Social Media und Chancengerechtigkeit in der Bildung

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In der Schweiz und in Deutschland korreliert Bildungserfolg sehr stark mit der sozio-ökonomischen Herkunft, wie z.B. der Bildungsbericht 2010 zeigt. Das heißt, die Leistung einer Schülerin oder eines Schülers wird nicht durch die Qualität des erlebten Unterrichts oder die eigenen Fähigkeiten bestimmt, sondern durch den Status der Familie, besonders der Eltern: Wie »bildungsnah« oder »bildungsaffin« sie sind und wie groß ihr sozialer und wirtschaftlicher Status ist, bestimmt in einem hohen Maß, wie gut die Leistungen von Schülerinnen und Schülern sind.

Diese Erkenntnis ist ein Problem für das System Schule, ein Problem, das meiner Meinung nach zu wenig präsent ist in vielen Diskussionen. In der Fachliteratur werden zwei Effekte unterschieden:

Bildungsdisparitäten bezeichnen Bildungsunterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und stellen das Ergebnis von primären und sekundären Effekten dar. Unter den primären Effektenwerden die Sozialisationsbedingungen  im Elternhaus verstanden, welche bei gegebenen institutionellen (schulischen) Bedingungen zu unterschiedlichen Schulleistungen (Performanz) führen. Die sekundären Effekte bezeichnen die Sozialisationsbedingungen, die bei gegebener Performanz (z.B. gleicher Leistung) die Wahl von Bildungswegen beeinflussen.

Bei beiden Effekten ist die Rolle der Sozialisation entscheidend. Social Media ermöglichen nun theoretisch die Erweiterung der Sozialisation um zunächst virtuelle Beziehungen: Die Digitalisierung erlaubte, diskriminierende Strukturen aufzubrechen und Kindern und Jugendlichen Zugang zu den Bedingungen zu verschaffen, die für Schulerfolg entscheidend sind.

Das ist aber bislang eine Theorie. Das Problem – so entnehme ich den von Manfred Spitzer zitierten Untersuchungen – ist, dass Kinder aus benachteiligten Haushalten in der Tendenz technische Mittel so nutzen, dass sie die Benachteiligung vergrößert, statt sie zu verringern. Die unten stehende Grafik von Spitzer halte ich für problematisch, weil die Medien auch Pfeile nach oben darstellen könnten, abhängig von den Bedingungen, unter denen sie eingesetzt werden. Gerade das zeigt aber, wo der entscheidende Punkt liegt.

Technik ist kein Ersatz für ein Schulsystem, das allen gleiche Chancen bietet, sondern verschärft das Problem. Die hier skizzierten Überlegungen zeigen, dass Medienkompetenz eine fundamentale Bedeutung genießt, weil sie Bedingung ist, unter der Benachteiligungen von Kindern abgebaut werden könnte, weil soziale Netzwerke alternative Sozialisationsmöglichkeiten bereit halten. Und dennoch darf Medienkompetenz kein Feigenblatt sein, um die Auflösung dieser diskriminierenden Strukturen weiter aufzuschieben.

Umgang mit der »digitalen Schnellwelt«

Im Magazin Cicero hat Christian Jakubetz einen präzisen Blogpost publiziert, in dem er die kulturpessimistischen und internet-skeptischen Debatten der letzten Wochen zusammenfasst und darauf reagiert. Er bezieht sich vor allem auf Manfred Spitzer und Anitra Eggler, über die er schreibt:

Beide surfen auf einer Angstwelle und kommen zu der Idee, man müsse diesem digitalen Wahnsinn einfach nur ein paar Grenzen setzen und schon sei alles wieder gut. […] Das Blöde daran ist ja nur, dass uns das alles nicht im geringsten weiter bringt: Weder lässt sich mit der Digitalisierung des Lebens umgehen, indem man nur noch zweimal am Tag Mails liest noch damit, dass man erst im Alter von 14 Jahren regelmäßig an den Rechner darf.

Jakubetz geht davon aus, dass ein Wandel stattfinde, der nicht zu stoppen ist. Die Reaktion der Verweigerung sei zwar naheliegend, aber wertlos.

Dass die Welt etwas schneller und vielkanaliger und natürlich mal wieder etwas komplizierter geworden ist, lässt sich nicht dadurch ändern, wenn man so tut, als wäre es einfach nicht so. […] Digitalisierung [ist] etwas, was es seit Jahrmillionen gibt: eine Evolution, eine Weiterentwicklung – etwas, von dem uns unsere Kinder irgendwann mal ernsthaft fragen werden, wie eigentlich Leben möglich war, bevor es sowas gab.

