Kontrollverlust und Filtersouveränität

Wie jede technische Innovation wurden auch die Möglichkeiten sozialer Vernetzung im Internet von Anfang an als Gefahr wahrgenommen. Fast zehn Jahre bevor Facebook erstmals im Netz auftauchte, lief in den Kinos ein Thriller mit Sandra Bullock in der Hauptrolle. The Net  (Irwin Winkler, 1995) zeigt eine Computerspezialistin, die ihre Beziehungen und geschäftlichen Kontakte praktisch komplett übers Internet abwickelt. Dies führt im Lauf des Films dazu, dass sie die Kontrolle über ihren Besitz, ihr Leben, ihre Beziehungen und ihre Identität verliert: Ihre Kreditkarten sind ungültig, ihre Sozialversicherungsnummer einer vorbestraften Frau zugeteilt, ihr Haus wird verkauft. Das Internet wird von der effizienten Technologie zur lebensbedrohlichen Waffe, die sich gegen die Benutzerin selbst wendet.

Diese düsteren Hollywood-Vision beschreiben keine Realität – aber sie zeigen, wie stark die Ängste sind, die mit der Gestaltung einer Online-Identität und der Pflege eines digitalen Beziehungsnetzes zusammenhängen. Wenn es sich letztlich nur um Daten handelt, die abbilden, wer ein Mensch ist und mit wem er in Kontakt steht, dann scheint es naheliegend, dass diese Daten missbraucht werden.

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Michael Seemann, ein deutscher Kulturwissenschaftler, der in seinen Arbeiten die gesellschaftlichen Veränderungen durch digitale Technologie nachzeichnet, fasst diese Zusammenhänge wie folgt zusammen:

Die These vom Kontrollverlust besagt, dass wir zunehmend die Kontrolle über Daten und Inhalte im Internet verlieren. Betroffen ist jede Form der Informationskontrolle: Staatsgeheimnisse, Datenschutz, Urheberrecht, Public Relations, sowie die Komplexitätsreduktion durch Institutionen.

Die Vorstellung von »informationeller Selbstbestimmung«, die viele Menschen haben und die auch rechtlich dokumentiert ist, ist angesichts der Möglichkeiten der Datensammlung, der Datenspeicherung und insbesondere der Datenverknüpfung nicht mehr länger haltbar. »Ein Kontrollverlust entsteht, wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt«, schreibt Seemann (pdf, S. 74). Er gibt dafür zwei Gründe an: Erstens bilden mobile und stationäre Aufzeichnungsgeräte die Welt heute digital ab; es gibt keine Handlung, die nicht zu einem Datensatz führen könnte. Zweitens ist es im Internet praktisch kostenlos möglich, Informationen weiterzugeben. Die Konstruktion des Internets ist dem Schutz von Daten entgegengesetzt, weil sie die Zirkulation von Daten erfordert.

Regierungen versuchen dem Kontrollverlust durch immer restriktivere Gesetzgebung in Bezug auf Internetkommunikation beizukommen. Nach dem Vorbild von China gibt es mittlerweile eine Reihe von Ländern, die Inhalte im Internet blocken und den freien Austausch von Informationen behindern. Die Organisation Reporters Without Borders zählt neben China elf weitere Ländern zu den »Feinden des Internets«, 14 weitere Ländern stehen unter Beobachtung, darunter auch Frankreich, Australien und die Türkei (Reporters Without Borders, S. 2) Bezeichnend ist, dass es in diesen Ländern für Expertinnen und Experten immer noch möglich ist, die Sperren zu umgehen und Informationen zu verbreiten, die Bemühungen zur Kontrolle also auch scheitern, wenn sie von Regierungen mit enormen Aufwand unternommen werden. Das heißt nicht, dass die Zensurbestrebungen nicht verheerende Folgen für die Grundrechte der Menschen in diesen Ländern hätten; aber es zeigt, dass der Kontrollverlust in der Internetkommunikation eine Tatsache ist, die nicht rückgängig zu machen ist.

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Diese Einsicht führt Seemann dazu, den Kontrollverlust zu akzeptieren und mit einem ethischen Konzept der Filtersouveränität zu koppeln:

Die Freiheit des Anderen, zu lesen oder nicht zu lesen, was er will, ist die Freiheit des Senders, zu sein, wie er will. «Filtersouveränität», so habe ich diese neue Informationsethik genannt, ist eine radikale Umkehr in unserem Verhältnis zu Daten.

Praktisch bedeutet das, dass Informationen so mitgeteilt werden sollen, dass andere in der Lage sind, Filter einzusetzen. Zu denken sind Beispielsweise an Werbefilter: Moderne Browser ermöglichen die Installation von Zusatzprogrammen, die Werbung im Internet komplett ausblenden (z.B. AdBlock). Soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und Instragram zwingen User immer stärker dazu, sich auch Werbung anzusehen, indem sie direkt in die Funktionalität der Werkzeuge eingebunden wird. Wer die Dienste nutzen will, muss sich Werbung ansehen. Filtersouveränität wird verhindert.

Würde man Seemanns Überlegungen auf die Schule beziehen, so müsste man Schülerinnen und Schülern basierend auf der Einsicht, dass Lehrpersonen nicht kontrollieren können, was mit ihren Inhalten und Inputs passiert, die Freiheit gewähren, aus dem Informationsausgebot auszuwählen.

