Die oben stehenden Bilder stammen von einer App namens Spritz, mit der ein Startup den Leseprozess beschleunigen will. Durchschnittlich lesen englischsprachige Leserinnen und Leser rund 220 Wörter pro Minute. Mit der App können Geschwindigkeiten von bis zu 1000 Wörtern pro Minute erreicht werden. Damit lässt sich ein Harry Potter Band in etwas mehr als einer Stunde lesen.
Spritz ist symptomatisch für digitales Lesen: Es handelt sich um ein schnelles und selektives Lesen. Expertinnen und Experten sprechen von nonlinearem Lesen, bei dem Texte gescannt, nach Schlüsselbegriffen durchsucht, schnell gescrollt werden und der Text ständig mit Bildern und Links in Konkurrenz steht.
Lineares Lesen hingegen führt von einer Seite zur nächsten. Es ist ein langsamerer Prozess, aber oft ein nachhaltiger: Lesende verbinden das Layout eines Buches mit gelesenen Textstellen (»die Seite, auf der die Heldin stirb, hat nur zwei Abschnitte«) und nehmen sich oft Zeit, um gelesene oder noch nicht gelesene Seiten schnell durchzublättern.
Lesen hat anders als Sprache oder visuelle Fähigkeiten keine genetische Basis. Es ist ein vom Gehirn vollständig erworbener Prozess, der sich verändern kann. Die ersten Leserinnen und Leser haben selbstverständlich laut gelesen, leises Lesen ist eine Innovation. Dass sich der Leseprozess verändert, ist nicht erstaunlich, weil sich das menschliche Hirn ständig an seine Umwelt anpasst.
Die Erfahrung von langjährigen Leserinnen und Lesern legt nahe, dass das nonlineare Lesen auf Kosten von wichtigen Eigenschaften des linearen geht. Wer viel auf dem Smartphone oder am Computer liest, hat Mühe, sich in einen Roman zu vertiefen. Es scheint, als hätte das Hirn teilweise verlernt, komplexe Belletristik zu lesen. Selbstverständlich kann ich wie alle geschulten Leserinnen und Leser mit etwas Übung schnell wieder in den alten Lesehabitus zurückkehren: In den Ferien oder vor mündlichen Abiturprüfungen lese ich enorm viel klassische Literatur und gewöhne mich schnell wieder ans lineare Lesen. Die Frage ist, ob künftige Leserinnen und Leser das auch noch können.
Hier einige Forschungsresultate zum Vergleich des analogen und digitalen Lesens:
- Liu hat schon 2005 in einer Studie bemerkt, dass beim Lesen am Bildschirm Metakognition zurückgeschraubt wird: D.h. Lesende verzichten stärker darauf, sich Ziele zu setzen, schwierige Passagen mehrfach zu lesen oder ab und zu innezuhalten und sich zu fragen, was wichtige Aussagen in einem Text waren.
- Garland hat in einer Studie von 2003 beschrieben, dass digitale und analoge Lektüre zu vergleichbaren Resultaten in Tests führen, aber dass nicht-lineares Lesen im Hirn Erinnerungsprozesse ablaufen lasse (Informationen werden abgerufen, indem sich Personen an ihren Kontext erinnern), während lineares Lesen zu Wissensprozessen führen (Informationen werden ohne Kontextbezug abgerufen). Daraus lässt sich ableiten, dass die Lektüre auf Papier effizienter und nachhaltiger sein dürfte, weil der Erinnerungsprozess ein Umweg darstellt.
- Viele Menschen ziehen die Lektüre auf Papier der auf E-Readern oder am Bildschirm vor. Gründe dafür sind die Gewöhnung an Sinneseindrücke (Geruch und Gefühl beim Berühren von Papier), der Eindruck von Kontrolle über einen gedruckten Text (alle Buchstaben sind immer am selben Ort und können permanent markiert oder beschriftet werden) sowie die Übereinstimmung von Haptik und Text (ein langes Buch ist schwerer als ein dünnes). Zudem finden sich Lesende in längeren Texten weniger gut zurecht, wenn sie diese digital konsumieren.
- Wenn Schülerinnen und Schüler in der 10. Klasse Texte lesen, dann ist ihr Leseverständnis leicht aber signifikant besser, wenn das analog geschieht. Anne Mangen und ihr Team mutmassen ihrer Studie von 2013, dass es einfacher ist, in einem analogen Leseprozess Informationen in einem Text zu finden.
- Papier führt generell zu nachhaltigeren Lernprozessen, auch wenn Schülerinnen und Schüler zeitlich unter Druck stehen. Das könnte, so mutmassen die Autoren dieser aktuellen Studie, auch mit Lerngewohnheiten zusammenhängen, die in der Schule erworben werden.
Während oft herkömmliche Testformen Schülerinnen und Schüler bevorzugen, die mit Papier lernen, dürfte es also durchaus erhebliche kognitive Unterschiede geben zwischen analogem und digitalem Lernen. Die Geschwindigkeit des Lesens ist wohl oft einem Lernprozess abträglich. Was Roland Reichenbach in einer allgemeinen Reflexion digitaler Medien im Lernprozess schreibt, dürfte also auch fürs Lesen gelten:
«Zeit gewinnen, sondern: Zeit verlieren!», lautet eine vielzitierte Stelle aus Jean-Jacques Rousseaus «Emile». Mit dem Satz kann eine Menge pädagogischer Unfug und didaktischer Leerlauf gerechtfertigt werden. Einerseits. Andererseits kommen damit eine Intuition, eine Einsicht und eine Erfahrung zum Ausdruck, die mehr sind als launenhafte Lust an der Paradoxie. Die Menschen leben immer länger als die Generationen vor ihnen, aber auch immer schneller, und überall entdecken sie lästige Zeitverschwendung, alles dauert immer mehr zu lange.


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