Gibt es eine Gesellschaft ohne Geheimnisse?

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Das Geheimnis ist, so gesehen, Anlass einer Gewissensentscheidung, die einem niemand abnehmen kann; man muss sich klar darüber werden, warum man schweigt. Oder eben doch redet. Und welche Folgen dies haben könnte. In jedem Fall gilt: Das Gesagte lässt sich – einmal in der Welt – nicht mehr in das Ungesagte zurückverwandeln. Und das plötzlich öffentlich Gewordene kann nicht mehr zum Nicht-Öffentlichen werden.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat am Montag im Tages-Anzeiger über die Bedrohung des Geheimnisses durch Transparenz geschrieben (Version aus dem Web-Archiv). Dass digitale Medien das menschliche Leben transparenter machen und so Geheimnisse durch Kontrolle ersetzen, ist ein Gemeinplatz der gehobenen Medienkritik. Im Folgenden eine kurze Analyse des Arguments.

mehr-als Liest man die einleitenden Sätze von Pörksen, so wird klar, dass sein Argument auf der Annahme basiert, mediale Umwälzungen machten alles öffentlich Sagbar. Blicken wir in die Instagram-Kanälen junger Menschen, so scheinen wir das tatsächlich zu sehen: Sie »dokumentieren mit Selfies [ihre] Existenz als Laienpaparazzi in eigener Sache«, wie Pörksen schreibt.

Neben dieser Selbstinszenierung setzen auch Unternehmen und Staaten alles daran, unser Leben in Daten zu verwandeln. Barzahlungen sollen zugunsten von nachverfolgbaren Zahlungen unterbunden werden, Webseitenbesucher werden per Tracking verfolgt, Handyantennen und Kameras im öffentlichen Raum ermöglichen Bewegungsprofile.

Diese Entwicklung hat einen hohen Preis, den wir alle bezahlen. Und es ist wichtig, dass eine Auseinandersetzung darüber stattfindet, ob wir den Preis zahlen wollen.

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Aber der Preis, so behaupte ich, ist nicht das Geheimnis. Noch einmal Pörksen:

Denn ein Geheimnis erschafft, wie bereits der Soziologe Georg Simmel formulierte, eine zweite Welt, ein Refugium des Unbeobachteten und Unsichtbaren. In diese Welt können wir uns zurückziehen. Hier können wir uns erholen und müssen nicht mehr funktionieren. Hier können wir einem anderen von Erschöpfung, Krankheit oder unseren Sehnsüchten erzählen – im Vertrauen auf seine Verlässlichkeit und sein Schweigen.

Geheimnisse und Öffentlichkeit sind aber kulturell und sozial veränderliche Konzepte, wie die Arbeiten von Foucault (besonders die Vorlesungen von 83/84) zeigen. Nur ein Beispiel: Die Ehe war nicht immer ein öffentlicher Bund. Das heißt: Selbst wenn Dinge öffentlich werden, verschließt das den Raum der Geheimnisse nicht. Der Grund liegt darin, dass eben das Leben keine Datenbank ist, sich nicht auf Daten reduzieren lässt. Pörksens Annahme, Transparenz zerstöre die Möglichkeit des Geheimnisses, muss davon ausgehen, dass Gefühle wie Liebe, Scham, Ekel etc. – wie sie in den abgebildeten Beispielen von Postsecret ausgeführt werden – in Daten auflösbar sind. Weil das aber nicht der Fall ist, eröffnen selbst Social Media neue Räume für menschliche Geheimnisse. Das zeigen selbst die radikalsten Versuche, das eigene Leben transparent zu machen.

Das hat Nathan Jurgenson in einem lesenswerten Wired-Artikel ausgeführt:

But a human life is not a database, nor is privacy the mere act of keeping data about ourselves hidden. In reality, privacy operates not like a door that’s kept either open or closed but like a fan dance, a seductive game of reveal and conceal.
By that standard, the explosion of personal information online is giving rise to new mysteries, new unknowns. When you post a photo on Instagram, it offers up not just answers but hints at new questions: Who were you with and why? What were you feeling? What happened between the updates, and why was it left out? Secrets, creative concealments, the spaces between posts—this is where privacy flourishes today.

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1 Kommentar

  1. Emanuel sagt:

    Das hat etwas, aber leider wird oft versucht durch Daten, Verhaltensweisen, Muster etc. versucht den Menschen zu schubladisieren, Verhalten vorherzusehen und (Charakter)Eigenschaften zuzuschreiben… und manche glauben dann eher diesen theoretischen Analysen und halten die Computerauswertungen für unfehlbar. Das macht die ganze Öffentlichkeit und auswertbarkeit der Daten dann gefährlich…

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