Matur / Abitur – zum Sinn isolierter Prüfungen in einer vernetzten Welt

Fotoasdfasdf

Ein typisches Bild für Schweizer Gymnasien seit Mitte Mai: Die Abschlussklassen schreiben Maturprüfungen. Rund fünf Mal setzen sie sich vier Stunden in ein Schulzimmer, geben alle Hilfsmittel ab und brüten über Aufgaben in Mathematik, Deutsch, Fremdsprachen sowie Vertiefungsfächern.

Die Prüfungen sind im doppelten Sinne isoliert: Sie gehören nicht zu einer Lernumgebung (geprüft wird »alles«) und sie werden von einzelnen Menschen geschrieben. Die Frage muss erlaubt sein: Ist das sinnvoll? Einerseits: Sind die Resultate der Prüfung aussagekräftig in Bezug auf das zukünftige Lernverhalten von Schülerinnen und Schüler? Oder können sie etwas über die Leistungen am Gymnasium aussagen? Geben sie den Lernenden Rückmeldungen über ihre Stärken und Schwächen?

Zunächst: Die Prüfungen haben aufgrund ihrer Tradition einen hohen symbolischen Wert. Auch Einstein hat eine Maturprüfung geschrieben und an der Maturfeier sagen schlaue Schriftsteller, gewiefte Wirtschaftsführer und ab und zu auch eine Frau salbungsvolle Worte zu den Maturandinnen und Maturanden, die sich in den Bänken langweilen und darauf warten, endlich ans Mittelmeer fliegen zu können. War schon immer so, soll daher auch immer so bleiben.

Die Symbolik überlagert auch den realen Effekt der Prüfungen: für 90 bis 95% der Schülerinnen und Schüler ist vor den Prüfungen klar, dass sie sie bestehen werden. Der Modus ist so ausgelegt, dass nur die Schwächsten wirklich geprüft werden, die meisten anderen können weder was gewinnen noch etwas verlieren. Im Zeugnis, das später noch eingesehen werden kann, sind die Prüfungen unsichtbar. Die Geprüften wissen oft nicht, welche Note sie in welcher Prüfung erhalten haben, weil diese verrechnet und gerundet werden.

Zurück zu den Prüfungen selbst und ihrer technischen Durchführung: Seit ein paar Jahren arbeiten ganzen Klassen mit Laptops oder Tablets. Diese dürfen dann zuweilen auch an Prüfungen eingesetzt werden – allerdings nur, wenn sicher gestellt werden darf, dass eine Vernetzung oder ein Zugriff aus Internet verhindert werden kann. Schulen geben so vor, den aktuellen Stand der Technik zuzulassen, allerdings völlig aus dem sozialen Kontext gelöst. Sie machen aus Laptops und Tablets das, was PCs in den 80er-Jahren waren. Der aktuelle Stand der Technik ist also letztlich der vor von 25 Jahren.

Kommt hinzu: Schon vor dem Internet sind projektbezogene Arbeiten in Teams in der Arbeitswelt das vorherrschende Paradigma geworden. An Schulen hat diese Arbeitsform auch Einzug gehalten: Aber in den wenigsten Fällen so, dass das die Vorstellung einer isolierten Prüfung auch nur ansatzweise bedroht worden wäre.

So haben wir, wie im unten stehenden Beispiel, an Prüfungen oft nette Aufgaben, clever und sorgfältig ausgedacht, durchaus unterhaltsam für die Prüfenden – aber ohne jeden Bezug zu einer Aufgabe, die in der Arbeitswelt relevant sein könnte. Wer schreibt heute professionell Texte, ohne sie zu überarbeiten, gegenlesen zu lassen, zu recherchieren oder Input von anderen einzuholen?

Maturprüfung 2011, Deutsch Kantonsschule Wettingen, Aufgabe 3 von 4.
Maturprüfung 2011, Deutsch Kantonsschule Wettingen, Aufgabe 3 von 4.

Was schlage ich also vor? Meine Lösung wäre ganz einfach. Während der vier oder mehr Jahre am Gymnasium arbeiten die Schülerinnen und Schüler mit Portfolios in jedem der Hauptfächer (vgl. diese Anleitung der Universität Zürich). Diese Arbeit wird sorgfältig eingeführt und immer wieder überprüft. Die Abschlussprüfung besteht in einem Gespräch über das Portfolio, bewertet wird zudem ein schriftlicher Kommentar zum Portfolio, in dem auch gewisse Portfolioarbeiten vorgestellt werden müssen, die dann ebenfalls in die Prüfungsresultate einfließen.

Aber – so wird man einwenden – dann kann es sein, das ein Maturand oder eine Maturandin kein Integral lösen kann, nie einen Caesar-Text selbst übersetzt hat und sich auch die Deutschbücher von jemand anderem lesen lässt?

  1. Ja. Es kann auch heute schon so sein. Wer über ein gebildetes Umfeld und genügend Geld verfügt, erhält heute eine Matur. Ohne wenn und aber.
  2. Auch Ingenieure müssen heute keine Integrale mehr lösen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Menschen Kompetenzen selbst haben müssen – und schon gar nicht, welche.

Die Maturprüfung gibt vor, es sei klar, was man wissen muss und wie man es wissen muss. Diese Klarheit hat sich längst aufgelöst. Das sieht man schon allein daran, wie unterschiedlich diese Prüfungen um deutschen Sprachraum sind, obwohl die Arbeiten, welche die so ausgebildeten und geprüften Menschen dann erledigen, ganz ähnlich sind.

Das Google-Urteil: Recht auf Vergessen oder eine Welle der Zensur?

Letzte Woche hat der Europäische Gerichtshof EuGH ein für Google bedeutsames Urteil erlassen. Die Schlüsselpassage lautet wie folgt:

Durch die Tätigkeit einer Suchmaschine können die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und Schutz personenbezogener Daten somit erheblich beeinträchtigt werden, und zwar zusätzlich zur Tätigkeit der Herausgeber von Websites; als derjenige, der über die Zwecke und Mittel dieser Tätigkeit entscheidet, hat der Suchmaschinenbetreiber daher in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass […] ein wirksamer und umfassender Schutz der betroffenen Personen, insbesondere ihres Rechts auf Achtung ihres Privatlebens, tatsächlich verwirklicht werden kann.