Deshalb sei keine spezielle Reaktion darauf erforderlich. Der Mensch kenne einfache Lösungen, um mit Überforderung, parallelen Handlungen und hoher Geschwindigkeit umzugehen: Der Glaube an die Richtigkeit des eigenen Handelns, Nachfragen, einzelne Kanäle ausblenden, Störendes ignorieren. Die Digitalisierung bringe hier nichts wesentlich Neues – und deshalb seien auch keine eigenen, spezifischen Haltungen nötig, um dem digitalen Leben zu begegnen, »weil diese digitale Welt so parallel gar nicht ist, sondern in ihren Grundzügen schon ziemlich meiner echten entspricht«.

 

Rezension: Bert te Wildt – Medialisation

Bert te Wildt ist Oberarzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin an der medizinischen Hochschule in Bochum. Dieses Jahr ist bei Vandenhoeck & Ruprecht sein Buch mit dem Titel »Medialisation. Von der Medienabhängigkeit des Menschen« erschienen. Im Folgenden eine Rezension, die wiederum zwei Teile aufweist: einen zusammenfassenden und einen kritisch-wertenden. (Kleine Anmerkung: Ich bin daran interessiert, solche Rezensionen auch in anderen Publikationen unterzubringen und würde sie auch entsprechend umschreiben. Kontakt.)

Das Buch beschreibt das Phänomen der Medialisation, das der Autor wie folgt definiert:

Medialisation meint die kollektive Umsiedlung des Menschen in denjenigen medialen Raum, in dem er sich seine individuellen und kollektiven Träume zu erfüllen hofft. (13)

 Auch wenn Medien den Menschen als solchen überhaupt erst ausmachen, schon immer ausgemacht haben, und das Leben der Menschen schon immer auch in einem medialen Raum stattgefunden hat, so sind wir daran, einen entscheidenden Schritt zu erleben: das Mediale wird zum »entscheidenden Referenzbereich« (wenn ich etwas erlebe, so muss ich es filmen oder fotografieren) und auch zum »zentralen Lebensbereich« (16).

Diesen Umbruch behandelt te Wildt nun kritisch und stellt die Frage nach der Möglichkeit und Bedeutung einer Medienabhängigkeit des Menschen. Damit meint er nicht nur ein pathologischen Phänomen von Mediensüchtigen, sondern ganz allgemein die Vorstellung, dass Medienabhängigkeiten den Menschen ausmachen könnte. Diesem Themenfeld nähert sich te Wildt von den verschiedenen Mediendisziplinen her, denen er jeweils ein Kapitel widmet: Mediengeschichte, -theorie, -technologie, -ökonomie, -soziologie, -psychologie, -anthropologie, -pädagogik, -politik, -ästhetik und Medienphilosophie.

Der zentrale Gedanke dabei ist, dass die Omnipräsenz des Medialen dazu führt, dass Bedürfnisse unmittelbar gestillt werden können. Technische Möglichkeiten machen Menschen dabei zu Kleinkindern, so te Wild: Sie geben jedem Trieb nach und befriedigen ihn virtuell. Dabei vernachlässigen sie ihre »realen«, d.h. körperlichen und existenziellen Bedürfnisse und decken sie mit simulierter Befriedigung zu (98ff.). Diese Simulation versagt aber im Ernstfall:

[Im Internet] wird kein Hungernder satt gemacht, kein Mensch umfassend geliebt, kein Kind gezeugt und geboren, kein Kranker gepflegt und kein Sterbender begleitet und beerdigt. (120)

Medienabhängigkeit ist ein Risiko, dem Arme stärker ausgesetzt sind: Ähnlich wie beim Essen werden sich einen gesunden Zugang zur Realität, d.h. die Erfahrung des eigenen Körpers in der Natur, nur noch Reiche leisten können (101ff.); gleichzeitig ist Medienabhängigkeit aber auch ein Armutsrisiko – wer in die Sphäre des Medialen und Virtuellen abdriftet, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit arm als ander Menschen.

Das psychologisch tiefgründigste Argument hat mit dem Bewusstsein zu tun. Es entsteht durch die Kopplung von innerer und äusserer Wahrnehmung (112). Nun gibt es nach te Wildt zwei Arten von Medialität: intrapsychische (Introspektion) und extrapsychische (Abstraktionsfähigkeit) (184f.). »Medialisation« verhindert durch ein Übergewicht von extrapsychischen, kollektiv entstandener Medialität den Aufbau einer intrapsychischen, individuellen. te Wildt bringt das verständlich auf den Punkt:

Wird das Kind mulitmedial von kollektiven Vorstellungsbildern überflutet, so fehlen ihm die Zeit und der Raum, innerhalb seiner selbst eine mentale Sphäre auszubilden, die noch dann existiert, wenn alle Medien abgeschaltet sind. (191)

Pädagogisch plädiert te Wildt für die Erfahrung des Körpers, das Hervorbringen der Stimme, der Schrift mit nicht abstrahierten Mitteln. Computer und Internet können allenfalls Erfahrungen begleiten, nicht aber ersetzen.

