Smartphone-süchtige Mütter

»Mütter hängen am häufigsten am Smartphone«, titelt der Mamablog heute. Die Autorin, Jeanette Kuster, bezieht sich dabei auf eine Studie von Flurry, die in den Boulevard-Medien intensiv rezipiert wurde. Darin wurde als Smartphone-süchtig definiert, wer täglich 60 Mal eine App aufruft (der Durchschnitt, so die Studienautoren, seien 10 App-Aufrufe täglich).

In einer Infografik von Statista, die den Aspekt der Erziehung fokussiert, wird nun deutlich, dass Mütter und mit der Erziehung von Kindern Beauftragte auffallend häufig zur Kategorie der Süchtigen gezählt werden können.
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Damit ist die Bühne für pädagogische Reflexionen über die Vorbildwirkung von Eltern und besonders Mütter gewährleistet. Medienpädagogische Vorurteile, die nahe legen, Mediennutzung schade Menschen und die Nutzung von Handys sei generell eine Ablenkung von sozialen und wertvollen Aktivitäten, werden durch solche Zusammenhänge schnell abgerufen und aktiviert.

Eine genauere Analyse würde aufzeigen, dass der alleinige Fokus auf Zahlen in diesem Kontext höchst problematisch ist. Aus folgenden Gründen:

  1. Sucht ist seit dem Aufkommen des Begriffs im 19. Jahrhundert ein Kampfbegriff, mit dem bestimmte soziale Gruppen und Verhaltensweisen abgewertet werden.
  2. Sucht quantitativ festzulegen, ist zwar für sozialwissenschaftliche Untersuchungen eine methodische Vereinfachung, führt aber zu sinnlosen Resultaten. Sucht kann auch bei stoffunabhängigen Süchten relativ klar beschrieben werden, ohne dass solche Reduktionen nötig sind.
  3. Das Leben von Müttern oder anderen Erziehungspersonen ist heute komplexer, als es solche Untersuchungen nahe legen. Viele Mütter arbeiten neben ihren Betreuungsaufgaben, sie sind für die oft anspruchsvolle Koordination der Familienorganisation zuständig, pflegen ihr soziales Netzwerk und das der Kinder. Die Mutter, die den Schlafrhythmus des Babys für den Kinderarzt festhalten muss, zehn Fotos der Kinder für den Papa macht, der auf Arbeit ist, ein paar Nachrichten verschickt, Emails für die Arbeit liest, über den Mittag die Zeitung online liest, dazwischen Termine in den digitalen Familienkalender einträgt und das Kind während einer Zugfahrt ein Spiel spielen lässt, damit es die anderen Passagiere nicht stört, kommt schnell auf 60 App-Aufrufe während eines Tages – gerade weil sie während der Care-Arbeit nicht vor dem Computer sitzt.
  4. Zeit zu haben ist ein Luxus. Digitale Kommunikation ist oft effizienter und für die Menschen ein Muss, die es sich eben nicht leisten können, mit Freundinnen Kaffe zu trinken.

Damit ist nicht gesagt, dass es keine problematische Mediennutzung gäbe. Natürlich gibt es die und selbstverständlich leiden Kinder von Eltern, die ihre Mediennutzung nicht im Griff haben, darunter. Aber aufgrund von fragwürdigen Zahlen und noch fragwürdigeren Interpretationen dieser Zahlen Rückschlüsse auf Verhaltensweisen ganzer Gruppen zu ziehen, ist deswegen nicht gerechtfertigt.

Wir müssen Menschen zusehen, zuhören und nachfragen – nicht die Welt, wie sie früher war, als ein buntes Paradies zeichnen, das durch die Smartphones leider zerstört wurde. Sehnsucht nach vergangenen Zeiten kennen wir alle. Sie kehren aber nicht zurück, wenn wir weniger Bildschirmmedien verwenden.

Daran ändert auch »Look Up« nichts – ein Video, das wir wohl alle auf dem Smartphone schauen (vgl. diesen Kommentar):

Nicht ganz so schlimm: Empörung und Sozialkontrolle im Netz

Wenn technophobe Darstellung des »Internets« schwerer abzuliefern sind, dann gibt es eine kleine Chance, dass wir darüber sinnvoll diskutieren können, welche Probleme Technologie lösen kann und welche Probleme sie überhaupt lösen sollte.

Dieses Zitat von Evgeny Morozov (S. 358) macht deutlich, dass nicht allein die optimistische Sprechweise über digitale Kommunikation – die ja im Zuge der NSA-Skandale fast flächendeckend verschwunden ist -, sondern auch die sich wiederholenden Befürchtungen die Aufmerksamkeit von den Fragen abziehen, die für die Zukunft und die Gesellschaft entscheidend sind.

Zwei gute Beispiele sind diese Woche erschienen: Anne Roth beschreibt im FAZ-Blog ihre Widerstände gegen die Sozialkontrolle im Netz, Thymian Bussemer bei Carta wie die »Freiheit« im Netz in »Bedrängung, Gruppenzwang und Drangsalierung« umschlagen könnten. Die folgende Lektüre der beiden Texte geht der Frage, inwiefern damit Mechanismen beschrieben sind, die durch die Digitalisierung der Kommunikation bedingt sind. Sozialkontrolle, Gruppendruck und Mobbing existieren zweifelsohne – aber hat das Netz diese destruktiven sozialen Prozesse beeinflusst oder verändert?

