Der Real-Life-Fetisch: Vom Wunsch, »offline« zu sein

Es gibt ein Spiel, das viele Menschen toll finden: Wenn eine Gruppe junger oder mittelalterlicher Erwachsener zusammen im Restaurant isst, wird vereinbart, dass zahlen muss, wer zuerst das Smartphone benutzt. Man schafft einen Anreiz, offline zu bleiben, präsent zu sein: Sich in die Augen zu blicken, ein Gespräch zu führen.Das sind Fähigkeiten, die zunehmend verloren gehen, wenn man populären Technologiekritikern wie der omnipräsenten Sherry Turkle Glauben schenkt. Und doch scheint das Spiel albern, irgendwie auch unnötig.

Rene Magritte: L’Appel des cimes. 1942/43.

In einem Artikel in der Zeit präsentiert nun Eike Kühl in Bezug auf einen Essay von Nathan Jurgenson eine alternative Perspektive: Offline-Sein wird zu einem Fetish, einer Besessenheit. Wir inszenieren uns in unserer Fähigkeit, offline sein zu können. Wer das Internet eine Wochenende lang nicht nutzt, eine Reise ohne Smartphone macht oder bewusst eine Offline-Tätigkeit in Angriff nimmt, kann dies nicht tun, ohne bewusst auf diese Leistung hinzuweisen. Man stellt sich selber als etwas Besonderes heraus, indem man darauf hinweist, dass alle anderen süchtig nach dem Internet seien, abgelenkt und nicht mehr fähig zum tiefgründigen Leben ohne digitale Technik.

Dabei wird von einem dualen Modell ausgegangen, das Jurgenson »digital dualism« nennt: Die Vorstellung, es gebe die reale Welt und dann das Internet. Die beiden Sphären, so das Modell, schließen sich aus: Wer in der realen Welt ist, ist offline. Kühl schreibt dazu von einem eigenen Erlebnis:

Vor einigen Wochen korrigierte ich die Masterarbeit eines Freundes. Es ging um Social Media in Unternehmen, viele Studien, noch mehr Zahlen. An einer Stelle stutzte ich: Es war die Rede von Kontakten im „real life“ im Vergleich zu Kontakten auf Facebook. Ich erinnerte mich an eine Aussage des Pirate-Bay-Gründers Peter Sunde während einer Anhörung. Auf die Frage der Anklage, wann er das erste Mal jemanden im „echten Leben“ kennenlernte, antwortete Sunde: „Ich glaube, das Internet ist auch echt.“ Großartig. Ich strich die Textstelle mit der gleichen Begründung aus.

Das Leben offline wir überhöht. Es ist eine Utopie, in der man sich perfekt konzentrieren kann, erfüllende Beziehungen pflegt, Zeit hat und zur Ruhe kommt. Man ist produktiv und zufrieden. Nur: Diese Zustände gibt es nicht. Wir können uns auch im Internet konzentrieren, pflegen dort erfüllende Beziehungen und sind auch da produktiv und zufrieden – im gleichen Masse, wie wir es auch sonst sind. Das Internet ist Teil des Lebens, es ist das real life.

Kühl weist darauf hin, dass viele Erwachsene im Offline-Sein etwas Nostalgisches sehen:

Viele ältere Nutzer verbinden mit dem Offlinesein in seiner zunehmenden Rarität etwas ebenso Romantisches wie Nostalgisches. Ähnlich der Annahme, dass die besten Texte nur in Handschrift im Notizblock entstehen oder die wahre Musik nur aus den Rillen schwarzer Vinylscheiben erklingt, verbinden viele das digitale Abschalten mit einem veralteten Ideal. Offline, das steht in den Köpfen vieler für ausgedehnte Waldspaziergänge, tiefe Gespräche und gesteigerte Produktivität. Offline, das bedeutet immer auch „damals“: Damals, als wir noch nicht ständig auf E-Mails antworten mussten. Damals, als wir uns nicht ständig ablenken ließen.

Sie bilanziert, die Überhöhung des Offline-Seins »nerve«:

Es scheint fast so, als müsse man seinen Freunden gratulieren, dass sie mal wieder aus de Haus gingen oder während des Essens das iPhone in der Tasche ließen. Dass sie am Wochenende an den See fahren oder drei Tage bei Mutti ihre E-Mails nicht abrufen. Als sei dieses scheinbar selbstverständliche Verhalten einen Toast oder – und damit wird es endgültig bizarr – auch nur einen Tweet wert.

