Videos erfordern eine neue Alphabetisierung

In seiner Abrechnung mit Fernsehen und »Show Business«, Amusing Ourselves To Death  von 1985 notiert Neil Postman:

American television is, indeed, a beautiful spectacle, a visual delight, pouring forth thousands of images on any given day. The average length of a shot on network television is only 3.5 seconds, so that the eye never rests, always has something new to see. Moreover, television offers viewers a variety of subject matter, requires minimal skills to comprehend, and is largely aimed at emotional gratification. (Kap. 6, The Age of Show Business)

Während er in den 80er-Jahren durchaus Recht haben mochte, hat Postman übersehen, wie neue Medien zu einer neuen Art von Alphabetisierung (auf Englisch redet man von neuen literacies) führen. Bewegte Bilder – Videos, Fernsehen – waren zur Zeit von Postmans Niederschrift ein Medium, mit dem nur ein limitierter Umgang möglich war – deshalb waren auch die Anforderungen an Zuschauende tief (»minimal skill to comprehend«).

Das hat sich geändert: Seit Fernsehen vermehrt aufgenommen wird und Videorekorder in allen Formen es erlauben, Szenen mehrmals und verlangsamt zu schauen, wird es möglich genauer hinzusehen, mehrmals dasselbe zu sehen. Dadurch steigen die Anforderungen an die Zuschauerinnen und Zuschauer. Zwei Beispiele:

  1. In seinem neuen Buch über die Mathematik bei den Simpsons erwähnt Simon Singh mehrere »freeze-frame gags«. Dabei handelt es sich um Scherze, die nur in einer Einstellung überhaupt sichtbar sind – also nur dann erkannt werden, wenn eine Simpsons-Folge mehrmals geschaut wird und an entscheidenden Stellen gestoppt werden kann. Als Beispiel hier die zweite Zeile, wo Homer scheinbar Fermats Theorem widerlegt.

    Simpsons, S10E02
    Simpsons, S10E02
  2. In der Analyse der zweitletzten Folge der vierten Staffel von Breaking Bad hat der Youtube-User jcham979 eine begründete Vermutung aufgestellt, wie die Staffel enden wird. Seine Prognose war richtig – sie basierte auf der sorgfältigen Analyse von Schlüsselstellen, die er in einem Video zusammenstellt.

Youtube, so bemerkt Clive Thompson in seinem Buch Smarter Than You Think, ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Alphabetisierung der Videosprache funktionieren könnte. Neue Medien, so seine These, würden zunächst immer Formate aus anderen Medien imitieren und erst durch den Gebrauch einer eigenständigen Funktion zugeführt.

Was sich bei Fernsehserien schon gut zeigen lässt, weil es sie schon recht lange gibt und sie seit der HBO-Revolution um 2000 zu dem geworden sind, was sie im Zeitalter von digitalem Fernsehen sein können (vgl. dazu meinen Aufsatz über die Erzählstruktur von The Sopranos), ist bei Online-Videos noch offen. Thompson geht davon aus, dass sie erst dann einen großen Schritt vorwärts machen, wenn sie vom Massenmedium zum persönlichen Kommunikationsmedium werden. Das sei dann der Fall, wenn sie Post-It-Status erhalten – genau so, wie wir Notizen auf Post-Its machen, die uns helfen, unser Denken zu strukturieren aber gleichzeitig auch komplett wertlos sind: Genau so werden wir Videos machen um zu denken und zu kommunizieren.

Die unten zu sehen Einstellung der Webcam, so Thompson, sei im herkömmlichen Film und Fernsehen verpönt gewesen, weil sie hässlich ist. In der Geschichte der bewegten Bilder sei es aber mittlerweile die häufigste Einstellung – weil sie Menschen ermöglicht, selbst Filme zu drehen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie enthält großes kreatives Potential für die Weiterentwicklung des Mediums Video.

Bildschirmfoto 2013-09-26 um 20.03.31
Youtube-Video mit Webcam. Quelle

Thompson verweist auf die Geschichte der Photographie. Die Manipulierbarkeit von Bildern schien lange eine große Bedrohung für ihren Wahrheitswert zu sein. Sobald aber alle Bilder mit ein paar Klicks am Computer verändern können, entsteht die Möglichkeit, in einem höheren Sinne wahre Bilder zu machen. Unternehmen und Regierungen, die Bilder manipulieren, werden heute fast immer dabei erwischt, weil alle nachvollziehen können, wie das geschehen ist.

