Im Folgenden präsentiere ich einen theoretisch-pädagogischen Ansatz von Jacques Rancière und verbinde ihn im zweiten Teil mit dem Thema Social Media.
Das traditionelle Verhältnis von Lehrerin und Schülerin lässt sich wie folgt fassen:
Die Lehrerin weiß vieles und weiß auch, wie man daraus ein »objet de savoir« machen kann, einen Wissensgegenstand.
Die Schülerin weiß
a) (noch) nicht, was die Lehrerin weiß
b) weiß nicht, was sie nicht weiß
c) weiß nicht, wie sie es lernen könnte.
Rancière – ein französischer Philosoph – leitete nun in seinem in den 1980er-Jahren erstmals erschienen Buch folgende Konsequenzen daraus ab (ich habe den Hinweis darauf aus Karl-Werner Modlers Buch »Der Ritt auf dem Tiger«):
- Es gibt eigentlich keine wirklich Unwissenden, weil jeder Mensch immer beobachtet, wiederholt, ausprobiert, Fehler macht, sie korrigiert etc.
- Im traditionellen Verständnis der Lernens gibt die Lehrerin eine Erklärung ab. Diese Erklärung schafft zuerst eine Distanz zwischen Schülerin und Wissensgegenstand, um ihn dann wieder aufzulösen.
- Die Lehrerin braucht die Schülerin, um die Distanz zwischen ihrer Intelligenz, die weiß, worin die Unwissenheit besteht, und der der Schülerin, die das eben nicht weiß, aufrecht zu erhalten.
- Besser wäre eine »unwissende Lehrmeisterin«, welche nur Folgendes tut:
Die Schülerinnen zwingen, sich Sachverhalten auszusetzen, und dann auf drei Fragen zu antworten:
a) Was siehst du?
b) Was denkst du darüber?
c) Was machst du damit? - Die bessere Schülerin sagt nicht »ich kann nicht«, weil sie damit voraussetzt, dass die Lehrerin kann und ihr sagen kann, wie auch sie könnte, sondern sie soll verschiedene Weisen finden, mit dem Gefühl des Nicht-Könnens umzugehen; etwas indem sie sagt: »Céline konnte nicht…« und dann diese Situation beschreibt.
Social Media ist ein geeignetes Medium – aber auch ein geeigneter Lerninhalt für diese Vorschläge von Rancière. Es kann davon ausgegangen werden, dass Lehrpersonen gleich viel oder weniger Kenntnis von Vorgängen im Bereich der Social Media haben, als ihre Schülerinnen und Schüler. Es wäre also möglich, einen Lernprozess als Dialog über Social Media zu initiieren.
Die Voraussetzungen dafür wären:
- Keine Vorurteile von Lehrpersonen über die Aktivitäten ihrer Schülerinnen und Schüler in Social Media.
- Ein echtes Interesse und eigenes Ausprobieren, im Sinne von: Schülerinnen und Schüler erklären, wie es funktioniert.
- Ein gemeinsames oder individuelles Projekt, in das alle ihre Fähigkeiten einbringen (z.B. ein Blogprojekt).
Die didaktische Grundlage wäre wohl das dialogische Lernen von Ruf und Gallin, das auf folgenden Prämissen beruht:
- Wirksame Instruktion entspringt und mündet im Zuhören. [1]
- Motivation entsteht und entwickelt sich mit der Erfahrung, etwas ausrichten zu können und Fortschritte zu machen. [2]
- Lernen bedeutet Umbau und Erweiterung, nicht Neubau. [3]
- Ohne Erfolg keine Anstrengung, ohne Anstrengung kein Erfolg. [4]
Fazit: Gerade die Tatsache, dass Lehrpersonen unter Umständen wenig Erfahrungen und Kenntnisse im Bereich Social Media haben, wäre eine Chance für ein entsprechendes Projekt, weil es die grundsätzliche Annahme, dass Lehrpersonen mit dem Unterricht leere Flaschen (ihre Schülerinnen und Schüler) mit Inhalten füllen, aufhebt.