Das soziale Internet

In einem Beitrag für Public Culture analysiert Zeynep Tufekci die medial laufend wiederholten Beteuerungen, das digitale Kommunikation mache Menschen einsamer. Im folgenden fasse ich die wichtigsten Aussagen ihres Beitrag The Social Internet: Frustrating, Enrichting, but Not Lonely zusammen.  Der Artikel kann online nicht frei gelesen werden, eine Privatkopie verschicke ich gerne per Email.

1998 prangte die Schlagzeile »Sad, Lonely World Discovered in Cyberspace« auf der Titelseite der New York Times, den entsprechenden Artikel schrieb Amy Harmon basierend auf wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Tatsache, dass weitere Studien zeigten, dass sich die negativen Effekte mit der Zeit auflösten, wenn es sie überhaupt je gab, wurde medial wenig beachtet. Das Thema blieb ein Dauerbrenner, obwohl es keine Belege dafür gibt, dass Internetkommunikation entweder die ganze Gesellschaft oder einzelne Menschen einsamer gemacht hat.

Tufekci weist nach, dass die Vorstellung der Bedrohung sozialer Verbindungen durch das Web auf eine Zeit zurückgeht, in der eine ganz andere Vorstellung vom Cyberspace vorherrschend war. Der Zugang zum Internet war privilegierten Akademikern (und wenigen Frauen) vorbehalten, die mit den Möglichkeiten anonymer Profile und dem kreativen Gestalten von Identitäten experimentierten. Einsamkeit war völlig akzeptiert, auch weil on- und offline Identitäten kaum verbunden waren miteinander. Der klassische New-Yorker-Cartoon vom Hund, der erzählt, im Internet wisse niemand, dass er ein Hund sei, ist für Tufekci das Sinnbild dieser Phase des Cyberspace: Ein Raum, der von den Einschränkungen des Körpers, des Geschlechts, der Rasse und der Nationalität befreite.

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Danach aber explodierte die Teilnahme an der Netzkommunikation: Im Web bildete sich die Gesellschaft ab und damit waren Menschen, Körper, Unternehmen und Regierungen auch präsent – wenn sie denn jemals wirklich abwesend waren. In der sozialen Phase des Netzes wurde Interaktion mit Menschen, von denen viele auch offline Bekannte waren, die wichtigste Nutzungsart für viele Menschen. Damit verbunden war eine Deanonymisierungsbewegung.

Eine der wichtigsten Thesen des Textes lautet, dass Technologie nicht den Menschen verändert, sondern bestimmte Verhaltensweisen mit veränderten Konsequenzen verbindet. Der Fachbegriff dafür lautet affordance, ein Begriff, der sich kaum übersetzen lässt, aber besagt, dass Technologie gewisse Anreize für bestimmte Verhaltensweisen schafft, weil sie einfacher oder attraktiver werden, oder eben mit negativen Konsequenzen versehen sind. Social Media verändert so nicht unbedingt das, was Menschen tun, sondern welche Auswirkungen soziale Interaktionen haben.

Ein Beispiel dafür ist, dass der Cyberspace heute Identität eher normiert und transparent macht. Nicht nur das: Verschiedene soziale Rollen, die wir in unterschiedlichen Kontexten einnehmen, werden für das jeweils »falsche« Publikum sichtbar und erschweren es, sich so zu präsentieren, wie man das gerne möchte – eine Einsicht, die Kathrin Passig in ihrem hervorragenden Text über »Die Konsensillusion« ausformuliert hat. Heute, so Tufekci, weiß jeder im Internet, wer ein Hund ist.

Social Media ist mit hohem sozialen Druck verbunden, der aber deshalb in Kauf genommen wird, weil der Verzicht auf digitale Kommunikation einen noch höheren Preis hat. »Auf Social Media zu verzichten ist gleichbedeutend mit der Isolation in wichtigen Bereichen des Soziallebens«, schreibt die Forscherin in Bezeug auf ihre Untersuchungen an amerikanischen Colleges.

Eine »soziale Atomisierung« werde seit längerem beobachtet – Tufekci verweist auf Putnams Bowling AloneForschungsergebnisse legen nahe, dass die relevanten Ursachen Fernsehen, Pendeln, Arbeitszeiten, Doppelverdienerfamilien sowie die zunehmende Isolation Jugendlicher seien – das Internet die Effekte bei seinen Nutzerinnen und Nutzern aber abschwäche und keinesfalls verstärke.