Umgekehrt können Bürgerinnen und Bürger manipulierte Bilder nehmen, um eine Wahrheit auszudrücken, die politisch unterdrückt wird. Das geschah nah dem Zugunfall in Wengzhou 2011: Die chinesische Regierung versuchte Kritik im Keim zu unterdrücken, indem sie gewisse Informationen zurückbehielt und eine saubere Untersuchung der Unfalls verhinderte. Auf den sozialen Netzwerken in China gab es heftige Reaktionen auf die Politik der Regierung, die durch verschiedene Zensurmassnahmen nur eingeschränkt zu sehen waren. Bild-Text-Kombinationen, wie sie aus so genannten Memes bekannt sind, blieben aber lange online, weil sie durch herkömmliche Zensurverfahren nicht erfasst werden konnten – sie enthielten ja weder Originalbilder noch verwerflichen Text.

Übersetzung: Das glaube ich eher als die offizielle Version.
Übersetzung: Das glaube ich eher als die offizielle Version.

* * *

Ein letztes Beispiel ist der Zapruder-Film. Er wurde während der Ermordung des amerikanischen Präsidenten Kennedy gedreht und war die Basis zahlloser Verschwörungstheorien. Der Dokumentarfilmer Errol Morris unterhält sich in einem lesenswerten Gespräch mit Ron Rosenbaum über die Bedeutung dieses Films. Der Film wurde Jahrzehnte lang vor dem Publikum versteckt – nun kann er in Zeitlupe auf Youtube betrachtet und analyisert werden.

Das Versprechen, dass die Wahrheit so ans Licht kommt, ist aber trügerisch, so die Pointe von Morris:

Another thing we know is that we may never learn. And we can never know that we can never learn it. We can never know that we can’t know something. This is the detective’s nightmare. It’s the ultimate detective’s nightmare.

Leibniz und die Bücherflut

Giuseppe Arcimboldo: The Librarian (1566)
Giuseppe Arcimboldo: The Librarian (1566)

Die Lektüre von Clive Thompsons Buch »Smarter Than You Think« erlebe ich momentan gerade als äußerst anregend, gerade auch deswegen, weil er auf vielfältige Beispiele und Zusammenhänge verweist, die uns dabei helfen, klar und präzise über digitale Technologie und ihre Auswirkungen auf uns Menschen nachzudenken. Während ich an einer Rezension arbeite, möchte ich einen Gedankengang aus Thompsons Buch separat aufgreifen (Thompson hat ihn wiederum von Ann M. Blair übernommen, vgl. »Too Much To Know«).

In einem nicht überschriebenen Manuskript (»Préceptes pour avancer les sciences«) von 1680 schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz:

[…] diese schreckliche Masse von Büchern, die ständig wächst, wird von der unbestimmten Vielfalt von Autoren dem Risiko des allgemeinen Vergessens ausgesetzt. Es droht eine Rückkehr in die Barbarei.

Und Adrien Bailliet, ein Biograph Descartes, notierte 1685 in »Jugemens des scavans«:

Wir haben Grund zur Furcht, dass die Menge der Bücher, die täglich anwächst, in den kommenden Jahrhunderten zu einem Rückfall führen wird, der den barbarischen Zuständen nach dem Zerfall des römischen Reiches gleichen wird.

Bailliet wie Leibniz haben sich getäuscht. Ihr Denkfehler war, die menschliche Kreativität im Organisieren von Wissen zu unterschätzen. Bailliet selbst begann, Bücher durch kurze Zusammenfassungen überschaubar zu machen, in der Frühneuzeit begannen Menschen, in Anthologien oder Florilegia wichtige Passagen aus anderen Büchern zu sammeln. Zudem wurden Bücher verbessert: Inhaltsverzeichnisse, Indexe, Seitenzahlen und auch Abschnitte waren Innovationen, welche dabei halfen, das unüberschaubare Wissen in Büchern greifbar und bearbeitbar zu machen.

Thompson schließt aus diesem historischen Beispiel, dass auch das digitale vorliegende Wissen ähnlich strukturiert wird. Blogs übernähmen beispielsweise die Funktion von Florilega, in denen sich Zitate weiterverbreiten, oder auch von Rezensionsbüchern – indem sie andere Werke verbinden, zusammenfassen, greifbar machen (mit allen Gefahren, die damit verbunden sind).

Each time we’re faced with bewildering new thinking tools, we panic—then quickly set about deducing how they can be used to help us work, meditate, and create.