Roth beschreibt das Problem wie folgt:

Mit dem Versprechen einer besseren Welt kam die Erkenntnis, dass mit der Demokratisierung der Öffentlichkeit Meinungen ungebremst aufeinanderprallen, die vorher selten so sichtbar waren. […]
In der digitalen Kommunikation ist viel schwerer, Emotionen sichtbar zu machen. Ein Effekt ist, dass häufig nur negative Reaktionen sichtbar werden, weil Zustimmung selten verbal – oder in diesem Fall schriftlich – ausgedrückt wird.

So werde, das Roths Fazit, die Idee der Meinungsfreiheit im Netz »ad absurdum« geführt, indem die Sozialkontrolle des Dorfes Einzug halte: »alles wird gesehen, alles wird kommentiert«. 

Auch wenn der XKCD-Verweis auf das negative Recht der Meinungsfreiheit dem Staat gegenüber eine begriffliche Schärfung im juristische Sinne erlauben würde, ist Roths Absicht eine andere: Sie will in ihrem Beitrag darauf hinweisen, dass Meinungsbildung bei jungen Menschen abseits des Mainstreams einen Schonraum braucht. Subkulturen brauchen Freiräume, in denen sie experimentieren, Haltungen einnehmen und verwerfen können.

XKCD, »Free Speech«

Dass diese Freiräume im Web nicht existieren, halte ich für eine Perspektive, die sich historisch ergeben hat: War das Web einst ein Ort für Subkulturen, weil es für ein Stammtisch- oder Mainstream-Publikum wenig bereit hielt, hat sich das in den letzten Jahren geändert. Verloren gegangen ist nicht die Möglichkeit der Freiräume im Netz, sondern ihre Selbstverständlichkeit.

Kommentare und Kritik werden sichtbar. Schon immer wurde das streitende Paar nach dem Verlassen des Restaurants von allen Anwesenden ausgiebig besprochen, radikale Feministinnen sahen sich schon immer Kritik ausgesetzt – nur hatten sie nicht die Möglichkeit, sich die Kommentare auch anzuhören. Was aber den Unterschied zum Dorf ausmacht, ist die Möglichkeit der Filter: Der Nachbar oder die Verkäuferin im Dorfladen konnten nicht einfach geblockt, gesperrt oder ignoriert werden – im Netz ist das möglich. Es ist ein gewisser Aufwand damit verbunden, die Kommunikationsmöglichkeiten schaffen neue Belastungen und Pflichten. Aber sie verhindern nicht, dass Freiräume geschaffen werden können, in welche Kommentare und Kritik nicht ständig einbrechen.

Ist Roths Argument eingegrenzt und nachvollziehbar, so steigert sich Bussemer in einen Rundumschlag, der trotz seinen Bezügen auf zwei Neuerscheinungen – Detel/Pörksen: Der entfesselte Skandal und Klausnitzer: Das Ende des Zufalls – wahnhaft erscheint: »Die Öffentlichkeit ist seit einigen Jahren in einem rauschhaften Zustand«, heißt es da beispielsweise. Empörungswellen würden Politikern das Leben schwer machen und es Medien verunmöglichen, Nachrichten zu strukturieren, während die Teilnehmenden an diesen Empörungswellen so viele Daten im Netz hinterließen, dass ihre Existenz gefährdet sei. Das führe aber keineswegs zu Verhaltensänderungen.

Dass die Abarbeitung an der »Empörung im Netz« eine perfide Strategie ist, um bestimmte Arten der Kritik zu delegitimieren, habe ich an dieser Stelle bereits notiert. Dass bösartige Briefpost und Pakete, die Politikerinnen und Politiker erhalten, keine Folge der Digitalisierung sein dürften, ergibt sich fast von selbst. Befindet sich die Öffentlichkeit tatsächlich in einem Rausch? Nur weil ich auf Twitter oder in den Kommentarspalten der digitalen Zeitungen täglich Empörungswellen mitverfolgen kann, die gezielt geschürt werden, oft aus ganz kommerziellen Interessen, scheint mir die Öffentlichkeit selbst recht ruhig zu bleiben. Das mag an meiner eingeschränkten Perspektive liegen – aber mir scheint es nahe liegend, dass der Small Talk und der Stammtisch der Menschen sich digitalisiert hat. Ob wir zuhören, mitmachen und uns dazusetzen wollen, müssen wir entscheiden. Nur weil wir es können, heißt das nicht, dass alle Menschen es tun.

Digitale Medien verändern den Leseprozess

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Die oben stehenden Bilder stammen von einer App namens Spritz, mit der ein Startup den Leseprozess beschleunigen will. Durchschnittlich lesen englischsprachige Leserinnen und Leser rund 220 Wörter pro Minute. Mit der App können Geschwindigkeiten von bis zu 1000 Wörtern pro Minute erreicht werden. Damit lässt sich ein Harry Potter Band in etwas mehr als einer Stunde lesen.

Spritz ist symptomatisch für digitales Lesen: Es handelt sich um ein schnelles und selektives Lesen. Expertinnen und Experten sprechen von nonlinearem Lesen, bei dem Texte gescannt, nach Schlüsselbegriffen durchsucht, schnell gescrollt werden und der Text ständig mit Bildern und Links in Konkurrenz steht.