Filter allgemein verstanden ermöglichen die Suche nach erwünschten und das Ausblenden von unerwünschten Inhalten. Sie sind deshalb wichtig, weil die Speicherkapazitäten digitaler Medien heute die menschliche Fähigkeit, Daten zu verarbeiten, bei weitem übersteigern. Das zeigt das Potential dieser Entwicklung: Von Lehrerseite her kann jede Redundanz vermieden werden. Lehrvorträge müssten einmal gehalten werden und wären dann immer abrufbar, auffindbar. Dadurch könnten viel mehr interessante Referate zu verschiedenen Themen entstehen, eine Beschränkung auf ausgewählte Themen um Schülerinnen und Schüler nicht zu überfordern, wäre nicht nötig – da sie ja ihre eigenen Filter einsetzen und mit denen Überforderung verhindern. Die Fähigkeit, Filter einzusetzen, stellt eine wesentliche Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien dar.

Social Media als Kontrollverlust für die Schule

Unter dem Titel »Kontrollverlust für die Schule« ist in einem c’t Sonderheft »Soziale Netze« ein interessanter Artikel von Jöran Muuß-Meerholz erschienen. Das Heft ist zumindest in Deutschland am Kiosk erhältlich, der Artikel kann hier als pdf gelesen werden.

Die wichtigsten Aussagen des Textes trage ich hier zusammen – eine Lektüre lohnt sich auf jeden Fall.

  1. »reale« und »virtuelle« Welt sind verzahnt – auch in der Schule. Der Schonraum Schule muss sich damit auseinandersetzen, dass private oder halb-öffentliche Schulangelegenheiten durch die Digitalisierung enorme Verbreitung finden können.
  2. Für Lehrpersonen wird die Abgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben immer schwieriger. Damit geht auch das Privileg verloren, die Unterrichtsvor- und -nachbereitung ungestört erledigen zu können: In der digitalen Welt erfolgt sie im Austausch mit anderen, im Dialog.
  3. Öffentlichkeitsarbeit wandelt sich: Die Schule kann ihre Wahrnehmung nicht mehr komplett kontrollieren, wird abhängig von den Inhalten, die in den privaten Netzwerken von SchülerInnen, Eltern und Lehrpersonen zirkulieren. Klassenfahrten werden nicht mit sauber redigierten Texten kommentiert, sondern in Echtzeit auf Twitter und Facebook, mit Bildern, Videos und Tonaufnahmen.
  4. Verbote sind vergebliche Versuche, alte Strukturen zu erhalten. Technologische Weiterentwicklungen werden immer neue Möglichkeiten bieten, sie zu umgehen.
  5. Social Media ist nicht ein isolierter oder isolierbarer Bereich der schulischen Arbeit oder Schulführung, sondern durchdringt alle Bereiche.
  6. Internet ist nicht mehr freiwillig, sondern eine automatische Begleiterscheinung aller schulischen Aktivitäten.

Muuß-Meerholz formuliert grundlegende Prinzipien für die medienbezogene Schulentwicklung (S. 36; klicken für größeres Bild):

In einem Beitrag für das Handbuch »Öffentlichkeitsarbeit macht Schule« hat Muuß-Meerholz einen wichtigen Artikel über die Auswirkungen von Social Media auf die Öffentlichkeitsarbeit von Schulen verfasst (hier das pdf, »Der Artikel ist urheberrechtlich geschützt. Er darf heruntergeladen und für eigene Zwecke genutzt, aber nicht weiter vervielfältigt werden). Dort formuliert er 11 Handlungsvorschläge, die ebenfalls kurz zusammengefasst werden sollen (meine Nummerierung entspricht nicht dem Original):

  1. Schulen müssen ein Bewusstsein für Social Media schaffen, indem sie die dafür relevanten Bereiche und die Verantwortlichen miteinander zusammenarbeiten lassen (Öffentlichkeitsarbeit, Schulentwicklung, Medienkompetenz etc.)
  2. Zuhören oder Monitoring ist wichtig: Fürs erste reicht es, nachzulesen, wie die Schule in Social Media erscheint.
  3. Für erste Schritte reichen Experimente oder das Übernehmen bewährter Verfahrensweisen anderer Institutionen.
  4. Wichtig ist dabei ein dickes Fell sowie das klare Kennzeichnen von Kommunikationskanäle: Niemand soll den Eindruck erwecken, für die Schule zu sprechen, wenn das nicht offiziell der Fall ist.

Mobbing von Lehrpersonen auf Facebook

Der Tages-Anzeiger berichtet heute (iPad-Link, öffnet nicht in jedem Browser), wie Lehrpersonen im Kanton Zürich auf Facebook gemobbt werden:

  • Schülerinnen und Schüler erstellen mit Handy Youtube-Videos von den Lehrpersonen
  • Diese werden auf falschen Facebook-Profilen dieser Lehrpersonen veröffentlicht.

Die Methode ist perfid – die Lehrpersonen sind wohl selbst nicht auf Facebook, wissen also zunächst nicht, was abläuft. Mobbing gegen Lehrpersonen, früher hätte man wohl von »Streichen« gesprochen, ist nichts Neues – neu ist der massive Kontrollverlust durch die Möglichkeiten des Internets. Über jede und jeden von uns können privateste Informationen ins Internet geschrieben werden, ohne dass wir das wissen und ohne dass wir direkt darauf reagieren können.

Wie sollte man reagieren, wenn man im Internet gemobbt wird?

  1. Direkt bei der Plattform eine Löschung der Inhalte beantragen.
  2. Möglichen Tätern mitteilen, dass man eine Löschung der Inhalte innert zwei Tagen erwarte.
  3. Bei schweren Fällen Medienanwälte einschalten.

Fazit im Artikel von Thomas Stierli von der Pädagogischen Hochschule Zürich:

Auch jene, die mit Facebook und Internet nichts am Hut haben wollen, müssen sich heute damit auseinandersetzen.