Das Internet macht uns nicht einsamer, sondern hat verschiedene systemische Effekte auf die Größe, Zusammensetzung und Struktur unserer sozialen Netzwerke. Das ist ein Grund, weshalb die neue Technologie so viel Unwohlsein verursacht.

Tufekci sieht vier Hauptaspekte:

  1. Das Internet betont erworbene soziale Netzwerke und schwächt zugeschriebene; es gewichtet also Zuneigung und Interessen stärker als Familie und Nachbarschaft. Deshalb sei es auch falsch zu sagen, Social Media helfe nur bei der Aufrechterhaltung von so genannten weak ties, also schwachen Beziehungen zwischen Bekannten.
  2. Das Internet verändert Interaktionsmuster. Wer miteinander kommuniziert, kommt sich näher. Verlagern sich Gespräche ins Netz, verlieren gewisse Menschen den Bezug zueinander und neue finden sich.
  3. Nicht alle Menschen sind in der Lage, medialisierte Kommunikation als echte Begegnung wahrzunehmen. Freundschaften auf Texten zu basieren ist eine komplexe Fähigkeit, die einige Menschen erlernen können und mit denselben Gefühlen verbinden, wie wenn sie face-to-face mit anderen sprechen. Tufekci unterscheidet »cybersoziale« von »cyberasozialen« Menschen: Bei ersteren ist die textbasierte Kommunikation auf einem ganz tiefen emotionalen Level verankert, bei letzteren nicht.
  4. Nicht-medialisierte Kommunikation ist ein Privileg. Sherry Turkle, eine Verfechterin der Einsamkeitsthese, beschreibt in einem Text, wie sie ihren Sommer ohne Smartphone in Cape Cod verbringe – und zeigt damit, wie privilegiert man sein muss, um sich das leisten zu können. Viele Arbeitnehmenden oder Eltern können es sich nicht leisten, in ihrer Freizeit oder ihrer Zeit mit der Familie auf digitale Kommunikation zu verzichten – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie sonst die verschiedenen an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllen können. Die Kritik müsste sich also nicht auf die Verwendung von Technologie richten, sondern auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Menschen nicht erlauben, die Zeit so zu nutzen, wie sie das gerne tun würden.
Cape Cod.
Cape Cod.

Tufekcis Fazit:

Kommunikationstechnologie wirkt weder entmenschlichend noch isolieren, wenn sie für soziale Verbindungen verwendet werden. […] Das Internet ist nicht eine Welt voller körperloser und oberflächlicher Beziehungen, es ist eine Technologie die soziale Verbindungen zwischen echten Menschen medialisiert und strukturiert.

Verhalten in Chats

Dabei ist der Begriff »Gespräch« durchaus zutreffend: Auch wenn die Chats ins Handy getippt werden und so scheinbar schriftlich erfolgen, haben sie wichtige Merkmale mündlicher Kommunikation: Sie sind flüchtig, erfolgen synchron, dialogisch und sind unvollständig und fehlerhaft.  Jugendliche verwenden die syntaktisch scheinbar fehlerhafte Wendung »mit jemandem schreiben«. Diese Formulierung passt die dialogische Formulierung »mit jemandem reden« für den digitalen Kontext an und ersetzt damit die transitive – und damit monologische Formulierung »jemandem schrieben«.

Die Gespräche erfolgen jedoch – anders als analoge Gespräche – simultan. Die technischen Gegebenheiten bringen zudem die Möglichkeit einer viel stärkeren Selektivität mit sich.

Sherry Turkle beschreibt diese Bedrohung wichtiger sozialer Fähigkeiten in ihrem Buch »Alone Together«. Die Computerwissenschaftlerin beschreibt die paradoxe Situation, dass Social Media und konstant in Verbindung mit anderen Menschen treten lassen, diese Verbindungen aber nicht haltbar und belastbar sind, sondern uns nur konstant beschäftigen und uns einsamer werden lassen. Sie schreibt zusammenfassend:

Online, we easily find “company” but are exhausted by the pressures of performance. We enjoy continual connection but rarely have each other’s full attention. We can have instant audiences but flatten out what we say to each other in new reductive genres of abbreviation. […] We have many new encounters but may come to experience them as tentative, to be put “on hold” if better ones come along. Indeed, new encounters need not be better to get our attention. We are wired to respond positively to their simply being new. […] We like being able to reach each other almost instantaneously but have to hide our phones to force ourselves to take a quiet moment.
[Übersetzung phw:] Online finden wir leicht »Gesellschaft«, aber der Druck, etwas leisten zu müssen, erschöpft uns. Wir genießen kontinuierliche Verbindungen aber haben selten die ganze Aufmerksamkeit unseres Gegenübers. Wir haben sofort Publikum, aber dampfen das, was wir einander sagen, mit neuen Mitteln der Abkürzung ein. […] Wir machen viele Bekanntschaften, aber sie sind provisorisch, wir können jederzeit ignoriert werden, wenn sich interessantere Gesprächspartner anbieten. Neue Bekanntschaften müssen nicht einmal interessanter sein, wir haben gelernt, alles Neue positiv zu bewerten. […] Wir mögen es, einander ständig und sofort erreichen zu können, aber müssen unsere Telefone verstecken, um uns einen ruhigen Moment zu verschaffen.

Diese pessimistische Perspektive auf die neuen Möglichkeiten, Gespräche zu führen, ergänzt Turkle durch ein Bild der Familie, die beim Essen nicht mehr vor dem Fernseher sitzt, sondern deren Mitglieder alle konstant mit Abwesenden in Verbindung stehen und so nicht in der Lage sind, mit den wichtigsten Menschen in ihrer Umgebung ein gehaltvolles Gespräch zu führen.

Was Turkle beschreibt, ist eine Gefährdung, der Jugendliche stärker noch als Erwachsene ausgesetzt sind. Im Aufbau eines eigenen sozialen Netzes sind sie darauf angewiesen, viele neuen Bekanntschaften zu machen. Soziale Netzwerke helfen ihnen dabei, es fällt ihnen leicht, gemeinsame Interessen zu entdecken und Gesprächsthemen zu finden. Gleichzeitig bedarf es aber einer konstanten Präsentation der eigenen Persönlichkeit: Das eigene Stilbewusstsein, die Medienkompetenz, der Sinn für Humor, der soziale Status sowie das Aussehen können ständig überprüft und upgedated werden. Jugendliche nehmen ihre Mitmenschen häufig auch über ihre Erscheinung auf sozialen Netzwerken wahr – obwohl ihnen klar ist, dass es sich nicht um ein Abbild einer realen Person handelt.

Nüchtern gesehen steigt dadurch die Komplexität der sozialen Interaktionen: Jugendliche werden von ihren Peers heute nicht nur aufgrund ihrer körperlichen Erscheinung, ihrer Kleidung, ihrer Rhetorik, ihres Wissens und ihrer Kompetenzen eingeschätzt und beurteilt, sondern auch aufgrund ihres Auftritts und Verhaltens im Cyberspace.

Chats haben dabei aber selten den Charakter eine Selbstzwecks. Soziale Verbindungen wurden schon immer medial hergestellt: Ob Kontakte mit Briefen, per Telefon oder im Internet geknüpft oder gepflegt werden, ist qualitativ nicht von Belang. Bedeutsam ist die Beschleunigung der medialen Sphäre: Der Austausch erfolgt permanent, begleitet jede andere Aktivität und kennt unter Umständen keine Pause. Beziehungen können so sehr eng werden – Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner erwarten ständig Antworten, Reaktionen, Lesebestätigungen. Mit leistungsfähigen Smartphones gibt es kaum geschützte Räume mehr, in der Menschen mit sich alleine sind oder die Gesellschaft real Anwesender die einzige Form des Miteinanders ist.

Gerade weil Chats das Medium sind, in dem Jugendliche und auch Kinder konstant aktiv sind, ist es wichtig, dass die Schule das Thema aufgreift. Eine empfehlenswerte Möglichkeiten bieten dabei die Lehrmodule »Chatten ohne Risiko«:

Dort sind ausführliche Beispiele enthalten, wie Gefahrensituation in Chats mit Unbekannten entstehen, die geeignet sind, Unterrichtsgespräche darüber in Gang zu bringen:

Gleichzeitig vermeidet das Lehrmittel einen Alarmismus: Es informiert sachlich und unaufgeregt.