Lineares Lesen hingegen führt von einer Seite zur nächsten. Es ist ein langsamerer Prozess, aber oft ein nachhaltiger: Lesende verbinden das Layout eines Buches mit gelesenen Textstellen (»die Seite, auf der die Heldin stirb, hat nur zwei Abschnitte«) und nehmen sich oft Zeit, um gelesene oder noch nicht gelesene Seiten schnell durchzublättern.

Lesen hat anders als Sprache oder visuelle Fähigkeiten keine genetische Basis. Es ist ein vom Gehirn vollständig erworbener Prozess, der sich verändern kann. Die ersten Leserinnen und Leser haben selbstverständlich laut gelesen, leises Lesen ist eine Innovation. Dass sich der Leseprozess verändert, ist nicht erstaunlich, weil sich das menschliche Hirn ständig an seine Umwelt anpasst.

Die Erfahrung von langjährigen Leserinnen und Lesern legt nahe, dass das nonlineare Lesen auf Kosten von wichtigen Eigenschaften des linearen geht. Wer viel auf dem Smartphone oder am Computer liest, hat Mühe, sich in einen Roman zu vertiefen. Es scheint, als hätte das Hirn teilweise verlernt, komplexe Belletristik zu lesen. Selbstverständlich kann ich wie alle geschulten Leserinnen und Leser mit etwas Übung schnell wieder in den alten Lesehabitus zurückkehren: In den Ferien oder vor mündlichen Abiturprüfungen lese ich enorm viel klassische Literatur und gewöhne mich schnell wieder ans lineare Lesen. Die Frage ist, ob künftige Leserinnen und Leser das auch noch können.

Hier einige Forschungsresultate zum Vergleich des analogen und digitalen Lesens:

  1. Liu hat schon 2005 in einer Studie bemerkt, dass beim Lesen am Bildschirm Metakognition zurückgeschraubt wird: D.h. Lesende verzichten stärker darauf, sich Ziele zu setzen, schwierige Passagen mehrfach zu lesen oder ab und zu innezuhalten und sich zu fragen, was wichtige Aussagen in einem Text waren.
  2. Garland hat in einer Studie von 2003 beschrieben, dass digitale und analoge Lektüre zu vergleichbaren Resultaten in Tests führen, aber dass nicht-lineares Lesen im Hirn Erinnerungsprozesse ablaufen lasse (Informationen werden abgerufen, indem sich Personen an ihren Kontext erinnern), während lineares Lesen zu Wissensprozessen führen (Informationen werden ohne Kontextbezug abgerufen). Daraus lässt sich ableiten, dass die Lektüre auf Papier effizienter und nachhaltiger sein dürfte, weil der Erinnerungsprozess ein Umweg darstellt.
  3. Viele Menschen ziehen die Lektüre auf Papier der auf E-Readern oder am Bildschirm vor. Gründe dafür sind die Gewöhnung an Sinneseindrücke (Geruch und Gefühl beim Berühren von Papier), der Eindruck von Kontrolle über einen gedruckten Text (alle Buchstaben sind immer am selben Ort und können permanent markiert oder beschriftet werden) sowie die Übereinstimmung von Haptik und Text (ein langes Buch ist schwerer als ein dünnes). Zudem finden sich Lesende in längeren Texten weniger gut zurecht, wenn sie diese digital konsumieren.
  4. Wenn Schülerinnen und Schüler in der 10. Klasse Texte lesen, dann ist ihr Leseverständnis leicht aber signifikant besser, wenn das analog geschieht. Anne Mangen und ihr Team mutmassen ihrer Studie von 2013, dass es einfacher ist, in einem analogen Leseprozess Informationen in einem Text zu finden.
  5. Papier führt generell zu nachhaltigeren Lernprozessen, auch wenn Schülerinnen und Schüler zeitlich unter Druck stehen. Das könnte, so mutmassen die Autoren dieser aktuellen Studie, auch mit Lerngewohnheiten zusammenhängen, die in der Schule erworben werden.

Während oft herkömmliche Testformen Schülerinnen und Schüler bevorzugen, die mit Papier lernen, dürfte es also durchaus erhebliche kognitive Unterschiede geben zwischen analogem und digitalem Lernen. Die Geschwindigkeit des Lesens ist wohl oft einem Lernprozess abträglich. Was Roland Reichenbach in einer allgemeinen Reflexion digitaler Medien im Lernprozess schreibt, dürfte also auch fürs Lesen gelten:

«Zeit gewinnen, sondern: Zeit verlieren!», lautet eine vielzitierte Stelle aus Jean-Jacques Rousseaus «Emile». Mit dem Satz kann eine Menge pädagogischer Unfug und didaktischer Leerlauf gerechtfertigt werden. Einerseits. Andererseits kommen damit eine Intuition, eine Einsicht und eine Erfahrung zum Ausdruck, die mehr sind als launenhafte Lust an der Paradoxie. Die Menschen leben immer länger als die Generationen vor ihnen, aber auch immer schneller, und überall entdecken sie lästige Zeitverschwendung, alles dauert immer mehr zu lange.