Dieses Argument begründet er auch mit differenzierten Bemerkungen zur Medienabhängigkeit oder -sucht als Krankheit. Anders als Spitzer zeigt er genau, weshalb er Medienabhängigkeit als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet (139ff.):

  • Es tritt zwar oft mit anderen Krankheitsbildern (Depressionen, Angststörungen) zusammen auf, aber das ist auch bei stoffgebundenen Abhängigkeiten meist der Fall. Die Medizin gibt keine Kausalität vor (waren zuerst die Depressionen und dann die Abhängigkeit oder umgekehrt), sondern beschreibt Phänomene.
  • Medienabhängigkeit betrifft hauptsächlich Heranwachsende, ihre Folgen sind daher besonders verheerend.
  • Medienabhängige verlagern Beziehungen und Beziehungsarbeit ins Mediale. Sie erstellen Profile oder Avatare ihrer selbst, an die zentrale Beziehungen anknüpfen. So sind sie gezwungen, viel Zeit dafür aufzuwenden, was den Suchtcharakter verstärkt, gleichzeitig erleben sie aber zufällige Ausschüttungen von Belohnung, wie das bei Glücksspielen der Fall ist, für die es auch eine medizinisch anerkannte Abhängigkeit gibt.
  • Diese »virtuelle Dimension von Beziehungen« führt dazu, dass »das empathische Moment leide[t] oder gar verkommen könnte« (220). Menschen verlieren das Mitgefühl, weil sie ausserstande sind, handeln zu helfen: Sie können im Medialen nur zuschauen.
  • Medien bieten die Möglichkeit der Realitätsflucht: Realität und Wirklichkeitsansprüche driften auseinander – kann die Realität die Ansprüche nicht befriedigen, werden sie ins Mediale externalisiert und zum Objekt gemacht (172).

te Wildt fordert intensivere Forschung, bevor gesagt werden könne, welche Therapieansätze sich als wirksam erweisen können (144ff.).

Medialisation, so kann zusammenfassend gesagt werden, ist gefährlich, weil Funktionen des menschlichen Daseins und Zusammenlebens in die virtuelle Sphäre ausgelagert werden und niemand sagen kann, wer die kontrolliert oder allenfalls manipuliert (124).

Im Schlussteil des Buches fragt te Wildt nach den Möglichkeiten einer Metamorphose des Menschen, der Lösung des Bewusstseins vom Körper. Bislang handle es sich »beim virtuellen Universum [aber um] nicht mehr als ein Versuch, im besten Falle eine Vorbereitung des Menschen, sich einer Metamorphose zu unterziehen« (250). Das Fazit lautet dann:

Die vielfältige Realitätsflucht des Menschen am Scheideweg wird hinter dem Hunger nach realer Nahrung zu einem der größten globalen Probleme, nicht zuletzt deshalb, weil sie uns von den wirklich drängenden Fragen der Menschheit abhält. Im besten Falle können wir lernen, in beiden Welten, der konkreten und der virtuellen Realität, zu leben und die eine für die andere nutzbar zu machen. Da die pathologische, die medienkritische Sicht das mediale Gesamtbild in den bisherigen Ausführungen getrübt haben mag, darf nicht unerwähnt bleiben, dass die neuen Technologischen, gerade auch das Internet, organisatorisch und bildungstechnisch nutzbar gemacht werden können, um den weltweiten konkret-realen Nöten beizukommen. Ds wäre eine Art von Medialisation, die die Zivilisation nicht ablöst, sondern erreicht, unterstützt und vielleicht auf eine höhere Ebene trägt. […] (251)

* * *

te Wildt ist belesen, er schreibt differenziert, entwickelt Gedankengänge und Argumente sauber und definiert zentrale Begriffe. Das macht das Buch lesenswert, es ist eine Fundgrube für medienpsychologische und medienphilosophische Zusammenhänge. Der Autor will aber zu viel: In einer tour de force befragt er alle Medienwissenschaften, stellt zu viele Zusammenhänge dar und wiederholt sich nicht zuletzt. Das Buch ist zu lang geraten. Die Hauptargumente sind in ihm verborgen. Wünschenswert wäre ein weniger umständlicher Aufbau gewesen: Einen anthropologisch-theoretischen Zugang zum Menschen als Medienwesen und konkrete, praktische Aussagen zu Medienabhängigkeit als Krankheit und zu Therapiemöglichkeiten.

Die Wahl eines rein theoretischen Ansatzes verhindert, dass nicht-geschulte Leserinnen und Leser sich anhand von Beispielen Vorstellungen machen können, wie denn die neue Medienwelt konkret funktioniert, welche Spiele gespielt werden, wie der Sog der Interaktivität konkret wirkt. Es werden keine Fallbeispiele genannt, nicht einmal konkrete Software findet Erwähnung – auch wenn man leicht schließen kann, dass das Buch hauptsächlich auf dem Umgang mit World of Warcraft beruht.

