Das komplexe Verhältnis von Social Media und Magersucht

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Ein Instagram-Profil einer jungen Frau. Sie sagt von sich, sie sei 13 Jahre alt und 56 kg. Sie wäre gerne 45 kg, bei einer Körpergröße von 163 cm. Ihr aktuelles Gewicht liegt in ihrer Altersgruppe zwischen den Perzentilen 75 und 90, d.h. sie ist normalgewichtig, aber überdurchschnittlich schwer. Ihr Wunschgewicht liegt knapp über der Perzentile 10, die gemäß Gesundheitsförderung.ch die Grenze zu Untergewicht markiert.

Das Mädchen veröffentlicht Bilder unter dem Profil wantaskinnybody_ und entschuldigt sich darauf: »I’m sry I’m Fat« – »entschuldigung, ich bin dick«. Ihr Einträge – siehe unten – versieht sie mit einer Reihe von Hashtags, darunter auch #anorexia, #skinnylove, #ana, #magersucht. Sie weist immer wieder auf ihre Profile bei Kik und WhatsApp hin.

Bildschirmfoto 2014-02-04 um 13.00.18Wie authentisch das Profil ist, kann schwer beurteilt werden. Aber es zeigt, mit welchen Mechanismen Menschen – betroffen sind überwiegend junge Frauen – Social Media nutzen, um eine Gemeinschaft zu finden, die sie in ihrem Ziel, dünn zu werden und zu bleiben, unterstützt und berät. Diese Gemeinschaften gibt es schon länger. Im Netz gibt es unzählige Seiten mit Tipps, konkreten Diätvorschlägen für anorexische Menschen und so genannter »thinspiration«, also Inspriation, dünn zu werden oder zu bleiben, meist Bilder und Zitate.

Was für Außenstehende krank wirkt und auch im medizinischen Sinne eine Krankheit ist, wird zum Thema einer Community, deren Mitglieder Essstörungen zwar teilweise rational beurteilen können, aber dennoch keinen Wunsch verspüren, sich behandeln zu lassen. Eine Bloggerin schreibt beispielsweise:

Man sagt, Anorexie sei eine Krankheit. Und das stimmt auch. Es ist eine psychische Krankheit, die einen nur schwer wieder los lässt. Abnehmen um jeden Preis. Auch oft um das eigene Leben, also rate ich jedem, der nicht betroffen ist, sofort diese Seite zu verlassen! Ich bin zwar pro-ana, aber nur, weil ich es mit mir so besser vereinbaren kann. Ich finde mich nur schön oder eigentlich nur annehmbar, wenn ich wenig esse und dünn bin. Das trifft aber nicht auf andere Personen zu. Weiblich zu sein und dazu zu stehn ist sicher das Größte auf dieser Welt!! Doch kann ich das nicht… Für mich ist Ana (Anorexie) also zu einer Art Lebenseinstellung geworden, denn wenn ich täglich daran denke krank zu sein, hilft es mir nicht. Noch will ich nicht raus aus dieser Sache. Vielleicht ändert sich das ja eines Tages. Aber ich kann es mir nur schwer vorstellen…

Wie Sonja Samuda in einer Notiz festgehalten hat, handelt es sich bei Pro-Ana-Gruppen um Selbsthilfegruppen, bei denen aber die gegenseitige Unterstützung widersprüchlich ist. Während die meisten TeilnehmerInnen die Zugehörigkeit als wertvoll empfinden, sind »die Erwartungen der TeilnehmerInnen an die zahlreichen Gruppen dabei keineswegs homogen«, wie Samuda schreibt. Einige beziehen Tipps, und zwar nicht nur für Diäten, sondern auch dafür, wie eine medizinische Behandlung unwirksam gemacht werden kann. Anderen ebnet die Community den Weg zu einer Therapie.

* * *

Um diese Eindrücke zu vertiefen und mit Studien zu verbinden, seien die wichtigsten Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Forschung zu Social Media und Essstörungen im Folgenden kurz zusammengefasst:

  1. Extreme emotionale Reaktionen zu Bildern von Essen und über- oder untergewichtigen Menschen scheint ein Symptom einer Erkrankung an Anorexia Nervosa zu sein. (Spring und Bulik, 2014)
  2. Pro-Ana-Profile führen zu einer spezifischen Online-Identität, welche die Offline-Identität beeinflusst und von ihr beeinflusst wird. Die Online-Rituale, die sich in entsprechenden Gemeinschaften ergeben, führen zur Arbeit an dieser Identität und lösen eine breite Palette von Emotionen aus (Euphorie, Verbundenheit, Zielorientierung, Ekel). Diese Rituale führen – ähnlich wie bei religiösen Bewegungen – zu einer Gruppenidentität, für welche die körperliche Anwesenheit nicht nötig ist, aber teilweise durch Bilder ersetzt wird. Sie etablieren spezifische Ausschlussverfahren für Outsider, teilen ein Ziel und viele Erfahrungen. Die Wirkung der Rituale ist für Teilnehmende eine Bestärkung: Viele sagen, sie könnten nur mit ihrer Anorexie weitermachen, weil es Pro-Ana – also den Austausch im Netz – gebe. (Maloney, 2012)
  3. Präventionsarbeit ist wenig wirksam, wenn sie die Widersprüche zwischen Anorexie als Lifestyle und Anorexie als Krankheit einerseits, zwischen Verhaltensweisen offline und online andererseits aufzulösen sucht. Anorexie ist ein Beispiel dafür, wie Körper, Begehren und Identität zusammenspielen und medialisiert und nicht-medialisiert komplexe Einflussmuster entfalten, die nicht in einfache Modelle rückübersetzt werden können. (Dyke, 2013)
  4. Der Einfluss von Medien und Social Media auf das Körpergefühl und Essverhalten wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Juarez et al., 2012, haben nachgewiesen, dass die Beschäftigung mit Pro-Ana-Seiten sowohl zum Wunsch nach Gewichtsverlust wie zum Wunsch nach Muskelaufbau signifikant beitragen, während die Daten von Ferguson et al., 2012, eher dafür sprechen, dass Gruppeneffekte zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und zu Symptomen von Essstörungen führen, während Medien keinen nachweislichen Einfluss darauf haben. Social Media können Gruppeneffekte verstärken.
  5. Die Peer Group ist hauptverantwortlich für die »Stimme der Autorität«, die Patientinnen und Patienten mit Anorexie oft erleben. Über Imitation und Wettbewerb entsteht so ein massiver Einfluss, welcher Heilungschancen von Therapien stark beeinträchtigen kann. Er wird mittels Social Media effizient organisiert, so dass ein Einbezug und eine Analyse von individueller Interaktion mit Pro-Ana-Gruppen und -Peers in eine Therapie heute unumgänglich scheint. (Allison et al., 2014)
  6. Eine Netzwerkanalyse französischer Pro-Ana-Seiten zeigt, dass Zensur im Netz deshalb fatale Folgen haben kann, weil sich über diese Netzwerke auch die Informationen verbreiten, welche den Anstoss für Therapien geben können oder die an Anorexie Leidenden psychisch unterstützen können, wenn es das Umfeld nicht mehr kann. (anamia.fr, 2013)

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Was Karen Dias aus einer feministischen Perspektive schreibt, gilt gemäß der aktuellen Forschung für die ganze Pro-Ana-Bewegung:

Given that women’s bodies and experiences of embodiment are subjected to relentless surveillance in the public sphere, cyberspace can potentially provide a space for women to meet safely as opposed to traditional public spaces and places in the built environment. Cyberspace can be conceptualized as an alternative space for women with eating and body issues, one that may serve as a sanctuary.

Das Verhältnis von Social Media, Essstörungen, Gruppenverhalten und Identität ist ein komplexes. Es gibt kaum einfache Einflüsse, aus denen sich Massnahmen ableiten ließen. Wertungen sind so wenig möglich wie generelle Aussagen – alle wissenschaftlichen Studien betonen, wie individuelle sich an Anorexie Erkrankte und ihre Peer Groups verhalten würden. Lifestyle und Selbsthilfe, Inszenierung und Leiden, Unterstützung und Gruppendruck verschmelzen, gehen in einander über.

6 Kommentare

  1. Mädchen sagt:

    Anorektisch, nicht anorexisch 🙂

    Lg, von einer Anorexiepatientin, die nie was mit pro-Mia oder pro-Ana was anfangen konnte

  2. Livia sagt:

    Mir wurde nicht ganz klar, was sie in diesem Artikel sagen wollten – wobei ich es, gerade bei diesem heiklen Thema, durchaus sinnvoll finde, keine klaren Aussagen zu machen.
    Ich würde, um der Komplexität entgegenzutreten, trennen, zwischen verschiedenen Formen von Essstörungen. Das ist wahrlich eine ziemlich heterogene Gruppe und deshalb schwierig zu kategorisieren.
    Es gibt die pro-ana und die pro-mia Bewegung. Diese beiden nicht in einem Atemzug zu erwähnen hängt wohl mit der weniger deutlichen Offensichtlichkeit von bulimischem Leiden zusammen.
    Ich habe von Betroffenen schon gehört, dass sie sich klar abgrenzen zu ana-mia-Seiten. Sie fühlen sich beleidigt. Sie häben keine bewusste Entscheidung getroffen, die ihre Krankheit verursachte und wollen sich ändern, alles andere als Inszinieren und Tipps weitergeben; sind aber ihres Willens nicht mächtig, erleben Zwänge/Sucht. Bei den Ana-Mia-Vertreterinnen schein ein bewussterer Entscheid gefällt worden sein, diesem Körperfetisch nachzueifern – obwohl sie früher oder später darunter leiden. Das ist wohl die Unterscheidung, welche sie in Punkt 3 zu Lifestyle oder Krankheit nennen. Allerdings ist möglicherweise ein Lifestyle mit dieser Ausrichtung, auch schon pathologisch zu klassifizieren. (Und der Moment der Entscheidung, ob man diesen Lifestyle vernünftigerweise sinnvoll findet auch „unbewusst“ passiert.)