Kurz: Google muss Einträge entfernen, die den Schutz des Privatlebens von klagenden Personen verletzen – auch wenn die betreffenden Informationen im Netz weiterhin verfügbar sind. Im konkreten Fall ging es um einen Spanier, der in einer Zeitung im Zusammenhang mit einer zwangsversteigerten Immobilie genannt worden war. Die von der Zeitung verbreitete Information entsprach der Wahrheit: Nur wurde sie von Google allen verfügbar gemacht, die sonst kaum das Archiv der entsprechenden Zeitung durchforstet hätten.

Solche Informationen gab es schon immer. Amtliche Dokumente halten unliebsame Prozesse, Verwaltungsakte etc. von Menschen während ihrem ganzen Leben fest, nur fielen die vor der Google-Ära unter die so genannten »practical obscurity«: Nur wer mit hohem Aufwand und Kompetenz nach diesen Informationen sucht, findet sie. Für alle anderen sind sie verborgen. 

Das Urteil zeigt, dass Erinnerung und Vergessen gesellschaftlich relevante Themen sind, die nicht nur durch Technologie und Rechtssprechung Veränderungen erfahren können, die ungewollt und ungeplant sind.

Zeynep Tufekci verweist zu Recht auf den Genozid in Ruanda, während dessen Bewältigung die Kastenzugehörigkeit zu einem Tabu wurde: Ein kollektiver Prozess des Vergessens oder Verdrängens ersetzte die Praxis der belgischen Kolonialbehörden, die Kastenzugehörigkeit auf Ausweisen zu notieren – was letztlich den Genozid administrativ möglich machte.

Diese Überlegung zeigt, zwei wichtige Einsichten:

  1. Gesellschaften sollten sich nicht technologisch ausserstande setzen, Vergessen zu ermöglichen, weil davon ihr friedliches Zusammenleben abhängen kann.
  2. Informationen sind nicht neutral und Transparenz nicht kontextlos wertvoll.

Gleichzeitig ist das »Recht auf Vergessen« aber auch kein klares Konzept. Während es Tendenzen gibt, im Strafrecht dieses Vergessen ganz auszusetzen (zentrale Register von Straffälligen), wünschen sich viele Menschen ein Netz, in dem Sie Missliebiges auf Knopfdruck löschen können. Wer welche Information wo publiziert ist aber zunächst – und das ist eine große Errungenschaft – Gegenstand der Meinungäußerungsfreiheit und als solcher außerhalb der Zuständigkeit des Staates. Der Schweizer Datenschützer, Hanspeter Thür, äußerte sich zum Urteil wie folgt:

Mit dem EuGH-Urteil wird aus Sicht von Thür keine Zensur im Internet betrieben. Wenn Google auf Anfrage Links entferne, werde die Information im Internet nicht gelöscht. Gelöscht werde lediglich die von Google hergestellte Verknüpfung, betonte der oberste Schweizer Datenschützer. Die Suche nach einer bestimmten Information im Internet werde dadurch erschwert, aber nicht verhindert.

Diese Sicht umgeht die Frage nach den Kriterien für eine Löschung elegant, indem sie vorgibt, Google müsste alle Informationen löschen, wenn Menschen dazu einen Antrag stellen. Die Konsequenzen wären absurd: Bald würden Wikipedia-Einträge, Bücher, Zeitungsseiten nicht mehr gefunden, weil Menschen aus eingebildeten oder realen Nöten eine Löschung im Suchindex beantragt haben. Und warum sollte dieses Recht dann nur Google betreffen und nicht jede Suche im Netz, also beispielsweise auch die auf Newsportalen, in Facebook oder Wikipedia?

Und wenn es Kriterien für die Löschung gäbe: Müssten die nicht sinnvollerweise mit denen identisch sein, die zu einer Löschung der betreffenden Informationen nach Landesrecht führen? Heißt: Könnte ich eine Zeitung in der Schweiz rechtlich dazu bringen, einen Artikel über mich zu löschen – dann muss Google auch dann mitziehen, wenn der Artikel im Ausland erschienen ist.

Die juristische Umsetzung des Urteils wird den Weg weisen. Die Vorstellung, die »practical obscurity« würde zurückkehren und es wäre eine gute Sache, wenn die Menschen mit Zugang zu den nötigen Ressourcen und Suchalgorithmen alle Informationen einsehen könnten, während alle anderen eine staatlich zurechtgestutzte Suchmaske verwenden dürfen, scheint allerdings naiv. Die relevanten Probleme im Umgang mit Informationen sind sozial, nicht technisch, wie auch Per Urlaub in einem Kommentar für die Welt festhält:

Natürlich müssen wir uns vor den Gefahren der digitalen Permanenz schützen, aber nicht auf Kosten des freien Informationszuganges. Was wir brauchen, ist nicht ein Recht auf Vergessen, sondern eine Kultur der Vergebung. Dazu gehört auch ein gelassener Umgang mit der Tatsache, dass gerade die kreativsten, produktivsten und engagiertesten Menschen komplexe Leben führen, wo Privates gerne auch mal in Konflikt mit bürgerlicher Wunschvorstellung steht.

Durch eine solche menschlichere Sichtweise würde eine 15 Jahre alte Zeitungsnotiz über eine Grundstücksversteigerung ebenso zur Petitesse wie das jugendlich-leichtsinnige Selbstporträt mit Haschpfeife und Bikini auf der Facebook-Seite der Jurastudentin.

BnnKnViIEAAQcgX

 

 

 

Nicht ganz so schlimm: Empörung und Sozialkontrolle im Netz

Wenn technophobe Darstellung des »Internets« schwerer abzuliefern sind, dann gibt es eine kleine Chance, dass wir darüber sinnvoll diskutieren können, welche Probleme Technologie lösen kann und welche Probleme sie überhaupt lösen sollte.