Der Blick zurück ist tröstend: Er zeigt uns, dass unsere Befürchtungen, aber auch unser Optimismus oft sehr einseitig sind, wenn wir einen Wandel reflektieren. Harold Innis hat von einem »bias of a new tool« gesprochen – also festgestellt, dass neue Werkzeuge und Technologien zu verzerrten Wahrnehmungen und Trugschlüssen führen.

[Die Bildidee stammt von der ausführlichen Rezension von Maria Popova.]

Fear of Missing Out

Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.57.20

Online life provides plenty of room for individual experimentation, but it can be hard to escape from new group demands. It is common for friends to expect that their friends will stay available—a technology-enabled social contract demands continual peer presence. And the tethered self becomes accustomed to its support.

Das Leben online ermöglicht genügend individuelle Erfahrungen, aber es kann schwierig werden, sich Anforderungen von Gruppen zu entziehen. Es ist für Freundinnen selbstverständlich, von ihrem Freundinnen zu erwarten, dass sie verfügbar bleiben – ein Gesellschaftsvertrag, der ständige Präsenz der Peers verlangt. Und das angebundene Ich (tethered self) gewöhnt sich daran.

Diese Gewöhnung, die Sherry Turkle in ihrem Buch »Alone Together« beschreibt, führt zu einem Phänomen, das als Fear of Missing Out (FOMO) bezeichnet wird – deutsch: die Angst, etwas zu verpassen.

Eine umfassende Untersuchung von JWT Intelligence definiert FOMO als:

Fear Of Missing Out (FOMO) is the uneasy and sometimes all-consuming feeling that you’re missing out—that your peers are doing, in the know about or in possession of more or something better than you. FOMO may be a social angst that’s always existed, but it’s going into overdrive thanks to real-time digital updates and to our constant companion, the smartphone.

Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.57.35

Die Frage, ob FOMO eine Begleiterscheinung der gesellschaftlichen Organisation der Menschen sei, oder ob es durch die Nutzung von Social Media verstärkt werde, hat eine Gruppe Englischer Psychologinnen und Psychologen (Przybylski et al., 2013, Paywall – ich kann Paper bei Interesse per Mail verschicken) intensiver untersucht.

In einem ersten Schritt haben die Forscherinnen und Forscher Merkmale von FOMO bestimmt, aus denen sich ein Test ableiten lässt. Ich bette ihn als Google Form hier ein:

Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.41.06

Ihre umfassende Studie entwickelt ein Modell, wie FOMO entsteht und wie diese Angst mit dem Gebrauch von Social Media in Zusammenhang steht.

Sie gehen von drei grundlegenden psychologischen Bedürfnissen aus:

  1. Kompetenz: In der Welt effektiv handeln zu können.
  2. Autonomie: sich als Urheberin oder Urheber zu fühlen und Initiative übernehmen zu können
  3. Eingebundenheit: sich anderen nahe oder mit ihnen verbunden zu fühlen.

Die Frage ist nun, ob die Unterschiede in diesen Bedürfnissen direkt zur Benutzung von Social Media führe (wer sich wenig autonom oder eingebunden fühlt, benutzt Social Media) oder über FOMO indirekt (wer die Bedürfnisse schlecht befriedigen kann, entwickelt FOMO und benutzt deswegen Social Media).

Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.42.25

Die Studie zeigt nun folgende Resultate:

  1. Junge Menschen sind stärker von FOMO betroffen als ältere.
  2. Junge Männer sind stärker betroffen als junge Frauen.
  3. Wer mit den Bedürfnissen (Kompetenz, Autonomie, Eingebundenheit) weniger zufrieden ist, verspürt mehr FOMO.
  4. Wer unter leidet unter schlechter Stimmung, verspürt FOMO intensiver.
  5. Wer mit dem eigenen Leben weniger zufrieden ist, leidet stärker unter FOMO.
  6. Wer unter FOMO leidet, benutzt Social Media intensiver – unabhängig von 3., 4. und 5.

Das heißt, unterschiedliche psychologische Voraussetzungen führen zu FOMO und FOMO wiederum zur stärkeren Verwendung von Social Media.

Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.58.13
Quelle

Welche Auswirkungen hat FOMO? Auch hier wurde eine repräsentative, umfassende Untersuchung durchgeführt:

  1. Wer unter FOMO leidet benutzt Facebook intensiver und insbesondere direkt nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen.
  2. Wer unter FOMO leidet, erfährt häufiger negative Gefühle bei der Benutzung von Facebook.
  3. Wer unter FOMO leidet, lässt sich beim Lernen durch Social Media leichter ablenken.
  4. Wer unter FOMO leidet, lässt sich auch im Straßenverkehr (z.B. beim Autofahren) leichter ablenken durch Social Media.

