Es gibt ein Spiel, das viele Menschen toll finden: Wenn eine Gruppe junger oder mittelalterlicher Erwachsener zusammen im Restaurant isst, wird vereinbart, dass zahlen muss, wer zuerst das Smartphone benutzt. Man schafft einen Anreiz, offline zu bleiben, präsent zu sein: Sich in die Augen zu blicken, ein Gespräch zu führen.Das sind Fähigkeiten, die zunehmend verloren gehen, wenn man populären Technologiekritikern wie der omnipräsenten Sherry Turkle Glauben schenkt. Und doch scheint das Spiel albern, irgendwie auch unnötig.

In einem Artikel in der Zeit präsentiert nun Eike Kühl in Bezug auf einen Essay von Nathan Jurgenson eine alternative Perspektive: Offline-Sein wird zu einem Fetish, einer Besessenheit. Wir inszenieren uns in unserer Fähigkeit, offline sein zu können. Wer das Internet eine Wochenende lang nicht nutzt, eine Reise ohne Smartphone macht oder bewusst eine Offline-Tätigkeit in Angriff nimmt, kann dies nicht tun, ohne bewusst auf diese Leistung hinzuweisen. Man stellt sich selber als etwas Besonderes heraus, indem man darauf hinweist, dass alle anderen süchtig nach dem Internet seien, abgelenkt und nicht mehr fähig zum tiefgründigen Leben ohne digitale Technik.
Dabei wird von einem dualen Modell ausgegangen, das Jurgenson »digital dualism« nennt: Die Vorstellung, es gebe die reale Welt und dann das Internet. Die beiden Sphären, so das Modell, schließen sich aus: Wer in der realen Welt ist, ist offline. Kühl schreibt dazu von einem eigenen Erlebnis:
Vor einigen Wochen korrigierte ich die Masterarbeit eines Freundes. Es ging um Social Media in Unternehmen, viele Studien, noch mehr Zahlen. An einer Stelle stutzte ich: Es war die Rede von Kontakten im „real life“ im Vergleich zu Kontakten auf Facebook. Ich erinnerte mich an eine Aussage des Pirate-Bay-Gründers Peter Sunde während einer Anhörung. Auf die Frage der Anklage, wann er das erste Mal jemanden im „echten Leben“ kennenlernte, antwortete Sunde: „Ich glaube, das Internet ist auch echt.“ Großartig. Ich strich die Textstelle mit der gleichen Begründung aus.
Das Leben offline wir überhöht. Es ist eine Utopie, in der man sich perfekt konzentrieren kann, erfüllende Beziehungen pflegt, Zeit hat und zur Ruhe kommt. Man ist produktiv und zufrieden. Nur: Diese Zustände gibt es nicht. Wir können uns auch im Internet konzentrieren, pflegen dort erfüllende Beziehungen und sind auch da produktiv und zufrieden – im gleichen Masse, wie wir es auch sonst sind. Das Internet ist Teil des Lebens, es ist das real life.
Kühl weist darauf hin, dass viele Erwachsene im Offline-Sein etwas Nostalgisches sehen:
Viele ältere Nutzer verbinden mit dem Offlinesein in seiner zunehmenden Rarität etwas ebenso Romantisches wie Nostalgisches. Ähnlich der Annahme, dass die besten Texte nur in Handschrift im Notizblock entstehen oder die wahre Musik nur aus den Rillen schwarzer Vinylscheiben erklingt, verbinden viele das digitale Abschalten mit einem veralteten Ideal. Offline, das steht in den Köpfen vieler für ausgedehnte Waldspaziergänge, tiefe Gespräche und gesteigerte Produktivität. Offline, das bedeutet immer auch „damals“: Damals, als wir noch nicht ständig auf E-Mails antworten mussten. Damals, als wir uns nicht ständig ablenken ließen.
Sie bilanziert, die Überhöhung des Offline-Seins »nerve«:
Es scheint fast so, als müsse man seinen Freunden gratulieren, dass sie mal wieder aus de Haus gingen oder während des Essens das iPhone in der Tasche ließen. Dass sie am Wochenende an den See fahren oder drei Tage bei Mutti ihre E-Mails nicht abrufen. Als sei dieses scheinbar selbstverständliche Verhalten einen Toast oder – und damit wird es endgültig bizarr – auch nur einen Tweet wert.