunderte der Fluch aus Gemeinschaften (161)
    Urbanisierung, Industrialisierung und Globalisierung haben zu einer Auflösung von Gemeinschaften geführt. Facebook steht diesem Trend entgegen. Auch wenn Kritiker einwenden, Facebook führe dazu, dass Menschen weniger Zeit miteinander verbringen, gibt es dafür keine Belege, gerade Millers Studie widerspricht diesem Befund. Wer viele soziale Kontakte hat, schätzt die indirekte Form der Kommunikation auf Facebook, wer einsam ist, kann durch FB zu Begegnungen kommen.
  7. Facebook erinnert uns an die Kehrseiten der Gemeinschaft (166)
    Gemeinschaften sind nichts Positives: Sie erlauben Ausschlüsse, Strafen, Streitigkeiten, körperliche Gewalt, Rache etc. Das wird auf FB sichtbar – etwas, was wir oft zu vergessen scheinen. Diese Sichtbarmachung ist nichts Negatives, kann sogar positive Effekte haben, wie Miller festhält.
  8. Auch Facebook kennt Normen (169)
    Facebook ist kein Raum, in dem soziale oder moralische Normen ausser Kraft gesetzt sind – vielmehr gibt es dieselben Normen in einer anderen, eigenen Form.
  9. Facebook ist keine politische Wunderwaffe (171)
    Auch dieser Punkt ist eher trivial: Politisch kann Facebook unter bestimmten Bedingungen etwas bewegen, aber auch etwas behindern.
  10. Facebook verändert unser Verhältnis zur Zeit (176)
    Facebook setzt uns, gerade durch die Timeline-Darstellung, in eine Beziehung mit unserer Vergangenheit und der Vergangenheit unserer Gemeinschaft. Zudem beschleunigt es Kommunikationsprozesse und macht Kommunikation unabhängig von der Tageszeit. Es beeinflusst aber auch die kulturellen Ausprägungen der Zeit (z.B. in Rituale), weil diese Rituale sich auch auf Facebook abspielen, wo eine Art Sozialkontrolle stattfindet, die das Ausbrechen aus konventionellen Zeitvorstellungen hemmt.
  11. Facebook verändert unsere Beziehung zum Raum (180)
    Gerade die Auswirkungen von Migrationsprozesse werden mithilfe von Facebook gedämpft, indem die Bedeutung räumlicher Distanzen geringer wird.
  12. Facebook verändert das Verhältnis von Arbeit und Freizeit (181)
    Facebook findet zu einem großen Teil am Arbeitsplatz statt – betrifft aber das traditionellerweise der Freizeit angehörende Sozialleben. Umgekehrt – und dieser Effekt mag größer sein – dringt mit Facebook und dem mobilen Web die Arbeit auch in den abgegrenzten Raum des Privatlebens ein.
  13. Facebook ist mehr als eine kommerzielle Webseite (184)
    Facebook ist zwar ein kommerzielles Produkt – was aber die Menschen damit machen, nicht. Menschen lehnen rein kommerzielle Beeinflussung ab, sie verfolgen eigene Zwecke mit der Technologie – nicht ohne aber auch sich auch unbewusst für wirtschaftliche Zwecke einspannen zu lassen.
  14. Facebook ist ein Teil einer neuartigen Medienvielfalt (189)
    Miller nennt die Medienvielfalt Polymedia: »In einem polymedialen Umfeld erhält jene Technologie den Vorzug vor einer anderen, die den Absichten des Nutzers entgegenkommt, gang gleich, ob es ihnen darum geht, Gefühle zu zeigen, oder darum, zu verbergen, jemandem in die Augen zu schauen oder seine Stimme zu hören, Streitigkeiten auszutragen oder ihnen lieber aus dem Weg zu gehen, ein Privatgespräch zu führen oder ein großes Publikum zu erreichen« (190).
  15. Facebook ist ist das Internet von morgen (192)
    Facebook zeigt Tendenzen, die das Internet bewegen: Es wird sozialer, es wird lokaler, es erschwert Anonymität, es betont Gemeinschaften, es weitet soziale Beziehungen aus und macht sie sichtbarer. Diese Tendenzen kann man an Facebook ablesen – und sie werden bleiben, auch wenn Facebook verschwindet, so Millers Behauptung.