Lynda Barry: The 20 Stages of Reading.
Lynda Barry: The 20 Stages of Reading.

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Lynda Barry: The 20 Stages of Reading.
Lynda Barry: The 20 Stages of Reading.

Studie: Facebook führt zu schlechter Stimmung

Eine neue Studie von Christina Sagioglou und Tobias Greitemeyer, die im Juni publiziert wird, belegt einerseits, dass die Nutzung von Facebook zu schlechterer Stimmung führt, kann aber andererseits auch nachweisen, warum das Menschen nicht davon abhalten kann, Facebook zu nutzen.

Ich fasse die relevanten Ergebnisse und Methoden zusammen, wie immer verschicke ich gerne Privatkopien der Untersuchung an interessierte Leserinnen und Leser (Mailanfrage).

Die Forscherin und der Forscher ließen Studienteilnehmer nach einer Aufforderung entweder 20 Minuten Facebook nutzen, 20 Minuten im Web surfen oder 20 Minuten nichts dergleichen tun, um eine Vergleichsbasis zu etablieren. Direkt im Anschluss – das das Neuartige an der Studie – wurden sie online befragt.

Facebook führte zu einer leicht (aber signifikant) schlechteren Stimmung und zu einer Aktivität, die als deutlich weniger bedeutsam erlebt wurde als die anderen beiden Tätigkeiten. Allerdings ändert sich die Stimmung bei den Facebook-Usern nicht, die das soziale Netzwerk als gehaltvoll erleben. Es wäre also denkbar, dass die erlebte Bedeutungslosigkeit der Facebooknutzung auf die Stimmung schlägt.

Diese Frage wurde aber separat noch einmal untersucht. Besonders erstaunlich ist, dass die Facebooknutzung nicht minimiert wird, obwohl sie zu schlechter Stimmung führt. Allerdings gibt es vergleichbare Phänomene: Auch Rache oder die Möglichkeit, eine Entscheidung zu ändern, führen im Vergleich zu alternativen Handlungen nicht zu befriedigenden Resultaten, werden aber dennoch häufig gewählt, wenn die Möglichkeit besteht. Bei Facebook stellte sich heraus, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie die Erwartung hatten, sich nach der Facebooknutzung besser zu fühlen, das aber nicht eintrat.

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In der Diskussion ihrer Ergebnisse merkt das Autorenteam an, dass die Motivation, weshalb Menschen Facebook nutzen, genauer untersucht werden müsse – weil die bewussten Gründe oft nicht präzise sind. Hinzu kommt das Problem, dass Selbstauskünfte in Online-Befragungen einer Reihe von möglichen Verzerrungen ausgesetzt sind.

 

Verständnis oder Härte in der Schule?

Immer wieder stoße ich in der pädagogischen Arbeit auf eine Frage, welche an den Kern dessen geht, was in der Schule praktiziert wird. Ich mache sie an einem Beispiel fest: Eine Schülerin bittet mich am Tag vor der Prüfung darum, diese auf einen Termin nach den Ferien verschieben zu können. Sie sei privat und in der Schule stark unter Druck und könne nicht so auf die Prüfung lernen, dass sie die nötige Sicherheit habe.

Ich stehe vor einem Dilemma: Entweder zeige ich Verständnis und gehe auf den Wunsch der Schülerin ein, was für mich naheliegend ist, da ich mir wenig Lerneffekt von einer Prüfung verspreche, die unter großem Druck und ohne entsprechende Vorbereitung abgelegt wird – oder ich bestehe auf dem frühzeitig kommunizierten Termin und zeige Härte.

The cure for everything is salt water. Sweat, tears, the sea. - Isak Dinesen
The cure for everything is salt water. Sweat, tears, the sea. – Isak Dinesen

Am Gymnasium, so ein immer wieder gehörter Vorwurf, sei es Schülerinnen und Schülern möglich, mit immer neuen Ausreden Pflichten zu vernachlässigen, was in der Arbeitswelt und auch an Hochschulen so nicht möglich sei. Gewöhnten sie sich daran, dass auf ihre Anliegen Rücksicht genommen werde, würden sie weich und entwickelten die nötigen Kompetenzen im Umgang mit Terminen und Druck nicht.

Auf der anderen Seite steht für mich die Frage, wie sinnvoll eine Welt ist, die Menschen Bedingungen setzt, die qualitativ hochwertige Arbeit verhindern. Soll die Schule diese Bedingungen simulieren, weil sie in der Arbeitswelt große Verbreitung finden?

Meine Haltung ist das Gespräch darüber: Aufzeigen, wie viel Spielraum ich wirklich habe; diskutieren, ob es sich lohnt, eine Anstrengung aufzuschieben oder durchzustehen; darüber sprechen, dass zu hohe Ansprüche an die eigene Arbeit lähmend wirken können, weil Perfektionismus ineffizient ist.

Befriedigend ist das aber nicht immer: Verhandeln ist anstrengend und führt nicht immer zu zufriedenstellenden Resultaten.

Wie gehen andere Lehrpersonen mit diesem Konflikt um?

Der Privatsphäre geht es ganz gut

Instagram, Caroline Spring
Instagram, Caroline Spring

Nathan Jurgenson, ein amerikanischer Soziologe, den ich aufgrund seiner kritischen Arbeiten zum digitalen Dualismus sehr schätze, hat bei Wired einen dichten Essay zur Privatsphäre im Web 2.0 publiziert. Im Folgenden fasse ich seine wesentlichen Aussagen zusammen.