Es ist te Wildt zugute zu halten, dass er kaum wertet. Er stellt Zusammenhänge dar, wirft Fragen auf, aber er malt keine Katastrophenszenarien und hält immer wieder fest, dass Medialität auch viele Möglichkeiten bereit hält. Er ist nie dogmatisch. Ein Schlüsselzitat dazu darf man sich für medienpolitische Debatten merken:

Es ist bisher nicht möglich zu sagen, ob die negativen oder positiven Passungen im Netz überwiegen. Momentan hängt diese Einschätzung nicht von wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen ab, sondern vom eigenen Weltbild. (119)

Pathos dringt nur stellenweise durch, vor allem die Forderung nach Medienabstinenz in der Erziehung reißt te Wildt dazu hin, leicht emotional zu werden und Menschen, die eine Beschränkung der Möglichkeiten des Internets verhindern wollen, die Fähigkeit abspricht, ihre Kinder zu erziehen (203f.).

Es gibt aber einige Klischees über neue Medien, die te Wildt gerne und ohne Nachweis durch Studien übernimmt: Im Internet sei es »einfacher einen Sexualpartner zu finden als einen Liebespartner« (121), Blogs und Twitter seien Ausdruck einer tiefen Verunsicherung (169f.), viele Filme würden gegen den Willen der Betroffenen ins Internet gestellt (221) und der Konsum von Kinderpornografie im Internet stelle »längst keine Randerscheinung mehr« dar (ebd.). Auch die Formulierung, die »eigene virtuelle Freiheit [höre da auf], wo die virtuelle Freiheit des Anderen anfängt« (89) greift einen Gedanken auf, der durch die virtuelle Dimension noch unklarer wird: Wo ist denn überhaupt die Grenze, wo die Freiheiten aneinander stossen? Und wie soll ich eine Grenze von aussen sehen, die sich mir immer nur von innen präsentiert? Und wie zieht man im »Cyberspace«, der ja gerade nur metaphorisch ein Ort ist, eine Grenze?

Problematisch erscheinen mir te Wildts Einschübe von unreflektierten Gemeinplätzen aber nur bei einem zentralen Argument: Das Internet führe zu einer sofortigen Bedürfnisbefriedigung, während Medien wie »eine […] Tageszeitung, ein Buch oder eine Nachrichtensendung« bewusst gewählt werden. Diese Abgrenzung erscheint sehr künstlich, was in te Wildts unsorgfältiger Mediendefinition liegt: Während er in der Einleitung Definitionen einen eigenen Abschnitt widmet und dort angibt, er werde mit der Definition von Mike Sandbothe arbeiten: »Medien sind Werkzeuge zwischenmenschlichen Handelns« (Sandbothe, zitiert S. 30).

Nun ist – und das hält te Wildt explizit fest – natürlich auch Gespräche Medien, Gesang, Handgeschriebenes, Bücher, Zeitungen etc. Wenn man nun einen qualitativen Bruch beschreiben möchte, dann reicht es meines Erachtens nicht aus darauf zu verweisen, die Funktionsweise eines Computers würde nicht verstanden (189), die eines Bleistifts hingegen schon. Menschen verstehen meist nicht, wie der Herstellungsprozess von Büchern oder Zeitungen funktioniert, sie lesen sie trotzdem mit Gewinn. Der springende Punkt ist gerade die Bewusstseinsbildung, die te Wildt sauber erklärt, die aber eine unscharfe Grenze darstellt: Man kann den Ort nicht bezeichnen, an dem ich mich durch soziale Medien fremdbestimmen und manipulieren lasse, von ihnen abhängig werde. Diese Prozesse sind nicht notwendigerweise mit dem Internet oder der Digitalisierung verbunden – aber sehr häufig.

Letztlich verfällt te Wildt der biogenetischen Grundregel, also der Vorstellung, die Entwicklung des Menschen vom Säugling zum Erwachsenen sei eine Art Nachvollzug der Entstehung der Menschheit als Art. So postuliert er, jede Medium habe »seine Zeit« – und Bildschirmmedien, wie von Spitzer und anderen festgehalten, dürften erst von Erwachsenen genutzt werden. Dieser Grundgedanke kann kaum begründet werden – auch wenn die pädagogischen Konsequenzen darauf durchaus einleuchten mögen.

Eine Antwort auf eine entscheidende Frage vermag te Wildt nicht zu bieten. Er zitiert Günther Anders »Die Antiquitiertheit des Menschen« von 1956, der schreibt:

Denn aus der Unterstellung, wir, ausschließlich mit Ersatz, Schablonen und Phantomen genährte Wesen wären noch Iche mit einem Selbst, könnten also noch davon abgehalten werden, ‚wir selbst‘ zu sein oder zu ‚uns selbst‘ zu kommen, spricht vielleicht ein heute nicht mehr gerechtfertigter Optimismus. Liegt nicht der Augenblick, in dem ‚Entfremdung‘ als Aktion und Vorgang noch möglich ist, bereits hinter uns? (Anders, zitiert S. 101)

In seiner Konsequenz bedeutet dieser Gedanke, dass keine Trennung zwischen »realen« und »virtuellen« Bedürfnissen mehr möglich ist. Die scheinbar simulierte Bedürfnisbefriedigung wäre dann die echte und die Forderung, den Körper in der Natur zu entwickeln eine normative, die dem Fehlschluss unterliegt, der Wert der Natur sei deshalb höher zu werten als die Virtualität, weil es sie schon immer gegeben habe. Wie kann man hier sauber argumentieren und trennen?