Wie JWT festhält, gibt es einen Teufelskreis, der sich empirisch belegen lässt: FOMO führt zu intensiverer Nutzung von Social Media und intensivere Nutzung führt wiederum zu mehr FOMO.

Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.59.26

Das folgende Zitat weist darauf hin, dass zuerst über FOMO gesprochen werden muss, bevor die Frage gestellt werden kann, welche Auswege es gibt. Eine Beschränkung in der Nutzung von Social Media wäre – das zeigen die Untersuchungen – eine Symptombekämpfung. Die Basis von FOMO sind psychologische Faktoren, die unabhängig von Social Media vorliegen, dadurch aber verstärkt werden. Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.58.27

Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.58.51Bildschirmfoto 2013-09-12 um 09.58.39

Pornografie, Gamen – und die Entwicklung junger Männer

In seinem Vortrag und dem zugehörigen E-Book »The Demise of Guys« untersucht der Psychologe Philip G. Zimbardo zusammen mit Nikita Duncan die Fragestellung, warum junge Männer mit immer mehr akademischen, sozialen und romantisch-sexuellen Problemen konfrontiert seien. Die populärwissenschaftliche Argumentation geht von folgender Feststellung aus:

These guys aren’t interested in maintaining long-term romantic relationships, marriage, fatherhood and being the head of their own family. Many have come to prefer the company of men over women, and they live to escape the so-called real world and readily slip into alternative worlds for stimulation. More and more they’re living in other worlds that exclude girls — or any direct social interaction, for that matter.

Selbstverständlich ist Zimbardos Perspektive geprägt von einer normativen Vorstellung von Geschlechterrollen: Genügen Männer nicht einem heteronormativen Ideal einer traditionellen Familie und der Vorstellung der protestantischen Arbeitsethik, wird das als Problem wahrgenommen. Neben diese Kritik an »The Demise of Guys« möchte ich eine zweite Stellen: Zimbardo ist digitaler Dualist, denn er nimmt an, »the so called real world« sei wichtiger als ihre virtuellen Erweiterungen.

Die Problemanalyse verdient trotz dieser gewichtigen Einwände einen zweiten Blick. Neben einer sozialen Analyse (Wandel von Rollenbildern, Betreuungsmodellen, ökonomische Umwälzungen) weist sie auf zwei mediale Einflüsse hin, welche das Leben junger Männer erschweren – und zwar aus ihrer eigenen Sicht: Pornografie und Videogames machten junge Männer zunehmend schüchtern – und diese Schüchternheit zieht weitere unerwünschte Folgen nach sich.

Untersuchungen von Zimbardo und anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben ergeben, dass in den letzten 30 Jahren:

  • soziale Phobien von 2% auf 12% angestiegen sind (Definition: »marked and persistent fear of one or more situations in which the person is exposed to possible scrutiny by others and fears that he or she may do something or act in a way that will be humiliating or embarrassing«)
  • Schüchternheit bei Erwachsenen von 40% auf 58% angestiegen sind (Definition: Menschen bezeichnen sich selbst als schüchtern)
  • Schüchternheit bei Kindern zwischen 8 und 10 Jahren nach Angaben ihrer Eltern von 30% auf 61% angestiegen sind
  • Schüchternheit in Deutschland und den USA mit rund 60% doppelt so stark vertreten ist wie in Israel (30%)
  • Schüchternheit von rund 65% der Betroffenen als persönliches Problem bezeichnet wird.
2400357_1056887_b
Shy, Doc Diventia, society6

Obwohl die Zahlen keinen größeren Anstieg bei Männern als bei Frauen nahe legen, bezeichnet Zimbardo Schüchternheit für Männer aufgrund bestehender Normen als größeres Problem. Sie würden zunehmend eine wichtige Fähigkeit verlieren, nämlich ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht zu führen:

They don’t know the language of face contact, the nonverbal and verbal set of rules that enable you to comfortably talk with and listen to somebody else and get them to respond back in kind. This lack of social interaction skills surfaces most especially with desirable girls and women. (Demise of Guys, The New Shyness)

Warum liegen die Gründe dafür beim Porno- und Videospielkonsum? Es handelt sich um vertraute, kontrollierbare Umfelder. Die große Übung im Umgang mit diesen Medien verschafft jungen Männern eine große Kompetenz und versorgt sie mit regelmäßigen Stimuli, so dass die Eindrücke und Reize von Gesprächen mit Mitmenschen dagegen abfallen. Zudem handelt es sich dabei um unkontrollierbare Situationen mit ungewissem Ausgang, was mit viel Frustration verbunden ist. Es entsteht eine Art Teufelskreis: Je weniger geübt junge Männer in direktem Kontakt und Gesprächsführung sind, desto unbefriedigender verlaufen diese Erfahrungen für sie und desto stärker ziehen sie sich zurück.