Dieses Zitat von Evgeny Morozov (S. 358) macht deutlich, dass nicht allein die optimistische Sprechweise über digitale Kommunikation – die ja im Zuge der NSA-Skandale fast flächendeckend verschwunden ist -, sondern auch die sich wiederholenden Befürchtungen die Aufmerksamkeit von den Fragen abziehen, die für die Zukunft und die Gesellschaft entscheidend sind.

Zwei gute Beispiele sind diese Woche erschienen: Anne Roth beschreibt im FAZ-Blog ihre Widerstände gegen die Sozialkontrolle im Netz, Thymian Bussemer bei Carta wie die »Freiheit« im Netz in »Bedrängung, Gruppenzwang und Drangsalierung« umschlagen könnten. Die folgende Lektüre der beiden Texte geht der Frage, inwiefern damit Mechanismen beschrieben sind, die durch die Digitalisierung der Kommunikation bedingt sind. Sozialkontrolle, Gruppendruck und Mobbing existieren zweifelsohne – aber hat das Netz diese destruktiven sozialen Prozesse beeinflusst oder verändert?

Roth beschreibt das Problem wie folgt:

Mit dem Versprechen einer besseren Welt kam die Erkenntnis, dass mit der Demokratisierung der Öffentlichkeit Meinungen ungebremst aufeinanderprallen, die vorher selten so sichtbar waren. […]
In der digitalen Kommunikation ist viel schwerer, Emotionen sichtbar zu machen. Ein Effekt ist, dass häufig nur negative Reaktionen sichtbar werden, weil Zustimmung selten verbal – oder in diesem Fall schriftlich – ausgedrückt wird.

So werde, das Roths Fazit, die Idee der Meinungsfreiheit im Netz »ad absurdum« geführt, indem die Sozialkontrolle des Dorfes Einzug halte: »alles wird gesehen, alles wird kommentiert«. 

Auch wenn der XKCD-Verweis auf das negative Recht der Meinungsfreiheit dem Staat gegenüber eine begriffliche Schärfung im juristische Sinne erlauben würde, ist Roths Absicht eine andere: Sie will in ihrem Beitrag darauf hinweisen, dass Meinungsbildung bei jungen Menschen abseits des Mainstreams einen Schonraum braucht. Subkulturen brauchen Freiräume, in denen sie experimentieren, Haltungen einnehmen und verwerfen können.

XKCD, »Free Speech«

Dass diese Freiräume im Web nicht existieren, halte ich für eine Perspektive, die sich historisch ergeben hat: War das Web einst ein Ort für Subkulturen, weil es für ein Stammtisch- oder Mainstream-Publikum wenig bereit hielt, hat sich das in den letzten Jahren geändert. Verloren gegangen ist nicht die Möglichkeit der Freiräume im Netz, sondern ihre Selbstverständlichkeit.

Kommentare und Kritik werden sichtbar. Schon immer wurde das streitende Paar nach dem Verlassen des Restaurants von allen Anwesenden ausgiebig besprochen, radikale Feministinnen sahen sich schon immer Kritik ausgesetzt – nur hatten sie nicht die Möglichkeit, sich die Kommentare auch anzuhören. Was aber den Unterschied zum Dorf ausmacht, ist die Möglichkeit der Filter: Der Nachbar oder die Verkäuferin im Dorfladen konnten nicht einfach geblockt, gesperrt oder ignoriert werden – im Netz ist das möglich. Es ist ein gewisser Aufwand damit verbunden, die Kommunikationsmöglichkeiten schaffen neue Belastungen und Pflichten. Aber sie verhindern nicht, dass Freiräume geschaffen werden können, in welche Kommentare und Kritik nicht ständig einbrechen.

Ist Roths Argument eingegrenzt und nachvollziehbar, so steigert sich Bussemer in einen Rundumschlag, der trotz seinen Bezügen auf zwei Neuerscheinungen – Detel/Pörksen: Der entfesselte Skandal und Klausnitzer: Das Ende des Zufalls – wahnhaft erscheint: »Die Öffentlichkeit ist seit einigen Jahren in einem rauschhaften Zustand«, heißt es da beispielsweise. Empörungswellen würden Politikern das Leben schwer machen und es Medien verunmöglichen, Nachrichten zu strukturieren, während die Teilnehmenden an diesen Empörungswellen so viele Daten im Netz hinterließen, dass ihre Existenz gefährdet sei. Das führe aber keineswegs zu Verhaltensänderungen.

Dass die Abarbeitung an der »Empörung im Netz« eine perfide Strategie ist, um bestimmte Arten der Kritik zu delegitimieren, habe ich an dieser Stelle bereits notiert. Dass bösartige Briefpost und Pakete, die Politikerinnen und Politiker erhalten, keine Folge der Digitalisierung sein dürften, ergibt sich fast von selbst. Befindet sich die Öffentlichkeit tatsächlich in einem Rausch? Nur weil ich auf Twitter oder in den Kommentarspalten der digitalen Zeitungen täglich Empörungswellen mitverfolgen kann, die gezielt geschürt werden, oft aus ganz kommerziellen Interessen, scheint mir die Öffentlichkeit selbst recht ruhig zu bleiben. Das mag an meiner eingeschränkten Perspektive liegen – aber mir scheint es nahe liegend, dass der Small Talk und der Stammtisch der Menschen sich digitalisiert hat. Ob wir zuhören, mitmachen und uns dazusetzen wollen, müssen wir entscheiden. Nur weil wir es können, heißt das nicht, dass alle Menschen es tun.