(Am 28. Oktober 2012 ist diese Rezension in der Ausgabe 8(2) von e-beratungsjournal.net erschienen.)

Die Figur des »Digital Native«

Andreas Pfister und Philippe Weber haben an der Kantonsschule Zug, wo sie unterrichten, eine Umfrage zu »mediale[m] Konsum, digitale[n] Fertigkeiten und Wertungen von Medien« durchgeführt, deren (nicht-repräsentativen) Ergebnisse sie in einem Essay in der NZZ interpretiert haben.

Terminator 2 Judgment Day (1991): John Connor, der Digital Native, hackt einen Bankomaten.

Dabei geht es ihnen darum, die »messianische Figur« des Digital Native zu dekonstruieren. Diese Figur weise, so stellen sie einleitend fest, paradoxe Züge auf:

Während man Jugendlichen auf der Ebene des technischen Know-hows alles Mögliche zutraut, wird ihnen zugleich eine kolossale Naivität den Medien gegenüber unterstellt. Der jugendliche Frohmut mache sie blind gegenüber den eigentlichen Kräften, die hinter der Technik lauerten.

Die Figur sei für die Gesellschaft deshalb so wichtig, weil Jugendliche als »Vorhut des Fortschritts« verstanden werden. Die Umfrage zeige jedoch, dass die Realität von dieser Projektion abweicht. Die zentralen Punkte von Pfister und Weber sind dabei:

  1. Jugendliche nutzen Neue Medien zweckgebunden, ihre Lebenswelt ist nicht mit der virtuellen verschmolzen, wie man denken könnte.
  2. Mediennutzung ist nichts Selbstverständliches, sondern wird historisch kontextualisiert und differenziert betrachtet.
  3. Trotz einer gewissen Unbekümmertheit können Jugendliche die Qualität und den Gehalt medialer Produkte beurteilen.
  4. Die Beherrschung digitaler Technik lernen Jugendliche auch heute noch vielfach von Erwachsenen und nicht autodidaktisch.

Das Fazit der Autoren:

Offenbar übernehmen auch Jugendliche gerne die Figur des Digital Natives. Diese Identifikation ist aufschlussreich, weil die Selbstwahrnehmung den tatsächlichen Umgang der Jugendlichen mitprägt und vielleicht zu jener unbekümmerten Praxis führt, die wir feststellen konnten. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf die Erwachsenen übertragen: Das Bild vom jugendlichen Umgang mit Medien prägt den Wandel zur digitalen Gesellschaft mit. Eine Entmystifizierung der Jugendlichen könnte demnach auch eine Chance sein, den digitalen Wandel anders zu gestalten – jenseits von Heilserwartungen und Horrorvisionen.

Auch wenn ich weit gehend mit Pfister und Weber einig gehe, möchte ich zwei Aspekte ansprechen, die blinde Flecken einer solchen Untersuchung sein könnten. Eine Lesart der Digital Divide, die auch z.B. Manfred Spitzer sehr stark macht, ist die, dass der Einsatz von digitaler Technik intelligente, schulisch erfolgreiche Jugendliche in ihrer Leistungsfähigkeit unterstütze, Jugendliche mit Lernschwierigkeit und wenig Schulerfolg jedoch einschränke. Zu fragen wäre also, ob es nicht eine Art Kompetenz ist, digitale Technik so einzusetzen, dass man gerade nicht damit verschmilzt und damit auch in der Schule erfolgreich sein kann.

Damit ist auch die Vermutung verbunden, dass Jugendliche in Bezug auf Medienkompetenz oft Haltungen und Wertungen von Erwachsenen übernehmen – gerade wenn sie von diesen befragt werden. So scheinen die Autoren selbst der Meinung zu sein, die Tagesschau sei ein hochwertigeres Produkt als »Blogs«, eine sehr verbreitete, jedoch komplett undifferenzierte Position: Schlechte Tagesschaubeiträgen stehen hochwertigen Blogposts gegenüber – und umgekehrt. Meine Vermutung wäre, dass gerade die Figur des Digital Native und die damit verbundenen kulturpessimistischen Befürchtungen Jugendliche daran hindern, mit der virtuellen Welt zu verschmelzen, und dazu führen, dass Jugendliche diese Haltungen mindestens teilweise übernehmen. Das führt dazu, dass 16-jährige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten teilweise nicht einmal wissen, was ein Blog ist.