Projektidee: Kony 2012

Auf FB hat heute Klaus Meschede, dem ich viele Inputs für das Thema dieses Blogs verdanke, folgenden Vorschlag gepostet:

Idee für ein Projekt zum Schuljahresende:
„Kony 2012“
Vorgeschichte, Kampagne, Wirkung, Auswirkung(?), etc.
Basis: hohe Betroffenheit, Empathie bei Jugendlichen, intensive Kommunikation
Bezug: Moralentwicklung bei Jugendlichen, Empathie vs. Abstraktion/ Universalismus (Habermas als Ergänzung zu Kohlberg), Identitätsbildung
möglichst fächerübergreifend, wenigstens mit Referenten aus SoWi-LK [gemeint: Sozialwissenschaften-Leistungskurs], D-LK [Deutsch-Leistungskurs] (Medien und Kommunikation), evtl. Filmgruppen

Ich möchte diese Idee im Folgenden nun etwas ausführen – und insbesondere aufzeigen, welche Rolle die Reflexion und der Einsatz von Social Media in Bezug auf dieses Thema spielen könnte.

Am Anfang soll eine Liste mit Aspekten stehen, die für das Thema eine Rolle spielen:

  • Worum geht es ganz grundsätzlich? Was hat sich in Uganda in den letzten fünf Jahren ereignet? Was ist die Rolle der Lord’s Resistance Army? Wie ist die aktuelle Situation zu beurteilen?
  • Woher wissen wir etwas über ein Land wie Uganda? Welchen Quellen vertrauen wir, wie nähren wir uns einem solchen Thema?
  • Inwiefern gibt es in Westeuropa ein differenziertes Afrikabild? Welchen Aussagen / Fakten / Vorurteilen schenken wir in Bezug auf afrikanische Länder eher Glauben – und warum?
  • Wie können Menschen auf ein wichtiges Anliegen aufmerksam gemacht werden? Welche Rolle spielen dabei traditionelle Medien, welche Neue Medien bzw. Social Media?
  • Welchen Einfluss haben Prominente auf die Bedeutung von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen?
  • Was beschleunigt bzw. verlangsamt soziale Kommunikation auf Netzwerken wie Facebook und Twitter? Welche Inhalte werden schnell und oft geteilt, welche weniger?
  • Warum berührt uns das Kony Video (stärker als andere Videos)?
  • Wie unterscheidet sich die Verarbeitung von News durch junge Menschen von der älterer?
  • Ist es möglich, dass virale Kampagnen bzw. Virals eine Auswirkung außerhalb des Internets (d.h. in der Welt der Dinge und Menschen) haben?
  • Dürfen Organisationen, die wohltätig bzw. in der Entwicklungshilfe tätig sind, Marketing betreiben? Wie aufwändig darf dieses sein? Ist es besser, wenn eine solche Organisation hohe Einnahmen und hohe Kosten hat, als wenn sie tiefe Einnahmen und tiefe Kosten hat?
  • Kann virales Marketing auf Social Media Kanälen langfristig für wohltätige Organisationen bedeutsam sein?
  • Können wir in einer globalisierten Welt ein »fremdes« Problem lösen?
  • Die persönlichen Geschichten hinter Kony: Jason Russell (Regisseur des Filmes, evangelikaler Hintergrund, sein Sohn); Joseph Kony.

Diese verschiedenen Zugänge bieten sich für einen interdisziplinären Ansatz an. Es stellen sich ganz konkrete politische, wirtschaftliche, historische und soziale Fragen. Es werden kommunikative und mediale Themen verhandelt. Ethische Fragen spielen eine große Rolle, ebenso erkenntnistheoretische.

Infografik: Huffington Post.

Wenn man sich die Bandbreite der Themen anschaut, so ist dieses Projekt klar gymnasial ausgerichtet, wohl sogar eher für Klassen nahe beim Abitur/bei der Matur. Viel Material wird erst dann verfügbar, wenn Schülerinnen und Schüler genügend gut englisch sprechen.

Ich stelle mir einen möglichen Projektablauf wie folgt vor:

  1. Input für alle Projektteilnehmenden:
    Visionierung des Kony-VideosDiskussion.
  2. Entscheid für einen Themenbereich, sehr grob skizziert – Bildung von Gruppen.
    Danach weiteres Inputmaterial,
    z.B.