Dieser Mechanismus leuchtet ein. Es ist irreführend, an dieser Stelle von Sucht zu sprechen, wie das Zimbardo tut. Mir scheint es wichtiger darauf hinzuweisen, dass Jugendliche sich alternative Handlungsmöglichkeiten erarbeiten sollten: Sie sollten möglichst frei wählen können, ob sie Zeit mit Freundinnen und Freunden verbringen oder vor dem Bildschirm. Tun sie aber nur letzteres, laufen sie Gefahr, ersteres entweder gar nicht zu lernen oder zu verlernen. Schüchternheit wäre ein Indikator dafür.

Auch der digitale Mensch ist ein Mensch

Zeynep Tufecki ist eine Forscherin, deren Arbeiten verdeutlichen, welche Funktion Social Media für das Leben der Menschen heute haben. Ihren Aufsatz  »We Were Always Human« habe ich heute mit großem Interesse gelesen und möchte die wichtigsten Argumentationslinien hier nachzeichnen.

Tufecki geht von einer dualistischen Definition des Menschen aus: Er verbindet eine körperliche Präsenz mit einer symbolischen. In der Stimme sind sie verbunden, in der Schrift – so zeigt ein Verweis auf eine berühmte Platon-Stelle – nicht. Die Schrift lässt sich vom Körper trennen und erzeugt so eine körperlose Symbolik:

Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht passt, und sie selber weiß nicht, zu wem sie reden soll, zu wem nicht. (Platon,  Phaidros 275D)

Technologie, so führt Tufecki ihre Argumentation weiter, ändere an der Dualität des Menschen nichts: Weder die Bibliothek von Alexandria noch die Erfindung der Schreibmaschine, des Telegrafen oder des Internets. Aber Menschen würden daran arbeiten, die Sphäre des Symbolischen zu erweitern und zu externalisieren.

Das kann in der frühen Phase des Internets beobachtet werden, in der vornehmlich wohlhabende, aufgeschlossene, junge, weiße Männer digitale Kommunikation verwendet haben, um damit multiple und fragmentarische Persönlichkeiten zu entwerfen, die sich oft rein symbolisch manifestierten und keine körperlichen Konsequenzen hatten.

Heute, in Zeiten von Social Media, nähere sich die digitale Bevölkerung der realen an – und sei damit viel stärker an Körper gebunden, der letztlich alle Rollen, die Menschen online einnehmen könnten, verbinde. Dadurch wird deutlich, dass frühe theoretische Arbeiten zum Internet einen Digitalen Dualismus vertreten haben, der nicht haltbar ist: Der symbolische Bereich des Menschen kann nicht als »Cyberspace« oder »virtuelle Welt« von der körperlichen, realen Welt gelöst werden, weil sonst auch alle Bücher, Höhlenmalereien oder Telefongespräche eine »virtuelle Welt« bilden würden.

Samuel Schimek: Facebook This. Social Media Photobooth.
Samuel Schimek: Facebook This. Social Media Photobooth.

Tufecki hat die Nutzung von Facebook früh intensiv untersucht. Wie Daniel Miller spricht sie davon, es gäbe nicht ein Facebook, sondern für jede Kultur eines. Sie macht nun in ihrem Aufsatz mehrere aufschlussreiche Feststellungen:

  1. Unabhängig von ihren Einstellungen passen sich Menschen – z.B. in Bezug auf Privatsphäre – an die in ihrer Community herrschenden Normen in einem sozialen Netzwerk an.
  2. Deshalb agieren viele dort mit ihrem realen Namen, obwohl sie Bedenken in Bezug auf ihre Privatsphäre haben.
  3. Auf Facebook sind viele Nutzerinnen und Nutzer »Grassroot Surveillance« ausgesetzt, also einer niederschwelligen Überwachung durch ihre Mitmenschen, die es ihnen erschwert, verschiedene Rollen anzunehmen, ohne – im Fall von Jugendlichen – von ihren Eltern, ihren Lehrpersonen oder ihren Freunden dabei indirekt beobachtet zu werden.
  4. Dadurch werden sich neue Normen und Umgangsformen ergeben, die aber noch nicht genügend entwickelt sind, so dass gerade Facebook zur Zeit von Tufeckis Untersuchung zu vielen Konflikten unter Jugendlichen geführt hat.