Rezension: Manfred Spitzer – Digitale Demenz

Schon bevor ich das Buch gelesen habe, war ich in intensive Diskussionen darüber verwickelt: Der Bildungsjournalist Christian Füller warf mir und dem Medienpädagogen Beat Doebeli vor, »verbohrt« zu sein und »Aufklärung und Diskurs« zu »blockieren«. Entsprechend nahm ich mir vor, das Buch wohlwollend zu lesen.

Das habe ich nun getan und werde meine Rezension in zwei Teile gliedern: Zuerst in einen kritischen Teil, der sich auf die Methodik, Rhetorik und Argumentation von Spitzer bezieht, dann in einen eher zusammenfassenden, in dem ich die wesentlichen Thesen Spitzers festhalte und diskutiere. Wer sich also nicht für meine etwas ausführlich geratene Methodenkritik interessiert, soll einfach runterscrollen.

(1) Zur Methodik Spitzers – oder »digitale Demenz« googlen

Allem Wohlwollen zum Trotz hat mich das Buch verärgert. Und zwar ziemlich schnell. Spitzer inszeniert sich auf eine Art und Weise, die mir unseriös erscheint. Er tritt nicht als Experte, Psychiater und Lernforscher auf, sondern als Wissender, der den Unwissenden seine Botschaft verkündet. Schon auf der ersten Seite des Buches hält er fest, es gehe um »die Wahrheit« (7), in der Einführung stellt er sich vor, dass ihm seine Kinder später vorhalten könnte, er habe »das alles« gewusst und nichts getan (12). Das hängt mit seinem Wissenschaftsverständnis zusammen, wie gegen Schluss des Buches ersichtlich wird (288ff.): Wissenschaft ist für Spitzer nicht die Überprüfung von Thesen oder die Erfassung komplexer Zusammenhänge, sondern die Vereinfachung im Dienste der »Aufklärung« (ebd.), der gegenüber alles andere »Verharmlosung« ist – z.B. die Aussage, es gäbe keine widerspruchsfreie Theorie der Sucht, weil sie in komplexen Lebensbedingungen entstehe.

Die Opposition von »Aufklärung« und »Verharmlosung« nimmt die Züge einer Verschwörungstheorie an. So zitiert Spitzer immer wieder fiktionale Kritiker seines Buches und macht sogar eine Vorhersage, dass die Regierung mit unseriösen Experten und unseriösen Quellen sein Buch angreifen wird (283f.). Grund dafür, so Spitzer selbst, sei keine Verschwörungstheorie (25), sondern der Glaube daran, eine Industrie wolle »mit digitalen Produkten sehr viel Geld verdienen« (25) – was natürlich absolut richtig ist, aber als Einsicht nicht dazu geeignet ist, sämtliche Kritiker Spitzers zu desavouieren.

Die Pflicht, Aufklärung betreiben zu müssen, kann wohl auch andere Schwächen von Spitzers Methodik erklären: Der wirre Aufbau, bei dem nie deutlich wird, welche Thesen er vertritt oder welche Fragestellungen er genau untersucht. So kann er die Auswirkungen des One Laptop per Child Projekts in Nigeria beschreiben und dann direkt übergehen zur Behauptung, Menschen würden im Internet mehr lügen als in der realen Welt (74f.). Der Mangel an Klarheit betrifft auch die Begriffsverwendung von zentralen Begriffen, Spitzer klärt nie, was er mit »Sucht« meint, was er unter »Medien« oder »digitalen Medien« versteht, skizziert sein Verständnis von »digitaler Demenz« nur ansatzweise oder macht dazu »educated guesses« – also Mutmassungen (302). Um die Relevanz des Begriffs zu zitieren, git er an, Google finde dazu 8000 Einträge (16) – eine Methode, die nicht nur unwissenschaftlich ist, sondern auch dem Geist des ganzen Buches widerspricht.

Hinzu kommen untaugliche und populistische Vergleiche – wie z.B. der, dass Lernen mit Bergsteigen gleichzusetzen sei: Es nütze deshalb nichts, die Wegweiser lesen zu können oder Experten zum Thema Bergsteigen zu befragen, man müsse einfach auf einen Berg steigen (17f.).

Und letztlich störe ich mich an einem selektiven Umgang mit Studien: Studien, die Spitzers Aussagen belegen, werden aus dem Zusammenhang gerissen, vereinfacht dargestellt, mit zusätzlichen Annahmen versehen und mit anderen Aussagen verbunden; Studien, die den Nutzen von digitalen Medien belegen – die kaum erwähnt werden – hingegen methodisch kritisiert und umgedeutet.

Das alles macht Spitzers Aussagen nicht falsch. Aber es gibt mir als Leser – und ich bin, was Neuropsychologie betrifft, ein Laie – den Anschein, als schrecke der Autor davor zurück, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit anderen Ansichten Ernst zu nehmen und die Möglichkeit zuzulassen, dass einige seiner Thesen falsch sein könnten. Ein sehr perfides Beispiel ist seine Abrechnung mit einer Kritik durch Dirk Frank, bei der er Steven Johnson despektierlich »einen amerikanischen Journalisten« nennt (283), ohne ihn namentlich zu erwähnen. (Vgl. auch Beat Doebelis Kritik an Spitzers Umgang mit Zahlen und Zitaten.)