    Durch die Inszenierungen von ana-mia, wird ein bestimmtes Bild in der Gesellschaft reproduziert, was und weshalb Essstörungen sind. Essstörungen hängen nicht notwendigerweise, oder auch nicht hinreichend, mit dem vorherrschenden Schönheitsideal zusammen – auch nicht mit dem Wunsch abzunehmen. Es kann ein Nebeneffekt sein, welcher häufig als eigentliche Erklärung für die Erkrankung verwendet wird. Damit ist keiner Betroffenen und auch keinen Angehörigen geholfen!

    Zu 6.: Das scheint mir absurd. Kein Austausch um jeden Preis! Ob und wie diese Internetseiten junge Frauen beeinflussen, mag schwierig abzuschätzen zu sein. Trotzdem – pro-ana, heisst soviel wie für-anorexie – vermute ich, dass mehr negative als positive Effekte mit diesen Seiten erreicht wird und – das ist nun der wichtige Teil des Satzes – die negativen Effekte wiegen weitaus mehr!
    Das hat doch Ähnlichkeiten zu einer Suizidmethoden-austausch-Seite: Auch wenn vielleicht wenige an diesem Ort aufgefangen werden können – für die, die im selbstzerstörerischen Vorhaben Unterstützung erhalten, ist die Folge weitaus verheerender. Für die Wenigen, die sogar in diesem destruktiven Umfeld und trotz Sucht und Zwängen, einen anderen Weg einschlagen können, die hätten es wohl auch offline irgendwie geschafft.
    Auch der Artikel von Karen Dias: Ist das zynisch gemeint? Ein Zufluchtsort, wo ana und mia mit neuen Folterinstrumenten ausgerüstet werden? Das entspricht meiner Ansicht nach nicht mehr dem, was ich als Zufluchtsort benennen würde. (Auch wenn, wie alles auf der Welt, auch dieser Raum nicht 100%ig ist: möglicherweise schmiedet eine Folterknechtgenossin Ausbruchspläne; weiss, welche Autorität mildernde Umstände verschaffen kann oder ist zufälligerweise über den Gefängnisschlüssel gestolpert.)

    Danke für die Thematisierung. Sie scheint mir wichtig. Ich würde mich in jedem Fall von solchen Seiten distanzieren und sie verurteilen.

    1. Danke für diese differenzierte Rückmeldung und Einschätzung. Der Artikel vermischt tatsächlich alle Formen von Essstörungen – das hätte ich wohl etwas genauer deklarieren müssen. Und auch die Frage, ob Ana-Seiten etc. ein verzerrtes Bild von Essstörungen abgeben, halte ich für hochinteressant – doch darum ging es hier nur teilweise. Die wissenschaftlichen Artikel, die ich anführen, vermerken alle, wie unterschiedlich die einzelnen Seiten und Gemeinschaften funktionieren. Verallgemeinerungen sind sehr schwierig – das einleitende Beispiel mag auch einen falschen Eindruck geben. Dias meint ihre Aussage völlig ernst: Offline ist der Körper ja immer präsent und den Blicken anderer ausgesetzt. Ihre Aussage bezieht sich jedoch auf verschiedene Formen von Gemeinschaften im Netz.
      Kurz: Die Hauptaussage meines Beitrags ist, dass Social Media nicht in einem eindeutigen Verhältnis zum Spektrum der Essstörungen steht. Für einige mag es ein Weg sein, Unterstützung zu finden, für einige eine Form der Inszenierung, einige gewöhnen sich gleichzeitig mit Essritualen auch an Social-Media-Rituale (Essen fotografieren, sich selbst fotografieren, Gewicht posten etc.), für andere mag die Sozialkontrolle ein Faktor sein, der sie von einer Therapie abhält oder sie unwirksam macht etc.

  3. Ich nehme an, es sollte in der dritten Zeile heißen „d.h. sie ist normalgewichtig, aber überdurchschnittlich GROSS“

    1. Nein, der Durschnitt liegt bei der 50. Perzentile.

      1. Yordan sagt:

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