Weil das Leben keine Datenbank ist, ist Privatsphäre nicht etwas, was an- oder ausgeschaltet werden kann. Sie ist vielmehr ein Spiel, bei dem es um Enthüllungen und Verhüllungen geht. Nur weil viele Informationen einer Öffentlichkeit oder einer Halböffentlichkeit zugänglich sind, ändert sich das nicht: Auch wenn auf Instagram viele Momente des Tages dokumentiert werden, ergeben sich dennoch viele Zwischenräume oder Lücken:

When you post a photo on Instagram, it offers up not just answers but hints at new questions: Who were you with and why? What were you feeling? What happened between the updates, and why was it left out? Secrets, creative concealments, the spaces between posts—this is where privacy flourishes today.

Jurgenson verweist auf Danah Boyds Analyse der Privatsphäre von Jugendlichen, die Techniken einsetzen, um trotz öffentlicher Kommunikation Geheimnisse schützen zu wollen. Zentral, so Jurgenson, sei die Fähigkeit, kontrollieren zu können, was wann enthüllt wird. Richtige Privatsphäre ist Autonomie und die gibt es weiterhin. Jurgenson verweist auf Möglichkeiten, eine Fülle von Informationen zu publizieren und sie dann schrittweise wieder zu löschen.

Viele Menschen, das zeigen Untersuchungen, legen einen großen Wert darauf. Sie verzichten bewusst darauf, Momente ihres Lebens abzubilden und mitzuteilen. War es in den Zeiten der analogen Fotografie ein Zeichen für die Bedeutung eines Ereignisses, dass es fotografiert wurde, ist das heute umgekehrt: Was nicht fotografiert wird, ist Menschen wirklich nahe.

Jurgensons Fazit: Öffentlichkeit nimmt der Privatsphäre nicht den nötigen Raum, sondern ermöglicht sie. Was privat und was öffentlich ist, hängt von einander ab.

Eine Woche »freihändyg« – eine Bilanz

FotoIch habe eine Woche lang Abstand genommen von meinem Smartphone und meinen digitalen Gewohnheiten. Vorgenommen hatte ich mir Folgendes:

Ich werde vom Montagmorgen bis Freitagabend:
a) mein Smartphone im Büro meiner Wohnung lassen
b) kompletter Verzicht auf soziale Netzwerke, insbesondere Twitter, Facebook, Google+, Instagram und Tumblr.
c) meine Mails täglich nur ein einziges Mal abrufen und bearbeiten.

Gelungen ist mir b). Ich habe mich kein einziges Mal eingeloggt, keine Nachricht gelesen. Schon am Montagmorgen musste ich die Push-Benachrichtigungen abschalten, weil mich die Twitter-Mentions dennoch erreicht haben.

Bei a) und c) bin ich schon am Montag brutal gescheitert. Eine kurzfristige familiäre Planänderung erforderte, dass ich unterwegs telefonieren oder Nachrichten verschicken musste. Dann erreichten mich andere dringende Anfragen, so dass ich zwar deutlich weniger oft SMS und Emails gelesen habe, aber doch alle drei, vier Stunden.

Was waren meine Erfahrungen? Mein Leben ändert sich geringfügig. Einiges fällt mir leichter: Ich hatte mehr Einfälle, arbeitete zielorientierter, wurde ruhiger und geduldiger. Vieles wurde mühsamer: Die Investitionen in meine Netzwerke führen dazu, dass ich wichtige Informationen sehr gezielt aufnehmen kann und regelmäßig direktes Feedback erhalte. Beides fehlte mir, ebenso wie Notizen zu synchronisieren und andere Hilfsmittel für meine Produktivität.

Die größten Veränderungen bemerkte ich bei Kleinigkeiten: Ohne genaue Zeitangabe durch den Tag zu gehen führt zu Gelassenheit, weil immer ein paar Minuten übrig sind. Eine Woche keine Musik zu hören zu bewussterer Wahrnehmung. Meine Handschrift ist untauglich, ich kann weder übersichtliche Notizen anlegen noch leserlich schreiben und werde das wohl auch nicht mehr lernen.

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Im Allgemeinen führen Stress und Müdigkeit bei mir dazu, dass ich mich auf Twitter oder Facebook in Diskussionen verstricke, die selten zu produktiven Resultaten führen. Dagegen habe ich schon mehrfach anzukämpfen versucht, vergeblich. Ich bin weit davon entfernt, mich hier defätistisch in ein scheinbares Schicksal zu fügen, aber auch nicht bereit, mir eine Social-Media-Askese aufzuerlegen, die alle wertvollen Aspekte gleichermaßen verunmöglicht. Gleichzeitig ist für mich auch eine gewisse Erholung und Me-Time damit verbunden, in der Timeline nachzulesen, was andere schreiben oder eine Partie Threes zu spielen.

Digitale Kommunikation ist für mich wie essen. Ich esse gerne. Manchmal zu viel, manchmal zu schnell, manchmal zu wenig bewusst. Unter Druck esse ich oft Ungesundes. Daran arbeite ich immer wieder. Aufhören zu essen ist aber keine Option.