(2) Spitzers Argumente

  1. Es gibt keinen Beleg dafür, dass digitale Medien fürs Lernen förderlich sind.
    Diese Einsicht finde ich wirklich verblüffend. Trotz enormen Investitionen lässt sich nicht belegen, dass diese Investitionen das Lernen erleichtert haben. Es gibt drei mögliche Einwände gegen diese Erkenntnis, die ich allerdings für relativ schwach halte:
    (a) Es fehlen umfassende (langfristige) Studien in klar definierten Lernsituationen (z.B. an Gymnasien im deutschsprachigen Raum etc.).
    (b) Lernen mit digitalen Medien ist nicht mehr dasselbe, wie ohne. Man misst also Lernerfolge mit alten Methoden.
    (c) Die Investitionen wurden noch nicht nachhaltig und umfassend genug getätigt: Erst wenn Lehrende und Lernende mit digitalen Mitteln vertraut sind, wird sich ihr Effekt zeigen.
  2. Was wir nachschlagen können, speichern wir weniger gut ab.
    Das scheint einleuchtend zu sein – es wäre ja auch ineffizient, Inhalte abzuspeichern, die wir abrufen können. Und wozu müssen wir uns Fakten merken, die wir nachschlagen können? Diesen Einwand entkräftet Spitzer: Wir brauchen für viele Gehirnaktivitäten die Gehirnareale, die nur dann ausbildet werden, wenn wir diese Speichervorgänge auch wirklich durchführen.
  3. Um digitale Medien nutzen zu können, braucht es schon »Expertenwissen«, das mit digitalen Medien nicht aufgebaut werden kann.
    Genau das hat auch mit ii. zu tun: Wir brauchen ein Orientierungswissen, das uns dabei hilft, Quellen zu bewerten und zu wissen, wonach wir überhaupt suchen, welche Antworten für uns relevant sind. Hier schient mir Spitzer zu stark nur schwarz oder weiß zu sehen: Es gibt nicht nur den umfassenden Einsatz digitaler Medien, sondern es gibt auch die Möglichkeit eines dosierten Einsatzes (viii.) – der andere Lern- und Lehrmethoden unterstützt und ergänzt, nicht ersetzt.
  4. Digitale Medien verhindern den Aufbau einer Problemlösekompetenz.
    Die damit verbundenen neurologischen Einsichten stammen hauptsächlich aus Tierversuchen und zeigen die Verknüpfung des Hippocampus mit der Gehirnrinde. Hier ist das Buch am stärksten mit neurologischer Forschung unterfüttert – geht aber wiederum von der Annahme aus, digitale Medienhinhalte seien oberflächlich und ersetzten alle anderen Lernformen.
  5. Digitale Medien verunmöglichen eine hinreichend große Verarbeitungstiefe.
    Mit Verarbeitungstiefe meint Spitzer, dass verschiedene Aktivitäten und Perspektiven auf einen Lerninhalt dabei helfen, ihn besser zu erfassen. Digitale Technik dient oft der Abkürzung und Vereinfachung: Wo früher Texte abgeschrieben wurden, wird heute kopiert. Dadurch wird die Verarbeitungstiefe reduziert, der Lerneffekt reduziert und die Ausbildung der Gehirnstruktur verunmöglicht.
    Diese Einsicht ließe sich aber auch produktiv nutzen: Geeignete digitale Lerninhalte müssen eine hinreichende Verarbeitungstiefe gewährleisten – das ist ja nicht undenkbar.
  6. Digitale Medien vergrößern die digitale Kluft.
    Das überrascht mich nicht – zeigt aber, dass die digitale Kluft ein schwer zu lösendes Problem ist. Damit ist gemeint, dass sozial schwächere Schichten oder Regionen durch die digitale Technologie noch schwächer werden. In sozial schwächeren Haushalten werden technische Geräte oft medienpädagogisch falsch genutzt, was wiederum negative Auswirkungen auf die Lernfähigkeit von Kindern hat.
  7. Medienkompetenz kann nicht durch den Einsatz von Hardware erworben werden.
    Die Erfahrung zeigt: Wenn Geräte angeschafft werden, hat das selten keinen Effekt, meist einen negativen. Zuerst muss klar sein, wofür die Geräte sinnvoll verwendet werden können – und es muss sicher sein, dass die dafür nötigen Kompetenzen vorhanden sind. Medienkompetenz muss vor dem Anschaffen von Geräten vorhanden sein, nicht nachher.
  8. Computern verbessern schulische und kognitive Leistungen – aber nur, wenn sie dosiert eingesetzt werden.
    Spitzer unterschlägt diese Aussage etwas, obwohl man sie an mehreren Stellen in seinem Buch belegen kann (85, 229, 250). Die Untersuchungen zeigen den negativen Einfluss von unterschiedlichem Medienkonsum oder -nutzung – der aber dann positiv ist, wenn er dosiert erfolgt.
  9. Der Gebrauch von digitalen Medien beeinflusst die Entwicklung des Gehirns.
    Spitzers Argument ist immer etwas dasselbe: Es gibt keine Tätigkeiten, die das Gehirn nicht beeinflussen. Die Frage ist nun: Ist dieser Einfluss negativ, positiv oder neutral? Meiner Meinung nach gibt es für gewisse, oberflächliche Medienaktivitäten klare Belege, dass sie negative Auswirkungen haben – auch auf die Entwicklung des Gehirns. Aber für weiter reichende Aussagen fehlen Studien und Belege. Es kann durchaus sein, dass sich unsere Gehirn an neue Medien anpasst – und wir das weder schlecht noch gut finden müssen, weil es einfach die Aufgabe unseres Gehirns ist. Die Aussage Spitzers, das Gehirn sei nicht für die moderne Lebensweise entstanden (15), sondern für das Leben von Jägern und Sammlern, würde bedeuten, dass wir auch auf das Lesen, das Schreiben und eine Reihe sozialer Strukturen verzichten müssten, weil sie unser Gehirn beeinflussen. Gerade hier wird ein Kulturpessimismus deutlich, der ein ungutes Gefühl hinterlässt: Auch Notizen führen dazu, dass unser Gehirn weniger speichern muss etc.
  10. Soziale Netzwerke schaden dem Aufbau von Sozialkompetenz.
    Spitzer unterscheidet hier Erwachsene, die soziale Netzwerke als Ergänzungen zu realen Freundschaften und Beziehungen nutzen, von Kindern und Jugendlichen, die nur virtuelle Freundschaften pflegen. Dabei wird stark verallgemeinert: Auch Jugendliche führen reale Freundschaften neben virtuellen. Zudem gibt es pathologische Fälle, aber es gibt auch Jugendliche, die stark an ihrem sozialen Umfeld leiden und sich in einer virtuellen Gemeinschaft aufgehoben fühlen – zu denken ist beispielsweise an Marina Weisband, die das kürzlich in einem Zeit-Interview beschrieben hat.
  11. Der Gebrauch von digitalen Medien macht Menschen krank: Körperlich und psychisch.
    Das ist letztlich die reißerische These des Titels. Die Begriffe »Demenz«, »Sucht«, aber auch Aussagen zur Lebensdauer, Fettleibigkeit etc. sind nicht hinreichend präzise, dass sie zu einer so generellen Aussagen verdichtet werden könnten. Die Befürchtungen Spitzers sollten aber im Auge behalten werden. Aber es sind Befürchtungen, nicht Einsichten.