  3. Projektartige Verarbeitung des Materials und der Überlegungen der Gruppe.
    a) Projektziele und -verlauf definieren.
    b) Recherchieren, kuratieren und verarbeiten von Hintergrundmaterial.
    c) Verarbeitung idealerweise Arbeit mit Social Media, z.B. Wiki oder Blog. (Idee: Es entsteht ein Gesamtprodukt, in das die einzelnen Gruppenbeiträge eingefügt und auf einander bezogen werden können.)
  4. Präsentation und Feedbackprozess.
    Die Gruppen präsentieren ihre Ergebnisse dem Plenum und erhalten von anderen Gruppen Feedback.
    Wiederholung dieser Schlaufe mit einer Art Öffentlichkeit, über Social Media sehr einfach möglich.
  5. Individuelle Reflexion. 
    Die Lehrpersonen, die das Projekt begleitet haben, können hier einige allgemeine Fragen stellen (Umgang mit Social Media; Manipulierbarkeit; Möglichkeiten, in einer globalen Welt etwas zu verändern; Afrikabild in Europa und Nordamerika…)
    In diesem Prozess kann vor allem auch die persönliche Haltung und Veränderung dieser Haltung ins Spiel gebracht werden, sinnvoll ist hier wohl eine ganz traditionelle Arbeit mit einem persönlichen Text, aber auch Social Media (z.B. als Kommentar etc.) wäre denkbar, wenn für Schülerinnen und Schüler in Ordnung.
Visiualisierung der Twitter-Aktivitäten zu Kony 2012, SocialFlow.

Ein solches Projekt würde dem entsprechen, was Wolfgang Neuhaus in einem Aufsatzentwurf zu »didaktisches Design« einleitend formuliert:

Lernen ist eine auf Zukunft gerichtete Aktivität. Ich lerne aus Neugier, aus Interesse, aus Spass oder wegen extern an mich herangetragenenen Notwendigkeiten und ich verspreche mir davon, bestimmte Aufgaben oder Herausforderungen in der Zukunft bewältigen zu können.

Neuhaus zitiert dabei Bruno Latour und sein Konzept des Komponierens, das auf solche Aktivitäten sehr schön anwendbar ist:

Der Bruch mit der Vergangenheit wird nicht ausreichen. Kritik wird auch nicht helfen. Es ist Zeit zu komponieren – in allen Bedeutungen des Wortes, einschließlich mit etwas komponieren, also Kompromisse einzugehen, sich zu kümmern, sich langsam zu bewegen, vorsichtig und mit Vorsorge.

Digitale Einsamkeit – die verlorene Fähigkeit, Gespräche zu führen

Gespräch. Quelle: Flickr Blue Square Thing, CC BY-NC-SA

Deshalb sage ich: Schaut auf, schaut euch an – und beginnt ein Gespräch!

Mit diesem Aufruf endet ein Artikel der amerikanischen Soziologin und Psychologin Sherry Turkle, der am Wochenende in der New York Times erschienen ist. Turkle schildert, wie in der Arbeitswelt und in der Welt der Jugendlichen die Fähigkeit verloren gegangen ist, ein Gespräch zu führen. Wir hätten an ihrer Stelle eine neue Fähigkeit gelernt, »gemeinsam alleine« zu sein. (Alone Together heißt auch Sherry Turkles neuestes Buch.)

Turkle beschreibt einen 16-Jährigen, der sich wünscht, zu lernen, wie man ein Gespräch führt. Die Möglichkeit, digital Kontakte zu pflegen, führe zu einer Isolation. Die digitale Kommunikation sei bequemer, so Turkle. Sie ermögliche:

  • Nicht zu enge und nicht zu lose Beziehungen zu pflegen.
  • Uns so zu präsentieren, wie wir wahrgenommen werden wollen.
  • Zu ändern, was wir ändern wollen, zu löschen, was wir löschen wollen.
  • Gespräche in kleine Bestandteile zu strukturieren, denen wir uns dann zuwenden wollen, wenn wir das möchten.

Zwischenmenschliche Beziehungen seien hingegen unordentlich und anspruchsvoll. Technologie wird nach Turkle benutzt, um diese Beziehungen zu bändigen. Dabei entstünde eine Verschiebung hin von Gesprächen zu Verbindungen:

But connecting in sips doesn’t work as well when it comes to understanding and knowing one another. In conversation we tend to one another. (The word itself is kinetic; it’s derived from words that mean to move, together.) We can attend to tone and nuance. In conversation, we are called upon to see things from another’s point of view.
[Übersetzung phw: Sich bei bedarf zu verbinden funktioniert dann nicht, wenn es darum geht, einander zu verstehen und zu kennen. In Gesprächen wenden wir uns einander zu. Wir hören auf den Tonfall und auf Nuancen. In Gesprächen wird von uns verlangt, einen anderen Standpunkt einzunehmen.]