 

 

 

 

 

Social-Media-Sucht

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In Diskussionen über die Nutzung Neuer Medien ist der pathologisierende Vorwurf omnipräsent, jemand sei Facebook-abhängig oder Twitter-süchtig. In meinem Buch habe ich darüber Folgendes geschrieben:

Wenn Jugendliche oder auch Erwachsene oft mit ihren mobilen Geräten kommunizieren, lässt sich daraus keine Aussage über eine mögliche Abhängigkeit gewinnen. Kommunikation ist ein zentrales menschliches Bedürfnis. Sucht beginnt dort, wo eigene Bedürfnisse überdeckt, ersetzt, vernachlässigt oder ignoriert werden. Social Media bieten diese Möglichkeit, wie viele andere grundsätzlich unproblematische Tätigkeiten auch, z. B. essen oder arbeiten. (S. 89)

Dieses Kriterium (Bedürfnisse ersetzen oder vernachlässigen) ist recht vage – daher möchte ich kurz präzisieren, was in der Forschungsliteratur als entscheidende Symptome für Medienabhängigkeit angeführt werden. Ich fasse zusammen und werde daher nicht einzelne Studien zitieren – einen guten Überblick über die aktuelle Diskussion bietet die Bachelorarbeit von Regula Baumann und Robin Staufer.

  1. Sowohl zeitlich als auch gedanklich setzt sich eine Person immer stärker mit der Nutzung von Social Media auseinander und verliert dadurch Verhaltensmöglichkeiten. Sie erlebt das als Kontrollverlust; oft nutzt sie Social Media gegen ihren Willen.
  2. Dieser eingeschränkte Handlungsspielraum wirkt sich negativ auf die schulische oder berufliche Leistung einer Person aus.
  3. Aus 1. und 2. resultieren häufige Konflikte mit wichtigen Bezugspersonen,
  4. die in einen sozialen Rückzug münden, damit genügend Zeit vorhanden ist, sich den medialen Aktivitäten zu widmen.
  5. Damit sind häufig Lügen verbunden: Abhängige geben vor, weniger Zeit mit Social Media zu verbringen, als das tatsächlich der Fall ist.
  6. Die Nutzung als immer weniger befriedigend empfunden, weil Toleranz aufgebaut wird. Resultat: Was zu Beginn der problematischen Nutzung zu Euphorie geführt hat, kann nur noch durch hohen emotionalen und zeitlichen Aufwand erreicht werden.
  7. Eingeschränkte Nutzungsmöglichkeiten führen zu Entzugserscheinungen.
  8. Versuche, die Nutzung einzuschränken, scheitern.
  9. Die Sucht hat körperliche Konsequenzen wie Schlafmangel, Über- oder Untergewicht etc.

Für die Prävalenzrate in Bezug auf Social-Media-Abhängigkeit gibt es sehr unterschiedliche Zahlen. Die PINTA-Studie, mit der 2011 in Deutschland die Prävalenz von Internetabhängigkeit untersucht worden ist, ermittelte eine Gesamtrate von 1.5%. Bei Jugendlichen liegen sie etwas höher, besonders zwischen 14 und 16 Jahren: Je nach Methode werden sie dort auf insgesamt zwischen 4.0 und 6.3% geschätzt, junge Frauen sind dabei deutlich gefährdeter als Männer (zwischen 4.9 und 8.6%, wiederum methodenabhängig). Die Autoren der Studie schreiben dazu:

Bei Betrachtung der Altersgruppen und der Verteilung innerhalb der Geschlechter ist auffällig, dass in den jungen Altersgruppen die Prävalenzraten der Mädchen die der Jungen übersteigt. Verglichen mit früheren Befunden war dies nicht erwartbar. […] Betrachtet man die jeweilig Auffälligen in der Gruppe der 14- bis 24-Jährigen, so findet man Unterschiede in den Präferenzen der Internetaktivitäten. Zwar wird von beiden Gruppen am häufigsten angegeben, dass Soziale Netzwerke genutzt werden, dieses ist jedoch besonders ausgeprägt bei weiblichen Personen, die hingegen eher selten Onlinespiele nutzen. Insgesamt und gerade für diese unerwarteten Befunde bei den jungen weiblichen Probanden wird in zukünftigen Studien zu klären sein, ob die gefundenen Auffälligkeiten tatsächlich im Sinne einer Störung zu verstehen sind, für die Hilfe benötigt wird. Dazu ist es notwendig vertiefende Interviews zu führen, die die klinische Bedeutsamkeit auf der Ebene der Symptome und Kriterien wie auch der damit verbundenen Beeinträchtigungen erfassen.

Im Rahmen der Untersuchung wurde unten stehender Fragenkatalog telefonisch abgerufen (S. 8).

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Das komplexe Verhältnis von Social Media und Magersucht

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Ein Instagram-Profil einer jungen Frau. Sie sagt von sich, sie sei 13 Jahre alt und 56 kg. Sie wäre gerne 45 kg, bei einer Körpergröße von 163 cm. Ihr aktuelles Gewicht liegt in ihrer Altersgruppe zwischen den Perzentilen 75 und 90, d.h. sie ist normalgewichtig, aber überdurchschnittlich schwer. Ihr Wunschgewicht liegt knapp über der Perzentile 10, die gemäß Gesundheitsförderung.ch die Grenze zu Untergewicht markiert.