Tufeckis Untersuchungen konnten aufzeigen, dass es ein Spektrum in Bezug auf die Aufgeschlossenheit gegenüber digitaler Kommunikation gibt. Sie verwendet die Begriffe »cyberasozial« und »cyberhypersozial« für Menschen, die nicht willens oder fähig sind, digitale Beziehungen zu pflegen respektive in hohem Masse willens und fähig dazu sind.

Dieser Charakterzug ist unabhängig von technischer Kompetenz einerseits, von der Intensität und Quantität von offline Beziehungen andererseits: Das Vorurteil, nur sozial nicht eingebundene Menschen würden digitale Beziehungen pflegen, lässt sich durch Tufeckis Untersuchungen widerlegen.

Ihr Fazit:

The size of our capacity and ability for affection and bonding remains grounded in our humanness. And that perhaps is the most impor- tant conclusion. “Faster, higher, and stronger” through technology may be tempting, but we are, as we have always been, human and our limits transcend technology. We are, as we always were, human, all too human.

 

Digitales Lernen – Hangout bei SOMEXCloud

Heute habe ich mich mit Christoph Hess und Eva-Christina Edinger über digitales Lernen unterhalten.

Meine Links dazu:

Schnell ein paar Links so SoMeX on Air:
Mein Buch: http://phwa.ch/buch
Lernnetzwerk: http://phwa.ch/pln
Howard Rheingold: https://schulesocialmedia.com/?s=rheingold
Digitale Bildung Community:https://plus.google.com/communities/101706762884213061135
Ununi.tv: http://www.ununi.tv/

 

Psychologische und soziale Auswirkungen digitaler Kommunikation

Es ist weit gehend unklar, wie sich die Verbreitung digitaler Kommunikation auf die menschliche Psyche und auf soziale Gefüge auswirkt. Bedrohungsszenarien sind ebenso verbreitet wie eine optimistische rosa Brille. Genaue Studien sind deshalb schwierig, weil konkrete Rahmenbedingungen sozialer Netzwerke ständig ändern und ihre Auswirkungen nur während kurzen Phasen messbar und untersuchbar sind.

Ich versuche hier, einen Überblick über die relevante Forschung zu sammeln. Dafür bitte ich um Mitarbeit beim Sammeln der Papers und oder Bücher (Link zum Weitergeben: http://phwa.ch/paper):

Die Ergebnisse sind hier einsehbar (Link: http://phwa.ch/ergebnisse):

Lernen von Leistung trennen

In einem lesenswerten Blogpost fordert David Didau in Bezug auf schulisches Lernen zwei Dinge:

  1. Lernen muss von (messbarer) Leistung getrennt werden
  2. Lernen muss schwieriger werden.

Im Folgenden werde ich seine Schlüsselideen skizzieren und kommentieren.

(1) Der Mythos von Input und Output

Didaus Argumentation geht von einem Bild aus, das er als falsch bezeichnet. Er bezieht sich auf Statistik aus Hatties Visible Learning, die in einem standardisierten Test untersucht hat, wie viele »Items« von höchstens zwei Lernenden in einem Schulzimmer gelernt wurden. Antwort: 45-85%. D.h. im besten Fall lernen mehr als zwei Schülerinnen und Schüler rund Hälfte von dem, was unterrichtet wird.

Screen-Shot-2013-06-09-at-18.15.23-14h86ai

 

Lehrerinnen und Lehrer vergessen, dass Lernen kompliziert und undurchschaubar ist. Sie konzentrieren sich auf ihre Bemühungen und auf die Resultate von Prüfungen und denken, didaktische Anstrengungen seien ausschlaggebend für Resultate in den Prüfungen. Dabei vergessen sie aber zwei weitere Welten, die Lernende stark beeinflussen: Ihr privates Umfeld und den Einfluss anderer Jugendlicher, der so genannten Peers.

Screen-Shot-2013-06-10-at-13.53.12-27pzlc9

 

In der Grundschule erhalten Schülerinnen und Schüler 80% ihres Feedbacks von Peers, von diesem Feedback ist wiederum 80% unbrauchbar.

(2) Leistung und Lernen

Leistung ist messbar, Lernen nicht. Diese einfache Einsicht wird schnell vergessen. Betrachtet man aber Hinweise, die Lehrpersonen Schülerinnen und Schülern in Bezug auf Lernen geben, so handelt es sich mehr um Verhaltensweisen denn um Lerntechniken. Lernende werden konditioniert – erfüllen sie gewisse Kriterien, erhalten sie gute Resultate in Tests. Das heißt aber nicht, dass sie etwas gelernt hätten.