Miller betrachtet im Schlusswort Facebook als ein konservatives Netzwerk, weil es uns dabei hilft, Beziehungen zu den Menschen zu führen, die uns nahe stehen. Diese These zeigt er an einer dichten ethnologischen Untersuchung, in die er im zweiten Teil des Buches viele theoretische Betrachtungen einfließen lässt, die von seiner enormen Fachkenntnis und Belesenheit zeugen. Eine lohnenswerte Lektüre, weil keine voreiligen Schlüsse gezogen und die Neutralität des Blickes möglichst lange aufrecht gehalten werden.

Beeinflussung durch Social Media

Ein großes Facebook-Experiment, dessen Resultate in der renommierten Fachzeitschrift Nature publiziert wurden, ist schon aufgrund seiner Dimension erstaunlich: 61 Millionen Menschen nahmen daran teil. Das Experiment von James Fowler und seinem Team zeigt so, dass Social Media Untersuchungen ermöglicht, die vor dieser Vernetzung undenkbar gewesen wären.

Worum ging es im Experiment? Mit einem eingeblendeten Banner wurden rund 60 Millionen aufgefordert, wählen zu gehen – und zwar bei den Kongresswahlen 2010 in den USA. Sie sahen zudem auch Freunde, die bereits abgestimmt haben und konnten auf einen Link klicken, mit dem sie wiederum Freunden zu verstehen geben konnten, dass sie abgestimmt haben, wie auf dem Bild erkennbar ist. Je rund 600’000 Facebook-User sahen entweder nur das Banner (ohne Freunde) oder nichts – das die beiden Kontrollgruppen.

Die Erkenntnisse aus dem Experiment sind die folgenden:

  • Nur wenn Freunde eingeblendet werden, ist ein Einfluss erkennbar. Das Banner ohne Freunde ist von der Wirkung her identisch wie kein Banner.
  • Das Experiment erhöhte die Wahrscheinlichkeit, wählen zu gehen, um 0.4 Prozent. Es brachte 300’000 Menschen dazu, wählen zu gehen, die sonst nicht wählen gegangen wären.
  • Einfluss üben nur die engen Freunde aus, also nur 10 der 150 FB-Freunde, mit denen man sich aktiv austauscht.
  • Wichtiger als die direkte Beeinflussung durch das Banner ist der Ansteckungs- oder Netzwerkeffekt, der über den direkten Austausch mit Freunden läuft – das Banner löst also einen indirekten Weiterleitungseffekt aus, der – so schätzen die Forscher – vier mal stärker ist als der direkte.

Fowler sagte zum letzten Punkt:

Man wird nicht nur beeinflusst von den Nachrichten, die man selbst liest, sondern auch von den Nachrichten, welche die eigenen Freunde lesen. Der wichtigster Treiber für Verhaltensänderungen ist nicht die Nachricht, sondern das große soziale Netzwerk. Die Erforschung sozialer Beeinflussung kann dramatische Auswirkungen auf Produkte, Politik und die öffentliche Gesundheit haben.

Diese Effekte müssen nun genauer untersucht werden. Fowler glaubt selbst daran, dass nur positive Nachrichten einen Einfluss haben – man grenze sich von Freunden ab, die einen negativen Einfluss auf einen ausüben wollen, so der Forscher.

Interessant ist, dass Facebook selbst am Experiment beteiligt war – und die Erkenntnisse von Fowler in seinen neuen mobilen Werbeeinblendungen gekonnt nutzt. Dort werden nämlich Werbeseiten angezeigt, die von FB-Freunden ein »like« bekommen haben – als handle es sich um einen regulären Eintrag im Facebook-Stream.

Mobile Facebook Werbung, September 2012.