Evgeny Morozovs Kritik am Internetdiskurs

In seinem Buch To save everything, click here untersucht Evgeny Morozov das Internet als Idee. Um zu markieren, dass er nicht ein technisches Netzwerk meint, sondern ein gedankliches Konstrukt, markiert er Internet fast durchgängig mit Anführungszeichen. Zu Beginn von Kapitel 2 stellt der Autor fest, heute könne man mit »Internet« »just about anything« bezeichnen – der Begriff ist beliebig geworden. Getrieben von dieser Einsicht, untersucht Morozov zwei Phänomene. Das erste nennt er »Internet-centrism«: Die Vorstellung, dass eine Art Revolution erfolge, deren Auswirkung auf alle Bereiche des Lebens nur verstanden werden könne, wenn das »Internet« im Mittelpunkt der Analyse stehe. Diese Vorstellung bezeichnet Morozov mehrfach als religiöse, weil sie von Selbstverständlichkeiten und Sachzwängen ausgehe, die nur akzeptiert, wer an die Idee »Internet« glaube.

Quelle FAZ - Interview mit Morozov
Quelle FAZ – Interview mit Morozov

Mit dem Glaube des »Internet-centrism« hängt für Morozov ein zweites Phänomen zusammen, der »Solutionism«. »Solutionism interprets issues as puzzles to which there is a solution, rather than problems to which there may be a response«, lautet ein Zitat von Gilles Paquet, das Morozovs Definition gut summiert: Die Ideologie des Silicon Valley führt dazu, dass Software und Algorithmen Scheinprobleme lösen. Die Werkzeuge, welche zur Verfügung stehen, werden übermäßig eingesetzt, so dass letztlich die Fähigkeit verloren geht, echte Probleme oder Tugenden zu erkennen und darauf zu reagieren. Stattdessen werden Einsatzmöglichkeiten für die Werkzeuge gesucht, bei denen sie aber oft mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen: Einerseits, weil sie von wirklichen Problemen ablenken, andererseits weil sie funktionierende Mechanismen so verändern, dass neue Probleme entstehen.

Morozov bietet dafür eine Reihe von Beispielen an: Transparente Daten, softwaregestützte Politik, digitale Bildung oder präventive Polizeiarbeit. Im Hintergrund droht aber immer die politische Diktatur, der – so Morozovs Grundüberzeugung – eine so vage Idee wie »Freiheit im Internet« nichts entgegenhalten kann, schlimmer noch: Die sie eigentlich fördert, statt dagegen anzukämpfen.

Der interessante Aspekt von Morozovs Buch ist neben der Analyse von praktischen Beispielen sein Fazit. Er schlägt vor, in der Debatte ums »Internet« zwei Gruppen von Intellektuellen zu unterschieden: Solche, die sich wesentliche Resultate von der Beschäftigung mit »dem Internet« versprechen, und »Post-Internet«-Denker, die davon ausgehen, dass das Phänomen zwar soziologisch oder historisch beschrieben werden kann, ganz analog zu »Wissenschaft«, aber nicht dabei behilflich ist, die Welt zu beschreiben und verstehen. Morozov gehört selbstverständlich zur zweiten Gruppen. Er schlägt folgende Maßnahmen für den Umgang mit Technologie vor (S. 354ff.):

  1. Keine Diskussionen über die Auswirkungen des Internets und von Social Media mehr führen, weil unklare Fragestellungen damit verbunden werden, auf die kaum hilfreiche Antworten gefunden werden können.
  2. Besser ist es, technikbezogene, enge und empirische Analysen durchzuführen, welche beispielsweise die Funktionsweise spezifischer Algorithmen betreffen.
  3. Technologie generell eher als Konsequenz von Veränderungen in der Welt betrachten denn als Ursache solcher Veränderungen.
  4. Einsehen, dass in den letzten hundert Jahren jede Generation den Eindruck hatte, eine tiefschürfende technologische Umwälzung zu erleben. Das befreit von der Illusion, digitale Kommunikation bewirke einen echten Wandel.

Sein Fazit:

Technology is not the enemy; our enemy is the romantic and revolutionary problem solver who resides within. (S. 358)

* * *
Mir gefällt Morozovs Buch. Es ist energisch geschrieben und verbindet eine Reihe wichtiger Gedanken. Der entscheidende für mich: Ahistorische Beschreibungen führen leicht in die Irre. Internetkritik ähnlich zu betreiben wie Wissenschaftsphilosophie ist ein Zugang, von dem ich überzeugt bin. Morozov macht sich aber vieles zu einfach: Da er gerade das Problemfeld nicht eingrenzt, sondern »Internet« lediglich als einen Spielstein in einem Diskursspiel betrachtet, kann er einen Gegner konstruieren, der überall verwundbar ist. Er hält seine eigenen Vorgaben gerade nicht ein: Er führt weder eine enge Untersuchung noch eine empirische durch, er will – wie er es im Postscript fordert (S. 355ff.) –auf naive Technologiekritik verzichten, liefert aber ihren Vertreterinnen und Vertretern Munition.

Empörung in sozialen Netzwerken

Wenn es nach dem Internet-Pöbel geht, sind auch Veronica Ferres, der laue Winter oder Uli Hoeness’ Bayern ihre Gebühren nicht wert – und davon wird das Fernsehprogramm und die Welt auch nicht besser. Vielleicht sollte man einfach mal abschalten, statt sich online zu erregen.

Das Schlussargument des Kommentars zum Lanz-Interview von Martin Halter ist in der Presse regelmäßig zu lesen: So genannte »Shitstorms« würden Empörung im Netz heraufbeschwören, die nicht mit echter Kritik verwechselt werden dürfe. Dem »Pöbel« falle es eben auf Facebook und Twitter besonders leicht, sich aufzuregen (»ein Like ist schnell gedrückt«), zudem ebbten diese Empörungsfluten schnell wieder ab.

