Eine Interpretation des Offline-Diskurses

Disconnect.
Disconnect. Elena Sariñena

Schweizer Blogger haben den kommenden Sonntag, den 15. Dezember, als Offlinetag designiert. Ihre Aufforderung:

Verbringt den Tag offline – mit Freunden und Familie, zu Hause, in der Natur, im Lieblingsrestaurant.

Was steckt hinter diesem Wunsch von Menschen, die ihre Smartphones und Laptops ständig nutzen?

Wie die knappe Aufforderung, die ich oben zitiert habe, zeigt, wird in der Vorstellung von Offline-Phasen der Mythos konstruiert, das Leben ohne digitale Kommunikation sei reichhaltiger, echter. »Freunde und Familie«, »Natur«, »Lieblingsrestaurant« – all das wird uns ja durch unser Smartphone nicht genommen. Der nostalgische Wunsch nach einer Zeit, in der Begegnungen und Gespräche tiefer waren, der Mensch mit seiner Umwelt verankert, Konzentration einfacher und Tätigkeiten sinnerfüllt – dieser Wunsch kennzeichnet die Moderne, deren Denkerinnen und Denker seit der Romantik über die Entfremdung klagen, zu welcher die Technologie geführt habe.

Das hat stark mit der Wahrnehmung unsere Identität zu tun. Die Kehrseite des Mythos ist die Vorstellung, es gäbe hinter unseren Avataren und unseren Inszenierung von uns selbst ein wahres Ich. »Sei ganz dich selbst« ist die paradoxe Aufforderung der Lifestyle-Magazine, die einem gleichzeitig die Anweisung mitgeben, wie denn dieses authentische Ich sich kleiden, ernähren und sexuell erfüllen müsse. Genau so selbstverständlich wie die Erfahrung einer Entfremdung ist die Einsicht der modernen Philosophie, dass Identität aus der Spannung zwischen der eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmung der anderen besteht, oder kurz: Dass es kein Ich ohne die Inszenierung eines Ichs geben kann.

Bezeichnend am Diskurs über Offline-Phasen ist die Pathologisierung von gewissen Verhaltensweisen. Wer zu oft auf einen Bildschirm starrt, gilt als süchtig und krank. Ohne neuartige Verhaltensweisen beschreiben zu können, werden sie als eine Abweichung von dem angesehen, was gesund und normal ist. Das zeigt auch das bekannte Video »I Forgot my Phone«: Als abweichend wird nicht die junge Frau angesehen, die sich der Vernetzung entzieht, sondern die Menschen, welche Verhaltensweisen an den Tag legen, die wir in unserem Alltag alle reproduzieren.

Letztlich geht es um die Bedrohung der neuen Möglichkeiten. Smartphones verändern Menschen: Sie erweitern unser Gedächtnis, unser Denken, sie verändern unsere Gefühle, unser Begehren. Wie das geschieht, wissen wir noch nicht genau – aber es wird Menschen nicht weniger echt und nicht weniger gesund machen, als sie es ohne digitale Technologie sind. Das Bedürfnis, Gefühle und Begehren zu normalisieren, ist die treibende Kraft hinter den Disconnectivistinnen und Disconnectivisten.

Dagegen spricht nichts. Es ist völlig legitim, Erfahrungen zu sammeln und zu reflektieren. Aber die Hoffnung, dadurch gesunder oder echter zu werden, ignoriert wesentliche Erkenntnisse über das Wesen des Menschen.

Das hält auch ein lesenswerter Artikel von Holm Friebe fest, der zeigt, wie stark diese Widersprüche auch mit den Gegebenheiten der Arbeitswelt und den Vorstellungen von Arbeit zusammenhängen:

Dass in einem derart nervösen Klima Besinnungsappelle, die uns zum achtsameren Umgang mit unserer Zeit mahnen und zu einem diätetischen Medienverhalten animieren, erneut Konjunktur haben und gerade in den sozialen Medien eine hohe Viralität erzielen, ist nicht Dialektik, sondern Ausdruck einer widersprüchlichen Wehmut.

(Viele Argumente nehmen Bezug auf Nathan Jurgensons Analyse der  »Disconnectionists«, wie er sie nennt.)