Lernen erfolgt an der Grenze von Chaos und Kontrolle. So kann es sein, dass sich eine Leistung verbessert, ohne dass eine Schülerin etwas gelernt hätte, und es kann auch sein, dass ein Schüler etwas lernt, ohne dass sich seine Leistung verbessert.

(3) Was tun? 

Didaus Post schlägt zwei Orientierungsmöglichkeiten vor:

  • Leistungsorientierter Unterricht hält für Lernende klare Hinweise bereit, wie sie lernen können, ist vorhersehbar und enthält immer dieselben Abläufe. Es ist allen klar, was zu erwarten ist – sowohl im Unterricht wie auch bei Prüfungen -, und das wird intensiv geübt.
  • Lernorientierter Unterricht schafft möglichst viele Variationen. Medien, Räume, zeitliche Gefässe ändern sich ständig. Lernen wird unbequemer und schwieriger und gerade dadurch in Gang gesetzt.

Das Ziel bei lernorientiertem Unterricht ist eine Steigerung der Verarbeitungstiefe des Materials. Es wird nicht so präsentiert, dass es möglichst einfach verarbeitet werden kann, sondern schon die Verarbeitung fordert die Lernenden heraus.

Screen-Shot-2013-06-10-at-18.12.50-1up1m42Didau bezieht sich auf ein Konzept von Robert A. Bjork, der zwei Gedächtnisleistungen unterscheidet: Die Fähigkeit, Informationen zu speichern, und die Fähigkeit, gespeicherte Informationen abzurufen. Unsere Adresse, an der wir früher gewohnt haben, haben wir tief in unserem Gedächtnis gespeichert, rufen sie aber selten ab. Die neue Adresse unserer besten Freundin rufen wir oft ab, sie ist aber noch nicht tief in unserem Gedächtnis verankert.

Die grundsätzliche Aussage ist nun die: Leistungsmessungen beziehen sich nur auf die »retrieval strength«, also auf das Abrufen von Informationen. Dabei wird ignoriert, wie wichtig es wäre, Informationen so zu speichern, dass sie nicht vergessen gehen.

Konkret heißt das:

  1. Lernen darf nicht in Einheiten erfolgen, sondern in regelmäßigen Abständen.
  2. Erfolgreiches Lernen bringt Lernende dazu, Informationen selbst zu generieren statt sie nur zu konsumieren.
  3. Themen abwechseln statt in Blöcken zusammenzufassen.
  4. Häufige Tests mit geringem Risiko für Lernende, aber vielen Varianten und Schwierigkeiten.
  5. Feedback reduzieren. Positives Feedback macht Lernende abhängig und kann den Lernprozess verlangsamen (weil alle auf Feedback warten).

Diese fünf Schwierigkeiten scheinen die Leistungen zu senken. Sie sind nicht intuitiv und fühlen sich oft falsch an, sie bewähren sich aber, wenn man wissenschaftlichen Untersuchungen vertraut.

Es lohnt sich, mit Lernenden darüber zu sprechen, warum Lernprozesse schwieriger sein sollten und nicht einfacher. Das leistungsorientierte Modell scheint professioneller zu sein und befriedigender für Schülerinnen und Schüler, welche sich an die entsprechenden Verhaltensweisen anpassen. Es führt aber zu weniger nachhaltigem Lernen.

Hier die Folien von Didau:

 

Social Media und Chancengerechtigkeit in der Bildung

Bildschirmfoto 2013-07-01 um 13.15.20

 

In der Schweiz und in Deutschland korreliert Bildungserfolg sehr stark mit der sozio-ökonomischen Herkunft, wie z.B. der Bildungsbericht 2010 zeigt. Das heißt, die Leistung einer Schülerin oder eines Schülers wird nicht durch die Qualität des erlebten Unterrichts oder die eigenen Fähigkeiten bestimmt, sondern durch den Status der Familie, besonders der Eltern: Wie »bildungsnah« oder »bildungsaffin« sie sind und wie groß ihr sozialer und wirtschaftlicher Status ist, bestimmt in einem hohen Maß, wie gut die Leistungen von Schülerinnen und Schülern sind.