Der Real-Life-Fetisch: Vom Wunsch, »offline« zu sein

Es gibt ein Spiel, das viele Menschen toll finden: Wenn eine Gruppe junger oder mittelalterlicher Erwachsener zusammen im Restaurant isst, wird vereinbart, dass zahlen muss, wer zuerst das Smartphone benutzt. Man schafft einen Anreiz, offline zu bleiben, präsent zu sein: Sich in die Augen zu blicken, ein Gespräch zu führen.Das sind Fähigkeiten, die zunehmend verloren gehen, wenn man populären Technologiekritikern wie der omnipräsenten Sherry Turkle Glauben schenkt. Und doch scheint das Spiel albern, irgendwie auch unnötig.

Rene Magritte: L’Appel des cimes. 1942/43.

In einem Artikel in der Zeit präsentiert nun Eike Kühl in Bezug auf einen Essay von Nathan Jurgenson eine alternative Perspektive: Offline-Sein wird zu einem Fetish, einer Besessenheit. Wir inszenieren uns in unserer Fähigkeit, offline sein zu können. Wer das Internet eine Wochenende lang nicht nutzt, eine Reise ohne Smartphone macht oder bewusst eine Offline-Tätigkeit in Angriff nimmt, kann dies nicht tun, ohne bewusst auf diese Leistung hinzuweisen. Man stellt sich selber als etwas Besonderes heraus, indem man darauf hinweist, dass alle anderen süchtig nach dem Internet seien, abgelenkt und nicht mehr fähig zum tiefgründigen Leben ohne digitale Technik.

Dabei wird von einem dualen Modell ausgegangen, das Jurgenson »digital dualism« nennt: Die Vorstellung, es gebe die reale Welt und dann das Internet. Die beiden Sphären, so das Modell, schließen sich aus: Wer in der realen Welt ist, ist offline. Kühl schreibt dazu von einem eigenen Erlebnis:

Vor einigen Wochen korrigierte ich die Masterarbeit eines Freundes. Es ging um Social Media in Unternehmen, viele Studien, noch mehr Zahlen. An einer Stelle stutzte ich: Es war die Rede von Kontakten im „real life“ im Vergleich zu Kontakten auf Facebook. Ich erinnerte mich an eine Aussage des Pirate-Bay-Gründers Peter Sunde während einer Anhörung. Auf die Frage der Anklage, wann er das erste Mal jemanden im „echten Leben“ kennenlernte, antwortete Sunde: „Ich glaube, das Internet ist auch echt.“ Großartig. Ich strich die Textstelle mit der gleichen Begründung aus.

Das Leben offline wir überhöht. Es ist eine Utopie, in der man sich perfekt konzentrieren kann, erfüllende Beziehungen pflegt, Zeit hat und zur Ruhe kommt. Man ist produktiv und zufrieden. Nur: Diese Zustände gibt es nicht. Wir können uns auch im Internet konzentrieren, pflegen dort erfüllende Beziehungen und sind auch da produktiv und zufrieden – im gleichen Masse, wie wir es auch sonst sind. Das Internet ist Teil des Lebens, es ist das real life.

Kühl weist darauf hin, dass viele Erwachsene im Offline-Sein etwas Nostalgisches sehen:

Viele ältere Nutzer verbinden mit dem Offlinesein in seiner zunehmenden Rarität etwas ebenso Romantisches wie Nostalgisches. Ähnlich der Annahme, dass die besten Texte nur in Handschrift im Notizblock entstehen oder die wahre Musik nur aus den Rillen schwarzer Vinylscheiben erklingt, verbinden viele das digitale Abschalten mit einem veralteten Ideal. Offline, das steht in den Köpfen vieler für ausgedehnte Waldspaziergänge, tiefe Gespräche und gesteigerte Produktivität. Offline, das bedeutet immer auch „damals“: Damals, als wir noch nicht ständig auf E-Mails antworten mussten. Damals, als wir uns nicht ständig ablenken ließen.

Sie bilanziert, die Überhöhung des Offline-Seins »nerve«:

Es scheint fast so, als müsse man seinen Freunden gratulieren, dass sie mal wieder aus de Haus gingen oder während des Essens das iPhone in der Tasche ließen. Dass sie am Wochenende an den See fahren oder drei Tage bei Mutti ihre E-Mails nicht abrufen. Als sei dieses scheinbar selbstverständliche Verhalten einen Toast oder – und damit wird es endgültig bizarr – auch nur einen Tweet wert.

Ist Kommunikation im Internet zu kompliziert?