Society6, Neon Wildlife
Society6, Neon Wildlife

Die Tatsache, dass Kritik im Netz geäußert wird, genügt als Argument, um die Kritik zu entwerten – egal, ob es um Sexismus, Rassismus oder ein schlechtes Interview geht. Eine differenziertere Betrachtung zeigt, dass es zumindest drei Möglichkeiten gibt:

  1. Ein große Zahl von Menschen ist bereit, im Netz eine Meinung zu vertreten, die sie dort nur zeigen, um sich zu profilieren, anzupassen oder weils grad so einfach geht. Diese Menschen äußern keine echte Kritik, sondern drücken quasi gedankenlos auf die Screens ihrer Smartphones. Das Netz ermöglicht eine willkürliche, oberflächliche Meinungsbildung.
  2. Eine große Zahl von Menschen ist wirklich aufgebracht und äußert sich auch im Freundeskreis und in der Familie kritisch, nur hört sie dort niemand. Im Netz werden diese Meinungen plötzlich sammel- und wahrnehmbar. Menschen, die sonst nicht gehört werden, erhalten eine Stimme. Das Netz ermöglicht eine effiziente und transparente Meinungsbildung.
  3. Das Netz gibt der Meinung von digital affinen Menschen mehr Gewicht, als ihr eigentlich zukommen würde. Wer es versteht, eine Kampagne zu starten – Daniel Graf von Feinheit nutzt beispielsweise Shitstorms gezielt als Mittel in politischen Kampagnen -, kann seiner Haltung so zu Aufmerksamkeit verhelfen, die nicht proportional zur Meinung in der Gesamtbevölkerung ist. Das Netz verzerrt die Meinungsbildung und verstärkt Ausschnitte davon.

Meiner Meinung nach ist 1. sicher falsch. Es ist nicht einfach, auf Facebook Likes zu sammeln oder auf Twitter eine Nachricht zu verbreiten. Auch im Netz engagieren sich Menschen – und mag es noch so einfach sein – nicht für etwas, was sie nicht unterstützen. 2. und 3. mögen je nach Gegenstand der Kritik durchaus zutreffend sein – genauere Analysen sind jeweils angebracht.

Zu beobachten ist aber ein Netzdiskurs, der zur Delegitimierung bestimmter Anliegen führt, nur weil sie sich digital entfalten. Das überrascht nicht, ist doch die analoge Welt geprägt von einer festen Hierarchie: Wer in der Zeitung schreiben darf, wer ins Fernsehen kommt, wer im Rahmen politischer Entscheidungen seine Meinung kundtun und umsetzen darf, hat kein Interesse daran, dass eine andere Form von Partizipation möglich wird, dass andere Meinungen gehört werden – auch wenn es nicht Meinungen sind, die von eine Mehrheit vertreten werden.

Wenn bei Fällen von Alltagsrassismus oder Alltagssexismus die Netzempörung als ein Überbewerten harmloser, alltäglicher und gar nicht »so« gemeinter Vorgänge dargestellt wird, so wird nicht einmal der entscheidende Punkt in der Diskussion vermittelt: Was harmlos, alltäglich und wie gemeint ist, kann eben nicht die Person bestimmen, die viele Rechte und viel Aufmerksamkeit beanspruchen kann, sondern hängt von der Wahrnehmung der Betroffenen (und auch von der Außenstehender) ab. Kurz: Das muss verhandelt werden.

Wer die Äußerungen vieler Menschen, sie empfänden etwas als hoch problematisch, damit abtut, dass sie nicht ernst gemeint sein können, weil sie im Netz stattfinden, tut sich und allen anderen auf Dauer keinen Gefallen. Zu glauben, Kritik verschwände, weil man sie mit einer perfiden Strategie delegitimiere, ist naiv.

 

 

Die Jugend Japans als Beispiel

Japan ist sowohl demografisch wie auch in Bezug auf die digitale Kommunikation ein extremes Beispiel – aber auch ein lehrreiches. Es zeigt eine junge Generation, die in schwierigen Bedingungen aufwächst, von Medien und älteren Menschen aber gleichzeitig wenig Respekt erfährt, sondern als moralisch verkommen und faul abgewertet wird.

Neben so genannten NEETs (Not in Education, Employment or Training), also Jugendlichen, die sich nicht in die Arbeits- oder Bildungswelt integrieren, geben besonders Hikikomori Anlass zur Sorge. Dabei handelt es sich um Jugendliche, die ihr eigenes Zimmer nicht mehr verlassen und sich dabei oft auch in medialen Welten verlieren oder orientieren.

Die Kluft zwischen einer immer größer werdenden Generation von Senioren und einer schrumpfenden Generation Jugendlicher, kann in Japan an der erstaunlichen Tatsache festgemacht werden, dass 2012 erstmals mehr Windeln für inkontinente Erwachsene verkauft wurden als für Babys. Die Geburtenrate von 1.4 Kindern pro Frau steigt zwar in Japan leicht an, reicht aber bei weitem nicht aus, um die Bevölkerung von 120 Millionen zu halten. Prognosen gehen davon aus, dass sie sich bis 2060 um einen Drittel reduzieren wird.

Anteil der Digital Natives 18-34 an der Gesamtbevölkerung, Quelle
Anteil der Digital Natives 18-34 an der Gesamtbevölkerung, Quelle

Der große Abstand zwischen den Generationen schlägt sich auch digital nieder: Während in Japan 99.5 Prozent der Jugendlichen als »Digital Natives« bezeichnet werden können, womit das Land weltweit die Spitzenposition einnimmt, ist der Anteil dieser Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung mit 9.6 Prozent vergleichsweise klein, was durch die Demografie Japans zu erklären ist.

Demografie und die starke Präsenz digitaler Medien im Leben Jugendlicher führt nun nach Ansicht von Expertinnen und Experten dazu, dass diese immer stärker darauf verzichten, romantische und sexuelle Beziehungen einzugehen. 50 Prozent der erwachsenen Frauen und 60 Prozent der erwachsenen Männer unter 34 befinden sich nicht in einer Beziehung – ein Wert, der sich in den letzten fünf Jahren um 10 Prozent erhöht hat. 45 Prozent der jungen Frauen und 25 Prozent der jungen Männer geben an, kein Interesse an Sex zu haben.