Diese Erkenntnis ist ein Problem für das System Schule, ein Problem, das meiner Meinung nach zu wenig präsent ist in vielen Diskussionen. In der Fachliteratur werden zwei Effekte unterschieden:

Bildungsdisparitäten bezeichnen Bildungsunterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und stellen das Ergebnis von primären und sekundären Effekten dar. Unter den primären Effektenwerden die Sozialisationsbedingungen  im Elternhaus verstanden, welche bei gegebenen institutionellen (schulischen) Bedingungen zu unterschiedlichen Schulleistungen (Performanz) führen. Die sekundären Effekte bezeichnen die Sozialisationsbedingungen, die bei gegebener Performanz (z.B. gleicher Leistung) die Wahl von Bildungswegen beeinflussen.

Bei beiden Effekten ist die Rolle der Sozialisation entscheidend. Social Media ermöglichen nun theoretisch die Erweiterung der Sozialisation um zunächst virtuelle Beziehungen: Die Digitalisierung erlaubte, diskriminierende Strukturen aufzubrechen und Kindern und Jugendlichen Zugang zu den Bedingungen zu verschaffen, die für Schulerfolg entscheidend sind.

Das ist aber bislang eine Theorie. Das Problem – so entnehme ich den von Manfred Spitzer zitierten Untersuchungen – ist, dass Kinder aus benachteiligten Haushalten in der Tendenz technische Mittel so nutzen, dass sie die Benachteiligung vergrößert, statt sie zu verringern. Die unten stehende Grafik von Spitzer halte ich für problematisch, weil die Medien auch Pfeile nach oben darstellen könnten, abhängig von den Bedingungen, unter denen sie eingesetzt werden. Gerade das zeigt aber, wo der entscheidende Punkt liegt.

Technik ist kein Ersatz für ein Schulsystem, das allen gleiche Chancen bietet, sondern verschärft das Problem. Die hier skizzierten Überlegungen zeigen, dass Medienkompetenz eine fundamentale Bedeutung genießt, weil sie Bedingung ist, unter der Benachteiligungen von Kindern abgebaut werden könnte, weil soziale Netzwerke alternative Sozialisationsmöglichkeiten bereit halten. Und dennoch darf Medienkompetenz kein Feigenblatt sein, um die Auflösung dieser diskriminierenden Strukturen weiter aufzuschieben.

Relevanzkriterien auf Wikipedia

Als enzyklopädisch relevant gilt ein Kampfkunststil oder eine Kampfsportart, wenn

  • es weltweit mehr als 10.000 Praktizierende dieses Stils gibt oder gab oder
  • der Stil eine kulturell, regional oder historisch herausragende Bedeutung hat

Das Zitat stammt aus den Relevanzkriterien der deutschen Wikipedia. Die enorm ausführlichen und genauen Kriterien legen fest, welches Wissen relevant ist und welches die Kriterien nicht erfüllt (die Wikipedia-Gemeinschaft behauptet nicht, dass das Wisse nicht relevant sei, sondern nur »für Wikipedia relevant« sei, wenn es eines der Kriterien erfülle).

Das Problem ist offensichtlich:

Relevanz ist kein absoluter Begriff, sie ist furchtbar relativ, somit Verhandlungssache. Wann etwas „besondere Bedeutung“ erlangt hat, sehen bei jedem einzelnen Thema Betroffene anders als Unbeteiligte, Profis anders als Laien.

Relevanzkriterien scheinen mir ein wichtiges Unterrichtsthema zu sein. Das Studium der Wikipedia-Kriterien kann folgende Aspekte verdeutlichen:

  • dass die Inhalte von Wikipedia keinesfalls beliebig sind
  • die Gratwanderung einer Enzyklopädie zwischen der Inklusion von möglichst viel wissen und der exklusiven Beschränkung auf grundlegendes Wissen
  • die Verschränkung von Kriterien mit Qualität
  • die Einsicht, dass Relevanz immer nur in Bezug auf ein Kollektiv oder Publikum definiert werden kann und nicht absolut
  • die Möglichkeit, alle Richtlinien auf Wikipedia zu diskutieren und ändern
  • die Frage, ob Platzbeschränkungen für ein digitales Medium sinnvoll sind
  • die Abhängigkeit der Relevanzkriterien von Institutionen und Publikationsformen, die durch das Internet verändert werden.

Eine kreative Aufgabe in der Schule könnte sein, Entwicklungen vorzuschlagen, wie Wikipedia die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen kann, Wissen darzustellen, das die Relevanzhürde nicht erreicht. Politisch ist auch die Aussage von Johnny Haeusler interessant:

Wenn eine Minderheit etwas relevant findet, dann hat die Mehrheit meiner Meinung nach nicht das Recht zu sagen, ‘das ist irrelevant’.

Bildquelle: Ahoipolloi
Bildquelle: Ahoipolloi