Smartphone-süchtige Mütter

»Mütter hängen am häufigsten am Smartphone«, titelt der Mamablog heute. Die Autorin, Jeanette Kuster, bezieht sich dabei auf eine Studie von Flurry, die in den Boulevard-Medien intensiv rezipiert wurde. Darin wurde als Smartphone-süchtig definiert, wer täglich 60 Mal eine App aufruft (der Durchschnitt, so die Studienautoren, seien 10 App-Aufrufe täglich).

In einer Infografik von Statista, die den Aspekt der Erziehung fokussiert, wird nun deutlich, dass Mütter und mit der Erziehung von Kindern Beauftragte auffallend häufig zur Kategorie der Süchtigen gezählt werden können.
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Damit ist die Bühne für pädagogische Reflexionen über die Vorbildwirkung von Eltern und besonders Mütter gewährleistet. Medienpädagogische Vorurteile, die nahe legen, Mediennutzung schade Menschen und die Nutzung von Handys sei generell eine Ablenkung von sozialen und wertvollen Aktivitäten, werden durch solche Zusammenhänge schnell abgerufen und aktiviert.

Eine genauere Analyse würde aufzeigen, dass der alleinige Fokus auf Zahlen in diesem Kontext höchst problematisch ist. Aus folgenden Gründen:

  1. Sucht ist seit dem Aufkommen des Begriffs im 19. Jahrhundert ein Kampfbegriff, mit dem bestimmte soziale Gruppen und Verhaltensweisen abgewertet werden.
  2. Sucht quantitativ festzulegen, ist zwar für sozialwissenschaftliche Untersuchungen eine methodische Vereinfachung, führt aber zu sinnlosen Resultaten. Sucht kann auch bei stoffunabhängigen Süchten relativ klar beschrieben werden, ohne dass solche Reduktionen nötig sind.
  3. Das Leben von Müttern oder anderen Erziehungspersonen ist heute komplexer, als es solche Untersuchungen nahe legen. Viele Mütter arbeiten neben ihren Betreuungsaufgaben, sie sind für die oft anspruchsvolle Koordination der Familienorganisation zuständig, pflegen ihr soziales Netzwerk und das der Kinder. Die Mutter, die den Schlafrhythmus des Babys für den Kinderarzt festhalten muss, zehn Fotos der Kinder für den Papa macht, der auf Arbeit ist, ein paar Nachrichten verschickt, Emails für die Arbeit liest, über den Mittag die Zeitung online liest, dazwischen Termine in den digitalen Familienkalender einträgt und das Kind während einer Zugfahrt ein Spiel spielen lässt, damit es die anderen Passagiere nicht stört, kommt schnell auf 60 App-Aufrufe während eines Tages – gerade weil sie während der Care-Arbeit nicht vor dem Computer sitzt.
  4. Zeit zu haben ist ein Luxus. Digitale Kommunikation ist oft effizienter und für die Menschen ein Muss, die es sich eben nicht leisten können, mit Freundinnen Kaffe zu trinken.

Damit ist nicht gesagt, dass es keine problematische Mediennutzung gäbe. Natürlich gibt es die und selbstverständlich leiden Kinder von Eltern, die ihre Mediennutzung nicht im Griff haben, darunter. Aber aufgrund von fragwürdigen Zahlen und noch fragwürdigeren Interpretationen dieser Zahlen Rückschlüsse auf Verhaltensweisen ganzer Gruppen zu ziehen, ist deswegen nicht gerechtfertigt.

Wir müssen Menschen zusehen, zuhören und nachfragen – nicht die Welt, wie sie früher war, als ein buntes Paradies zeichnen, das durch die Smartphones leider zerstört wurde. Sehnsucht nach vergangenen Zeiten kennen wir alle. Sie kehren aber nicht zurück, wenn wir weniger Bildschirmmedien verwenden.

Daran ändert auch »Look Up« nichts – ein Video, das wir wohl alle auf dem Smartphone schauen (vgl. diesen Kommentar):

3 Kommentare

  1. Cathrin sagt:

    Vielen Dank, Philippe Wampfler, für die etwas differenziertere Betrachtung der vermeintlichen Telefon Sucht von Müttern! Es ist genau so wie beschrieben: das Leben ist komplexer geworden und das Smartphone kann etwas Erleichterung verschaffen! Es liegt in der Natur der Dinge, dass eine Mutter nicht den ganzen Tag sinnlos mit dem Telefon herumspielen kann. Viel bedenklicher finde ich es, wenn eine Gruppe Jungendlicher im Freibad sitzt und über Stunden nicht miteinander kommuniziert, weil alle auf ihr Telefon starren.

  2. Viktoria Hammon sagt:

    „Sucht ist seit dem Aufkommen des Begriffs im 19. Jahrhundert ein Kampfbegriff, mit dem bestimmte soziale Gruppen und Verhaltensweisen abgewertet werden.“

    Süchte bekämpfen zu wollen, sind meistens fehlgeleitete Versuche, die zeigen, wie weit wir davon entfernt sind, eine Sucht zu verstehen. Mit der Zuordnung von Sucht weniger inflationär umzugehen, würde nicht zuletzt den wirklich Süchtigen helfen – auch sich selber besser zu verstehen.

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