In einem kurzen Post auf der ZDF-Plattform Hyperland schreibt Julius Endert über die Frage, ob das Internet zu kompliziert sei. Dafür spreche folgender Zusammenhang:

Das Internet vereinfacht die Kommunikation nicht, im Gegenteil: Sie wird beliebig kompliziert, funktioniert wahlweise realtime oder asynchron. Wer sich sicher sein will, dass seine Botschaft auch wirklich ankommt, sollte immer mindestens zwei Kanäle nutzen. Ein Prinzip, welches schon seit der Erfindung der E-Mail gilt. Typisch ist seitdem der Anruf: “Du, ich habe dir ein Mail geschickt.” Kaum einer, der alle verfügbaren Kanäle kennt oder gar zu nutzen weiß. E-mail, Skype, Messenger, Facebook-Chat, Google-Hangout, Twitter, WhatsApp. Und das ist nur der Anfang.

Andererseits, so Endert, gehe die technische Entwicklung der menschlichen immer voraus:

Sozialwissenschaftler wissen: Die technische Entwicklung läuft den Fähigkeiten der Menschen, damit umzugehen, immer voraus. Künftige Generationen werden den Werkzeugkasten der digitalisierten Kommunikation preisen und sogar noch mehr fordern und mehr Möglichkeiten werden kommen. Denn: Sie befreien uns aus der technisch bedingten Limitierung auf wenige Kanäle. Sie schenken uns eine Palette der vielfältigsten Gesprächsmöglichkeiten.
Der Mensch wird endlich wieder Souverän seines Mitteilungsverhaltens und die Art der Kommunikation entscheidet mit über den Grad der Intimität, die wir eingehen möchten – und wir können darüber frei entscheiden.

Diesen Zusammenhang verdeutlicht das unten stehende Prisma – das die Kommunikation im Internet abbildet. Es ist so kompliziert, dass es immer nur in Ausschnitten betrachtet werden kann. Es zeigt aber, wie genau ich die Bedingungen meiner Kommunikationskanäle steuern kann: Ich kann festlegen, wie intim ein Gespräch sein soll und wie öffentlich es sein soll. Ich kann meinem Gegenüber meine Erwartungen an sein Kommunikationsverhalten klar machen, aber dies auch verweigern. Ich kann offene Kommunikationen führen oder sehr enge, klar definierte.


Für die Schule stellen sich im Anschluss an diese Feststellung zwei Fragen:

  1. Wie kann ein Umgang mit diesen Möglichkeiten gelehrten werden?
  2. Kann und soll man davon ausgehen, dass es in der Kommunikation in zehn Jahren auch eine Alternative zu Social Media geben wird? (Die Frage müsste sich auch Sherry Turkle stellen, denke ich.)

Auf seinem Blog schreibt »Swissroman«:

Nehmen wir die Herausforderung sofort an, denn über kurz oder lang bleibt uns nichts anderes übrig.

Wäre dies tatsächlich der Fall, dann hätte dies auf mehreren Ebenen Konsequenzen für den Schulalltag:

  • Im Deutschunterricht müssten die vermitteln Textsorten stark digital orientiert werden und die neuen kommunikativen Rahmenbedingungen wie Öffentlichkeit einbeziehen. Auch Bewerbungen funktionieren nicht mehr nach dem gelernten Schema.
  • Die Kommunikation zwischen Lehrpersonen und zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen müsste frühzeitig auf die Bedeutung der Veränderung überprüft werden. Wenn Lehrpersonen mit SchülerInnen über Facebook kommunizieren, so kann das auch gefährlich werden oder zumindest Unsicherheiten erzeugen.
  • Als dritte Eben müsste das technische Umfeld vorhanden sein, um diese Art von Kommunikation zu ermöglichen.

Die Frage ist in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen: Die Schule läuft Gefahr, in für Jugendlichen wesentlichen Lebensbereichen keine Orientierung mehr anbieten zu können.

Digitale Einsamkeit – die verlorene Fähigkeit, Gespräche zu führen

Gespräch. Quelle: Flickr Blue Square Thing, CC BY-NC-SA

Deshalb sage ich: Schaut auf, schaut euch an – und beginnt ein Gespräch!

Mit diesem Aufruf endet ein Artikel der amerikanischen Soziologin und Psychologin Sherry Turkle, der am Wochenende in der New York Times erschienen ist. Turkle schildert, wie in der Arbeitswelt und in der Welt der Jugendlichen die Fähigkeit verloren gegangen ist, ein Gespräch zu führen. Wir hätten an ihrer Stelle eine neue Fähigkeit gelernt, »gemeinsam alleine« zu sein. (Alone Together heißt auch Sherry Turkles neuestes Buch.)