Eri Tomita ist eine 32-jährige Japanerin, die in der Personalabteilung einer Bank arbeitet. Sie sagt:

»Mein Leben ist großartig. Ich gehe mit Freundinnen aus, alles Karrierefrauen wie ich. Wir essen in französischen und italienischen Restaurants. Ich kaufe stilvolle Kleider und kann mir schöne Ferien leisten. Ich liebe meine Unabhängigkeit. […] Oft werde ich von verheirateten Männern im Büro angesprochen, die gerne eine Affäre hätten. Sie nehmen an, ich sei verzweifelt, weil ich Single bin. Mendokusai

Quelle

Mendokusai heißt übersetzt, dass etwas zu anstrengend oder mühsam für einen sei. Es ist ein Ausdruck, den die Gesprächspartnerinnen und –partner von Abigail Haworth, welche die sexuelle Enthaltsamkeit der jungen Erwachsenen in Japan untersucht hat, immer wieder bemühen, um zu erklären, weshalb sie weder erotische noch romantische Kontakte besuchen. Die Gründe dafür sind in verschiedenen Bereichen zu suchen: Obwohl die japanische Kultur praktisch keine religiösen gesellschaftlichen Normen kennt, ist es für Frauen praktisch unmöglich, eine anspruchsvolle Arbeit mit dem Leben als Mutter zu verbinden. Viele Berufe sind so anspruchsvoll, dass sie sich nicht  mit einem Privatleben kombinieren lassen. Digitale Welten, die oft in mobilen Computerspielen erkundet werden, enthalten oft breite Möglichkeiten für soziale Kontakte. Eine 22-jährige Studentin erklärte Haworth, sie habe nun zwei Jahre damit verbracht, ein virtuelles Süssigkeitengeschäft zu betreiben, ohne dass sie das als Verlust empfindet.

Auf Jugendlichen lastet ein großer wirtschaftlicher Druck, der von Eltern oft auch digital ausgeübt wird:

Die Angst um die Kinder und vor ihnen erfasst vor allem die Eltern. Dies kann mitunter zu grotesken Reaktionen führen, etwa wenn sich Mütter die Überwachungstechnik zunutze machen, um ihren Kindern auf dem Schulweg virtuell zu folgen. Dafür kann zum Beispiel die elektronische Bahnkarte so aufgerüstet werden, dass sie bei der Entwertung ein Signal auf Mamas Handy sendet und ihr dadurch den Standort ihres Kindes verrät.

Die Krise der japanischen Jugend, deren Symptome die Hikikomori sind, hat wirtschaftliche und soziale Ursachen. Dass Eskapismus verbreitet ist, wenn es keine klare gesellschaftliche Orientierung an Werten gibt und auch harte Arbeit keinen wirtschaftlichen Erfolg garantiert, erstaunt nicht.

Die japanische Gesellschaft unterscheidet sich in vielen Belangen von denen in Europa. Und doch sind einige Tendenzen vergleichbar: Immer mehr ältere Menschen setzen jüngere unter Druck, ohne ihnen aber eine klare Vision von einem erfüllten Leben anbieten zu können. Gleichzeitig beurteilen und verurteilen sie Jugendliche aber recht schnell, wenn sie versuchen, eigene Wege zu finden um mit den Schwierigkeiten in ihrem Leben umgehen zu können.

Zusatz: Hier noch der humoristische Kommentar von Bill Maher und seinen Gästen (FB-Link).

Überwachung und Naivität

Bildschirmfoto 2013-09-19 um 20.12.53

Der Schluss einer Petition der Schriftstellerin Juli Zeh ist ein Beispiel dafür, wie naiv selbst diskursbestimmende Intellektuelle über die totale Überwachung durch Geheimdienste denken. Daher hier ein paar Feststellungen gegen diese Naivität.

  1. Es gibt heute keine digitale Lösung, der Überwachung zu entgehen. 
    Weder Linux, noch ein alternativer Mailprovider noch Hardwarehersteller schützen uns vor Überwachung im Netz. Unsere Mails werden gesichert, unsere Verschlüsselungen decodiert. Ob Laien sich um Sicherheit bemühen oder nicht ist, ist irrelevant.
  2. Niemand kann uns die Wahrheit über die Überwachung erzählen. 
    Überwachung ist ein so komplexes Geschäft, dass niemand den Überblick über alle Aspekte hat. Auch wenn der Wunsch von Juli Zeh, Frau Merkel könnte ihr und den Menschen in Deutschland »die volle Wahrheit« präsentieren, verständlich ist, so ist er doch auch unglaublich naiv. Angela Merkel weiß weniger als Juli Zeh. Es gibt unzählige Agenturen, Geheimdienste, Datenbanken. Daten werden gespeichert und abgerufen. Das ist alles. Menschen sitzen vor Computern und benutzen sowas wie Google: Nur sagt ihnen ihr Google mehr, als es uns sagt. Mehr ist Überwachung nicht; es gibt keine höhere Wahrheit, kein teuflischer Plan.
  3. Die Überwachung ist politisch gewollt. 
    Natürlich nutzen die Geheimdienste Wege und Verfahren, die nicht durch die üblichen politischen Stellen legitimiert werden. Aber was sie tun, entspricht auch in demokratischen Staaten dem Willen der Gesetzgebenden und einer Mehrheit der Menschen.
    Wer beispielsweise einen Bericht der Sonntagszeitung über Silk Road, ein Handelsplatz für Drogen im Netz liest, begegnet darin der Forderung nach totaler Überwachung: Alle Poststellen müssten mit Kameras ausgestattet werden, damit jede Paketsendung einer Person zugeordnet werden kann, die Post müsste durchsuchbar sein, der Datenverkehr von Bitcoins, einer digitalen Währung, überwacht werden; wie auch das Internet selbst. Wer Drogenhandel im Netz unterbinden will, braucht totale Kontrolle.
  4. Die Überwachung kann nicht eingeschränkt werden. 
    Nur die totale Überwachung ist eine sinnvolle Überwachung. Wenn ein Mailanbieter, ein Land, ein Betriebssystem sich der Überwachung entziehen könnten, dann würde sie als ganze ihren Wert verlieren.
  5. Gesetze sind kein taugliches Mittel gegen Überwachung. 
    Christof Moser ist Journalist bei der Schweiz am Sonntag. Auf seine Anfrage hin hat ihm der NDB (Nachrichtendienst des Bundes) folgendes »wording« zukommen lassen:
    1277747_10201210715284696_1137173102_oDas heißt wiederum: Es gibt einen Austausch von Daten, von dem die Verantwortlichen behaupten, er entspreche den Gesetzen. Ob das so ist, kann niemand wissen.
  6. Es gibt kein Rezept gegen die Überwachungsdynamik. 
    Menschen nutzen Freiheiten, um anderen zu schaden. Deshalb werden sie überwacht, um den Schaden abzuwenden. Die negative Auswirkung dieser Überwachung erfordert neue Freiräume, die wiederum missbraucht werden. Dieser Kreislauf ist so alt wie die menschliche Kultur. Zu meinen, wir könnten heute diese Dynamik ändern, ist naiv. Bevor nicht deutlich wird, dass diese Überwachung gefährlich ist, ändert sich daran nichts.
  7. Überwachung schadet denen am wenigsten, auf die sie abzielt. 
    Dazu Kusanowsky:

    Besser zurecht kommen vor allem diejenigen, die ihre Zeit nicht damit vertrödeln können, gegen diese Überwachung zu protestieren, sondern sofort anfangen, ihr gefährliches Geschäft auch unter der Bedingung der Überwachung fortzusetzen. Gemeint sind damit diese Terroristen. Sie werden nicht darauf warten bis die Welt, in der sie nur Angst und Schrecken verbreiten möchten, eine bessere geworden ist.  Sie mögen sich zwar aufgrund dieser Überwachung zunächst irritieren, aber sie werden ihr Geschäft nicht aufgeben, sondern genau das tun, was Not tut, um ihr Geschäft des Mordens weiter zu betreiben: sie werden lernen, wie es geht.
    So sind die Überwachungsmaßnahmen nicht nur nicht dazu geeignet, den Terror zu bekämpfen. Vielmehr sorgen sie dafür, dass ausgerechnet diese Terroristen von ihren Auswirkungen zuerst verschont bleiben können, weil sie intelligentere Wege suchen müssen, ihre Geheimnisse zu behalten.

Kusanowskys Fazit kann ich mich anschließen: Wir müssen lernen, wie wir Freiheiten zurückgewinnen können.

Denn wer lernen will noch bevor man durch die Umstände zum Lernen gezwungen wird, stellt fest, dass es keine Lehrer gibt, keine Erfahrungen, keine Methoden, keine Beziehungen, ja nicht einmal ist das zu Erlernende bekannt. Und weil das so schwer anzufangen ist, ist es allemal einfacher, Protest, dem keinerlei Widerstand entgegen gebracht wird, zu äußern.

Dieses Lernen wird eine Mischung aus Technik, Politik und sozialer Organisation sein. Ein Rückfall in analoge Kommunikation ist nicht denkbar, schon allein deshalb nicht, weil die ja ebenfalls digitalisiert und überwacht wird (in den USA werden von allen Briefen Metadaten automatisch eingescannt).

Und trotz dieser Einsicht möchte ich einen Kommentar bei Kusanowsky nicht unterschlagen, er stammt von @fritz:

Tatsächlich haben aber die Attentäter, die Anschläge aufs Netz verüben [gemeint: die NSA, PhW], wovor am meisten Angst? Vor harten Abwehrgesetzen, die ihre bislang selbst gemachten Gesetze außer Kraft setzen. Mit so ein bisschen Underground-Darknet-Frechheiten, TOR etc. würden sie dagegen zur Not sicherlich auch noch fertig werden … wenn die Gesetze das frei geben, ist der Rest ja nur noch ein technisches Problem.

Diese Feststellung mag für die USA zutreffend sein. Wenn man beispielsweise Philip Mudd bei Colbert anhört und ihm Glauben schenkt, dann scheint die Gesetzeslage auch für die amerikanischen Sicherheitsinstitutionen, die wenig Skrupel kennen, eine Bedeutung zu haben. Darauf hinzuarbeiten, dass Grundrechte geschützt werden, dürfte eine Art sein, wie man sich einer gewissen Sicherheit annähern kann – ohne zu wissen, ob  nicht ähnliche Systeme von chinesischen, indischen, russischen oder privaten Nachrichtendiensten bereits betrieben werden…

Lernt löten!

Heute ist in der WoZ ein Gesprächsbericht erschienen, den Kaspar Surber über eine Unterhaltung mit mir geschrieben hat.

Den ganzen Text gibt’s hier.

Jugendliche nutzen das Internet nicht anders, weil sie als «Digital Natives», als Eingeborene der digitalen Welt, aufwachsen. Sondern weil sie aufgrund ihres Alters ein eigenes Beziehungsnetz knüpfen müssten: «Die sozialen Medien funktionieren dabei wie ein Shoppingcenter als halb öffentlicher Raum: So wie Jugendliche dort ihre Zeit verbringen, wollen sie auch auf Facebook sehen und gesehen werden.» Andere wiederum, die nicht den gängigen Normen entsprechen, finden im Internet Gleichgesinnte zum Austausch.