Das Mädchen veröffentlicht Bilder unter dem Profil wantaskinnybody_ und entschuldigt sich darauf: »I’m sry I’m Fat« – »entschuldigung, ich bin dick«. Ihr Einträge – siehe unten – versieht sie mit einer Reihe von Hashtags, darunter auch #anorexia, #skinnylove, #ana, #magersucht. Sie weist immer wieder auf ihre Profile bei Kik und WhatsApp hin.

Bildschirmfoto 2014-02-04 um 13.00.18Wie authentisch das Profil ist, kann schwer beurteilt werden. Aber es zeigt, mit welchen Mechanismen Menschen – betroffen sind überwiegend junge Frauen – Social Media nutzen, um eine Gemeinschaft zu finden, die sie in ihrem Ziel, dünn zu werden und zu bleiben, unterstützt und berät. Diese Gemeinschaften gibt es schon länger. Im Netz gibt es unzählige Seiten mit Tipps, konkreten Diätvorschlägen für anorexische Menschen und so genannter »thinspiration«, also Inspriation, dünn zu werden oder zu bleiben, meist Bilder und Zitate.

Was für Außenstehende krank wirkt und auch im medizinischen Sinne eine Krankheit ist, wird zum Thema einer Community, deren Mitglieder Essstörungen zwar teilweise rational beurteilen können, aber dennoch keinen Wunsch verspüren, sich behandeln zu lassen. Eine Bloggerin schreibt beispielsweise:

Man sagt, Anorexie sei eine Krankheit. Und das stimmt auch. Es ist eine psychische Krankheit, die einen nur schwer wieder los lässt. Abnehmen um jeden Preis. Auch oft um das eigene Leben, also rate ich jedem, der nicht betroffen ist, sofort diese Seite zu verlassen! Ich bin zwar pro-ana, aber nur, weil ich es mit mir so besser vereinbaren kann. Ich finde mich nur schön oder eigentlich nur annehmbar, wenn ich wenig esse und dünn bin. Das trifft aber nicht auf andere Personen zu. Weiblich zu sein und dazu zu stehn ist sicher das Größte auf dieser Welt!! Doch kann ich das nicht… Für mich ist Ana (Anorexie) also zu einer Art Lebenseinstellung geworden, denn wenn ich täglich daran denke krank zu sein, hilft es mir nicht. Noch will ich nicht raus aus dieser Sache. Vielleicht ändert sich das ja eines Tages. Aber ich kann es mir nur schwer vorstellen…

Wie Sonja Samuda in einer Notiz festgehalten hat, handelt es sich bei Pro-Ana-Gruppen um Selbsthilfegruppen, bei denen aber die gegenseitige Unterstützung widersprüchlich ist. Während die meisten TeilnehmerInnen die Zugehörigkeit als wertvoll empfinden, sind »die Erwartungen der TeilnehmerInnen an die zahlreichen Gruppen dabei keineswegs homogen«, wie Samuda schreibt. Einige beziehen Tipps, und zwar nicht nur für Diäten, sondern auch dafür, wie eine medizinische Behandlung unwirksam gemacht werden kann. Anderen ebnet die Community den Weg zu einer Therapie.

* * *

Um diese Eindrücke zu vertiefen und mit Studien zu verbinden, seien die wichtigsten Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Forschung zu Social Media und Essstörungen im Folgenden kurz zusammengefasst:

  1. Extreme emotionale Reaktionen zu Bildern von Essen und über- oder untergewichtigen Menschen scheint ein Symptom einer Erkrankung an Anorexia Nervosa zu sein. (Spring und Bulik, 2014)
  2. Pro-Ana-Profile führen zu einer spezifischen Online-Identität, welche die Offline-Identität beeinflusst und von ihr beeinflusst wird. Die Online-Rituale, die sich in entsprechenden Gemeinschaften ergeben, führen zur Arbeit an dieser Identität und lösen eine breite Palette von Emotionen aus (Euphorie, Verbundenheit, Zielorientierung, Ekel). Diese Rituale führen – ähnlich wie bei religiösen Bewegungen – zu einer Gruppenidentität, für welche die körperliche Anwesenheit nicht nötig ist, aber teilweise durch Bilder ersetzt wird. Sie etablieren spezifische Ausschlussverfahren für Outsider, teilen ein Ziel und viele Erfahrungen. Die Wirkung der Rituale ist für Teilnehmende eine Bestärkung: Viele sagen, sie könnten nur mit ihrer Anorexie weitermachen, weil es Pro-Ana – also den Austausch im Netz – gebe. (Maloney, 2012)
  3. Präventionsarbeit ist wenig wirksam, wenn sie die Widersprüche zwischen Anorexie als Lifestyle und Anorexie als Krankheit einerseits, zwischen Verhaltensweisen offline und online andererseits aufzulösen sucht. Anorexie ist ein Beispiel dafür, wie Körper, Begehren und Identität zusammenspielen und medialisiert und nicht-medialisiert komplexe Einflussmuster entfalten, die nicht in einfache Modelle rückübersetzt werden können. (Dyke, 2013)
  4. Der Einfluss von Medien und Social Media auf das Körpergefühl und Essverhalten wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Juarez et al., 2012, haben nachgewiesen, dass die Beschäftigung mit Pro-Ana-Seiten sowohl zum Wunsch nach Gewichtsverlust wie zum Wunsch nach Muskelaufbau signifikant beitragen, während die Daten von Ferguson et al., 2012, eher dafür sprechen, dass Gruppeneffekte zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und zu Symptomen von Essstörungen führen, während Medien keinen nachweislichen Einfluss darauf haben. Social Media können Gruppeneffekte verstärken.
  5. Die Peer Group ist hauptverantwortlich für die »Stimme der Autorität«, die Patientinnen und Patienten mit Anorexie oft erleben. Über Imitation und Wettbewerb entsteht so ein massiver Einfluss, welcher Heilungschancen von Therapien stark beeinträchtigen kann. Er wird mittels Social Media effizient organisiert, so dass ein Einbezug und eine Analyse von individueller Interaktion mit Pro-Ana-Gruppen und -Peers in eine Therapie heute unumgänglich scheint. (Allison et al., 2014)
  6. Eine Netzwerkanalyse französischer Pro-Ana-Seiten zeigt, dass Zensur im Netz deshalb fatale Folgen haben kann, weil sich über diese Netzwerke auch die Informationen verbreiten, welche den Anstoss für Therapien geben können oder die an Anorexie Leidenden psychisch unterstützen können, wenn es das Umfeld nicht mehr kann. (anamia.fr, 2013)