Turkle beschreibt einen 16-Jährigen, der sich wünscht, zu lernen, wie man ein Gespräch führt. Die Möglichkeit, digital Kontakte zu pflegen, führe zu einer Isolation. Die digitale Kommunikation sei bequemer, so Turkle. Sie ermögliche:

  • Nicht zu enge und nicht zu lose Beziehungen zu pflegen.
  • Uns so zu präsentieren, wie wir wahrgenommen werden wollen.
  • Zu ändern, was wir ändern wollen, zu löschen, was wir löschen wollen.
  • Gespräche in kleine Bestandteile zu strukturieren, denen wir uns dann zuwenden wollen, wenn wir das möchten.

Zwischenmenschliche Beziehungen seien hingegen unordentlich und anspruchsvoll. Technologie wird nach Turkle benutzt, um diese Beziehungen zu bändigen. Dabei entstünde eine Verschiebung hin von Gesprächen zu Verbindungen:

But connecting in sips doesn’t work as well when it comes to understanding and knowing one another. In conversation we tend to one another. (The word itself is kinetic; it’s derived from words that mean to move, together.) We can attend to tone and nuance. In conversation, we are called upon to see things from another’s point of view.
[Übersetzung phw: Sich bei bedarf zu verbinden funktioniert dann nicht, wenn es darum geht, einander zu verstehen und zu kennen. In Gesprächen wenden wir uns einander zu. Wir hören auf den Tonfall und auf Nuancen. In Gesprächen wird von uns verlangt, einen anderen Standpunkt einzunehmen.]

Turkle beschreibt die Konsequenzen dieser Verschiebung als eine Art Zirkel: Weil Technologie uns dabei hilft, anstrengenden Gesprächen aus dem Weg zu gehen, haben wir auch keine Gesprächspartner mehr und wenden uns noch stärker der Technologie zu. Früher sei der Impuls für Gespräche folgender gewesen: »Ich habe ein Gefühl, ich rufe jemanden an.« Heute sei er: »Ich möchte ein Gefühl, ich schreibe eine Nachricht.«

Zum Schluss der Hinweis auf ein Interview mit Turkle in der Zeit. Dort sagt sie unter anderem:

ZEIT: Sie haben Ihr Buch als einen Brief an Ihre Tochter formuliert, die für ein Jahr ins Ausland gegangen ist. Früher waren Eltern und Kinder in dieser Situation zum ersten Mal wirklich voneinander getrennt – ab und zu ein Brief oder ein kurzes, teures Telefonat. Heute ist jeder zu jeder Zeit anwesend, es gibt keine Entschuldigung mehr dafür, nicht erreichbar zu sein.

Turkle: Ja, und es gilt die Regel »Ich texte, also bin ich«. Es gibt einen großartigen Spruch in der Psychologie: Wenn du deine Kinder nicht lehrst, allein zu sein, dann lernen sie nur, einsam zu sein. Wir versagen, wenn wir sie nicht auf ein Alleinsein vorbereiten, das erfrischend und regenerierend wirkt. Wir trainieren sie für eine lebenslängliche Einsamkeit.

ZEIT: Und gleichzeitig senden sie Tausende von Nachrichten…

Turkle: Ja, das ist ein Paradox, das uns mehr und mehr Probleme bereitet.

ZEIT: Und wie lautet Ihr Rezept dagegen?

Turkle: Eigentlich bin ich vorsichtig optimistisch, dass ein Wandel einsetzt. Der Grund ist, dass die Menschen, mit denen ich rede, einfach nicht glücklich sind.

ZEIT: Aber als Psychotherapeutin wissen Sie auch, dass Unzufriedenheit nicht notwendigerweise zu einer Änderung des Verhaltens führt.

Turkle: Was hilft, ist die Identifizierung unserer Schwachstellen. Deshalb spreche ich auch nicht von Sucht. Es geht nicht darum, einen »kalten Entzug« zu machen« und die Geräte wegzuwerfen. Die Gefahr geht ja von einem unausgewogenen Verhältnis aus – wer das einsieht, kann daran arbeiten, ihnen weniger schutzlos ausgeliefert zu sein.

Sherry Turkle. Quelle: Flickr jeanbaptisteparis, CC BY-SA.