20130808-100025.jpg

Technologie muss das Leben einfacher machen

Gestern hatte ich früher als sonst eine Sitzung und im Eifer vergessen, mein Portemonnaie von der Wochenend- in die Wochentagstasche zu tansferieren. In der S-Bahn gab es eine Fahrausweiskontrolle. Ich besitze eine Jahreskarte (GA) und musste nun einen Zettel ausfüllen, den ein netter Herr in ein Gerät eingegeben hat, mit dem er dann zwei Zettel ausgedruckt hat, die ich beide unterschreiben musste. Mit einem muss ich nun an einen Bahnschalter, dort fünf Franken bezahlen und das Problem ist gelöst. 02.07.13 - 1

Ich mag die SBB, die in der Schweiz einen großen Teil des öffentlichen Verkehrs organisiert. Ihre Leistungen sind preiswert und zuverlässig, das Personal ist gut geschult und freundlich und das Unternehmen reagiert bei Problemen meist sehr kulant. Nun kommt das Aber: Die Technologie wird in diesem Beispiel nicht genutzt, um das Leben einfacher zu machen. Die Gebühr von fünf Franken deckt den Aufwand der SBB, den ich verursacht habe, bei weitem nicht. Der Kontrolleur und ich haben beide Smartphones, die mit Datenbanken bei der SBB verbunden sind (ich habe ein Konto, mit dem ich Tickets mobil kaufen kann). Ich konnte mich weder mit dem Smartphone identifizieren noch die Gebühr bezahlen; der Herr konnte nicht abrufen, ob ich ein Abo besitze (oder er darf das nur tun, wenn ich mich ausweisen kann – einen Ausweis hatte ich nicht dabei).

Um vom Anekdotischen zum Allgemeinen zu kommen: Digitale Hilfsmittel und Social Media müssen uns das Leben einfacher machen. Wir sollten – zumindest im Geiste – Projekttagebücher führen, die uns Auskunft darüber geben, ob das Erlernen von Kompetenzen und das Einarbeiten in Funktionsweisen von Software letztlich zu einer Vereinfachung führen. Ein Beispiel: Analoge Fotos mussten entwickelt werden, wurden aber viel spärlicher geknipst. Die Abzüge lagen dann aber physisch vor, wurden vielleicht in den Umschlägen beschriftet oder dann in Alben eingeklebt. Die digitale Verfahrensweisen führt zu Dateien auf unzähligen Speichermedien, Geräten, Harddisks, die in wenigen Haushalten sauber geordnet und abrufbar sind. Obwohl Gesichter automatisch erkannt werden können, Geotags hinzugefügt werden und Archive nach verschiedenen Kriterien geordnet werden können, brauchen wir mehr Arbeit im Umgang mit digitalen Bildern und erzielen damit schlechtere Resultate (den Besuch ein knappes Fotoalbum oder ein paar Abzüge durchblättern lassen ist oft kommunikativ wesentlich sinnvoller als eine Präsentation von unzähligen Bildern an einem Projektor).

Die Frage: »Was wird einfacher, wenn wir das so machen?« ist ein Lackmustest für jede technologische Änderung. Er kann nicht umgangen werden durch eine Beschreibung zusätzlicher Funktionalitäten – die sind allenfalls ein Bonus, wenn bisherige Verfahren neu mit weniger Aufwand möglich sind.

Zurück zur SBB: Im Großraum Zürich gibt es neue Tickets, die mit Zonen funktionieren. Um beispielsweise von Wettingen nach Lenzburg zu fahren, kann man kein Ticket »Wettingen-Lenzburg« kaufen, sondern nur eine Reihe von Zonen, die Kundinnen und Kunden eigentlich auswendig können müssen. Sie sind nicht mehr in der Lage, Verbindungen für Hin- und Rückweg flexibel zu wählen, sondern müssen sich an entsprechende Zonen halten, für die ihr Fahrschein gültig ist. Wer nicht in der Schweiz wohnt und ein Ticket lösen will, kann an den Automaten nicht mehr herausfinden, welches Ticket das richtige ist.

Ticket_ZPassNatürlich sind Zonenpläne ein Kompromiss zwischen verschiedenen politischen Akteuren und letztlich kein technologisches Problem: Aber technische Lösungen müssten hier das Problem so vereinfachen, dass die Kundinnen und Kunden nur noch eine einfache Oberfläche sehen, im Hintergrund die nötigen Details ablegen (z.B. mit QR-Codes, die auf Tickets gedruckt werden).

Google Glass führt zu einer besseren Welt

Bildschirmfoto 2013-06-27 um 20.23.15Das ist Google Glass. Eine Brille mit einem Computer drin, ein Smartphone, das sich an den Kopf schnallen lässt. Und so fühlt es sich an:

Die problematischen Implikationen werden schnell klar: Während wir heute noch bemerken, wenn jemand das Handy zückt um unser Bild aufzunehmen, wissen wir das bei Menschen mit einem Brillensmartphone nicht mehr. »People who wear Google Glass in public are assholes«, befand Adrien Chen im März, den Begriff »Glasshole« für eine Person, die keine Rücksicht auf andere nimmt, gibts schon seit dem Januar dieses Jahres.

Google Glass führt also zu einer Welt, in der alles, was passiert, von jemandem aufgenommen werden kann und in einem völlig anderen Kontext weiterverwendet kann. Wir wissen nie, wann wir abgehört, gefilmt, fotografiert werden.

Aber, könnte man hier einwenden: Das wissen wir heute schon nicht. Amerikanische Städte werden zunehmend flächendeckend mit Mikrofonen ausgestattet, um präventiv Verbrechen verhindern zu können. Mehr und mehr Kameras überwachen öffentliche Verkehrsmittel, Strassen, Plätze, Geschäfte.

Überwachung, so würde ich axiomatisch festhalten, ist immer dann ein Problem, wenn sie nicht allen möglich ist. Unsere Sinne ermöglichen auch Überwachung: Aber alle nicht-behinderten Menschen haben Zugang zu denselben Möglichkeiten.

Google Glass gibt uns Möglichkeiten zurück. Natürlich: Zunächst privilegierten Männern, später dann denen, die es sich leisten können. Wenn wir alle die gleichen Möglichkeiten hätten, Kameras zu nutzen, so meine These, würden sie viel von ihrem Schrecken verlieren.

(Den Einwand, die Betreiber von CCTV-Kameras würden verantwortlich oder im Sinne des Rechts handeln, während bei Menschen mit Glass das nicht der Fall ist, halte ich für schwach.)

Banksy: One Nation under CCTV.
Banksy: One Nation under CCTV.