Turkle beschreibt die Konsequenzen dieser Verschiebung als eine Art Zirkel: Weil Technologie uns dabei hilft, anstrengenden Gesprächen aus dem Weg zu gehen, haben wir auch keine Gesprächspartner mehr und wenden uns noch stärker der Technologie zu. Früher sei der Impuls für Gespräche folgender gewesen: »Ich habe ein Gefühl, ich rufe jemanden an.« Heute sei er: »Ich möchte ein Gefühl, ich schreibe eine Nachricht.«

Zum Schluss der Hinweis auf ein Interview mit Turkle in der Zeit. Dort sagt sie unter anderem:

ZEIT: Sie haben Ihr Buch als einen Brief an Ihre Tochter formuliert, die für ein Jahr ins Ausland gegangen ist. Früher waren Eltern und Kinder in dieser Situation zum ersten Mal wirklich voneinander getrennt – ab und zu ein Brief oder ein kurzes, teures Telefonat. Heute ist jeder zu jeder Zeit anwesend, es gibt keine Entschuldigung mehr dafür, nicht erreichbar zu sein.

Turkle: Ja, und es gilt die Regel »Ich texte, also bin ich«. Es gibt einen großartigen Spruch in der Psychologie: Wenn du deine Kinder nicht lehrst, allein zu sein, dann lernen sie nur, einsam zu sein. Wir versagen, wenn wir sie nicht auf ein Alleinsein vorbereiten, das erfrischend und regenerierend wirkt. Wir trainieren sie für eine lebenslängliche Einsamkeit.

ZEIT: Und gleichzeitig senden sie Tausende von Nachrichten…

Turkle: Ja, das ist ein Paradox, das uns mehr und mehr Probleme bereitet.

ZEIT: Und wie lautet Ihr Rezept dagegen?

Turkle: Eigentlich bin ich vorsichtig optimistisch, dass ein Wandel einsetzt. Der Grund ist, dass die Menschen, mit denen ich rede, einfach nicht glücklich sind.

ZEIT: Aber als Psychotherapeutin wissen Sie auch, dass Unzufriedenheit nicht notwendigerweise zu einer Änderung des Verhaltens führt.

Turkle: Was hilft, ist die Identifizierung unserer Schwachstellen. Deshalb spreche ich auch nicht von Sucht. Es geht nicht darum, einen »kalten Entzug« zu machen« und die Geräte wegzuwerfen. Die Gefahr geht ja von einem unausgewogenen Verhältnis aus – wer das einsieht, kann daran arbeiten, ihnen weniger schutzlos ausgeliefert zu sein.

Sherry Turkle. Quelle: Flickr jeanbaptisteparis, CC BY-SA.

Internetlehrer an der Grundschule

In der Zeit erschien im 15. März 2012 ein Artikel von Kai Biermann, in dem er seinen Auftritt als »Internetlehrer« dokumentiert – und der aufzeigt, wie groß die Diskrepanz zwischen den medialen Bedürfnissen von Lehrpersonen und von Primarschülerinnen und -schülern heute ist:

Die Lehrer sitzen daneben und wundern sich. Sie wundern sich, was ihre Schüler alles wissen, wo sie sich bereits auskennen und wie souverän sie Dienste und Angebote teilweise nutzen.

Auch die Digitalisierung der Schule (z.B. durch Whiteboards) ändert daran offenbar wenig:

Die Lehrer werden zwar im Umgang mit der Software für die Computertafeln geschult, aber wie sie das nun stets verfügbare Netz in ihrem Unterricht nutzen, bleibt ihnen überlassen. Im Rahmenlehrplan steht dazu nichts, das Fach „Umgang mit dem Internet“ gibt es nicht.

»In Mathe und Deutsch sind wir die Profis, die alle Fragen beantworten können, in den neuen Medien nicht«, meinte einer der befragten Lehrer.

Biermann selbst gelangt zu folgendem Fazit:

Wir sind hierzulande oft skeptisch, wenn es um neue Technik geht. Das ist nicht schlecht. Aber das Internet ist nicht mehr neu, wir müssen langsam mal anfangen, den Umgang damit zu vermitteln. Denn bewahren können wir unsere Kinder davor sowieso nicht und sollten es auch nicht.