Algorithmen kennen aufgrund der Datenspuren, die wir hinterlassen, immer mehr über unsere Kaufentscheide, Bewegungsmuster und Gewohnheiten. Sie wissen, welche Bücher wir lesen (und wann wir die Lektüre abbrechen), wonach wir im Netz suchen und mit wem wir kommunizieren. Bislang erleben wir die Wirkungsweise dieser Algorithmen meist nur bei Empfehlungen oder mässig auf uns zugeschnittene Werbeanzeigen. In Zukunft könnten sie uns jedoch so manipulieren, dass wir bei Entscheidungen nicht mehr sagen können, ob wir die Entscheidung gefällt haben oder ein Reihe von Computerprogrammen.
Bevor ich erkläre, wie ich das genau meine, möchte ich als Gegenposition die von Jörg Friedrich anführen, der sich als Philosoph intensiv mit dem Netz beschäftigt und in der FAZ behauptet hat, auch wenn Algorithmen auf uns einwirkten, würden immer noch wir selbst entscheiden:
So verlieren wir unsere Eigenständigkeit als handelnde Wesen, wir hängen wie Marionetten an den Fäden der Algorithmen, werden manipulierbar. Dieses Schreckensszenario vernachlässigt jedoch den simplen Umstand, dass es trotzdem die einzelne Person bleibt, die sich entscheidet, das verlockende Angebot der Vorhersagemaschine anzunehmen oder abzulehnen.
Die Position von Friedrich habe ich auf Twitter naiv genannt, weil sie von einer Vorstellung des Entscheidungsprozesses ausgeht, die zu wenig komplex und reflektiert ist. Nehmen wir gleich Friedrichs Beispiel: »Sie denken über die Frage nach, wohin Sie in diesem Jahr in Urlaub fahren werden.« Es führt in seiner Analyse zu den Alternativen Bergwanderung mit einer Freundin oder Strandferien im Netz buchen. Die Auswahl der Alternative nennt Friedrich nun Entscheidung.
Diese Auswahl hängt aber mit dem zusammen, was der entscheidenden Person wichtig ist, mit ihren Wünschen. Diese wiederum beziehen sich auf ihr Bild von sich selbst, auf ihre Beziehungen, Einschätzungen der Welt, Erwartungen und Erfahrungen. Aus diesen Wünschen – so formuliert das beispielsweise Peter Bieri in das Handwerk der Freiheit – kann nun bei substantiellen Entscheiden ein Wille entstehen, wenn eine Person bereit ist, etwas in Richtung einer Handlung zu unternehmen.
Bezieht man nun diese Wünsche und ihre Entstehung mit ein, dann wird es kaum möglich zu sagen, es sei »die einzelne Person«, die entscheidet. Vielmehr ist es die einzelne Person in ihrer Abhängigkeit von ihrer Umwelt. Die Schnittstelle zur Umwelt wird immer stärker digitalisiert und damit auch algorithmisch beeinflussbar. Auf das Friedrich-Beispiel angewendet, bedeutet das, dass verschiedene Google-Algorithmen, die auch die Mailkommunikation zwischen der entscheidenden Person und ihrer Freundin einbeziehen, für den Zugriff auf Informationen, Bilder und persönliche Kommunikation verantwortlich sind. Das heißt, dass Algorithmen nicht hauptsächlich die Wahl von verschiedenen Optionen beeinflussen, sondern die Bewertung und Wahrnehmung dieser Optionen und der eigenen Bedürfnisse schon viel früher und tiefer beeinflusst haben.
Das schlagende Beispiel ist der Einkauf. Seit Jahrzehnten durch die Werbung beeinflusst, sind die angebotenen Waren heute algorithmisch so optimiert, dass sie maximale Erträge abwerfen. Nicht nur die Waren – auch ihre Position, welche ihre Wahrnehmbarkeit bestimmt, wird rechnerisch ermittelt. Wer sich dafür entscheidet, spontan noch eine Tüte Chips mitzukaufen, tut das meist, nachdem die Tüte Chips sichtbar wurde. Und sichtbar wurde sie aufgrund von Algorithmen.
Ist das ein Problem? Eine reine, unbedingte und unbeeinflusste Entscheidung gibt es nicht. Das heißt aber nicht, dass der Einfluss von mächtigen Algorithmen belanglos wäre, weil sie über eine so massive Speicher- und Rechenfähigkeit verfügen und Aspekte rein statistisch auswerten können, die uns gar nicht bewusst sind. Hängt meine Urlaubsentscheidung immer vom Wetter an meinem Wohnort ab, während ich die Entscheidung treffe, dann kann mir das auch nach Jahren nicht bewusst sein – ein Algorithmus wird das Muster aber schnell finden und nutzen. Und letztlich werden diese Algorithmen nicht einfach von Unternehmen in Werbeabsicht eingesetzt, sondern auch von unseren Mitmenschen, denen sie das Leben erleichtern.
Tröstend ist, dass der entscheidende Punkt an Entscheidungen nicht die Frage ist, ob sie frei sind, sondern ob Betroffene den Eindruck haben, sie seien frei. Algorithmen werden uns diesen Eindruck – das zeigt Friedrichs Artikel – so schnell nicht nehmen können.
Friedrichs Angriff auf den Popanz um die angebliche Beeinfussung durch Algorithmen auf unser Leben wird durch dieses Textlein (mit einem lächerlichen GIF-Bild) überhaupt nicht entkräftet. Ich nenne Friedrichs Sicht nicht „naiv“, ich nenne die andere Sichtweise „hysterisch“. Vielleicht ist das ja allzu exotisch heutzutage: Es gibt Entscheidungsprozesse des Menschen, die nicht von Algorithmen beeinflusst werden. Wer eine Urlaubsreise wie früher ohne Internet plant, wird nicht von Algorithmen beeinflusst, sondern höchstens von Reiseprospekten oder anderen medialen Einflüssen wie Fernsehsendungen oder einfach nur Tipps aus dem Bekanntenkreis.
Natürlich gibt es Entscheidungsprozesse des Menschen, die nicht von Algorithmen beeinflusst werden. Aber ist das eine relevante Aussage?