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Was Karen Dias aus einer feministischen Perspektive schreibt, gilt gemäß der aktuellen Forschung für die ganze Pro-Ana-Bewegung:

Given that women’s bodies and experiences of embodiment are subjected to relentless surveillance in the public sphere, cyberspace can potentially provide a space for women to meet safely as opposed to traditional public spaces and places in the built environment. Cyberspace can be conceptualized as an alternative space for women with eating and body issues, one that may serve as a sanctuary.

Das Verhältnis von Social Media, Essstörungen, Gruppenverhalten und Identität ist ein komplexes. Es gibt kaum einfache Einflüsse, aus denen sich Massnahmen ableiten ließen. Wertungen sind so wenig möglich wie generelle Aussagen – alle wissenschaftlichen Studien betonen, wie individuelle sich an Anorexie Erkrankte und ihre Peer Groups verhalten würden. Lifestyle und Selbsthilfe, Inszenierung und Leiden, Unterstützung und Gruppendruck verschmelzen, gehen in einander über.

Selfies at Funerals – Narzissmus und Trauer in Social Media

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Das Portrait dieser jungen Frau hat sie selbst aufgenommen »Love my hair today. Hate why I’m dressed up #funeral« ist ihr Kommentar dazu – also: Sie möge ihre Frisur, aber sei unglücklich darüber, weshalb sie sich aufgebrezelt habe: Für eine Bestattung nämlich.

Die Reaktion Erwachsener auf die Praxis Jugendlicher, sich auf Trauerfeier selbst zu inszenieren, scheint absehbar: Das Verhalten wird als zutiefst narzisstisch und pietätlos eingeschätzt. Doch stimmt das?

Zunächst könnte man einfach festhalten, dass wir alle einen individuellen Zugang zum Trauern haben. Es gibt zwar gesellschaftliche Normen, und doch wissen wir, dass wir in Trauerphasen uns selten an Normen orientieren. Und wenn, dann sind diese Normen ebenso fragwürdig wie das digitale Selbstportrait: Warum ziehen wir uns schön an, wenn es doch um die Toten gehen soll? Warum schlagen wir uns den Bauch voll und trinken mittags Alkohol, wenn es doch darum geht, von jemandem in Würde Abschied zu nehmen? Man könnte gut einen Tumblr mit »drunk adults at funerals« oder »people eating sandwiches at funerals« füllen.

Selfies sind, so kann man annehmen, knappe Tagebucheinträge, die sich an ein limitiertes Publikum richten. Die junge Frau könnte uns sagen: Schaut mal her, mir ist was Trauriges passiert, ich muss zu einer Trauerfeier. So sehe ich aus. Damit dokumentiert sie ihren Tag, sie kann später darauf zurückgreifen, sieht sich selbst ins Gesicht und kann Erinnerungen abrufen. Wir würden niemandem einen Vorwurf machen, der oder die einen Tagebucheintrag über ein Begräbnis schreibt. Und wir würden ihn auch nicht lesen, wenn wäre er nicht an uns gerichtet. Und nicht auf Blogs – wie diesem – ausstellen…

So sieht man, dass die Jugendlichen mit ihren Aufgaben, eine eigene Identität zu finden und ein Beziehungsnetz zu knüpfen, oft alleine gelassen werden. Wird zu sichtbar, welcher Methoden sie sich bedienen, müssen sie mit Spott und Ablehnung von Erwachsenen rechnen, die oft nicht einmal zu verstehen versuchen, was hier abläuft.

Social Media ist im Moment ein Sammelsurium von medialen Handlungen, für die es kaum einen Kodex oder eine klare Norm gibt. So entwickeln sich Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, letztlich aber eine bestimmte Funktion haben. Diese Funktion zu erkennen, scheint mir wichtiger als »selfies at funerals« abzulehnen.