Zusammenfassend kann man folgende Grafik aus Spitzers Buch anschauen:

Die Grafik zeigt Spitzers Medienskepsis sehr gut – und seine Verallgemeinerungen. Digitale Medien – so meine Position – stehen einer gesunden Entwicklung nicht entgegen, weil sie keine Alternative dazu sind und sein sollen, sondern eine Ergänzung. Niemand soll auf das Begreifen der Welt verzichten, auf Sport, Musik oder Theater. Aber es ist möglich, zusätzlich am Computer zu spielen – nicht täglich und nicht stundenlang, aber dosiert, und das Smartphone als Lerninstrument zu nutzen – nicht immer und in einem sinnvollen Kontext.

Und noch ein paar Links:

  1. Videobeitrag von Spitzer (NDR, 2. August 2012).
  2. Interview mit Spitzer (seine Thesen verdichtet, Pressetext)
  3. Kritische Rezension von Christian Jakubetz (Cicero)
  4. Eine sehr wichtige Aussage macht André Spang in der taz: Spitzer versteht nicht, wie das Internet und das Lernen im Netz funktionieren.
  5. Kritik von Martin Lindner (Carta), hier sein Fazit:

Das Buch ist nicht ernst zu nehmen. Aber es hat keinen Sinn, sich über Spitzers Talkshow-Triumphzug lustig zu machen. Alle, die dazu lustig twittern, sollten sich an die eigene Nase fassen: Wir sind nämlich selber schuld.

Warum haben wir, die Web 2.0-Fraktion, diese Leerstelle gelassen, in die er sich jetzt so begeistert wirft? Warum kann ein ernsthaft besorgter Mensch sich kein Buch kaufen, in dem wir uns vernünftige Gedanken über all das machen: Werden Jugendliche, die (auch digitale) Schriftkultur nicht können, jetzt vollends abgehängt? Was machen faschistoide Ich-ballere-alles-ab-Stirb-langsam-Spiele und Überall-Porno in den Köpfen? Auch die Frage, was mit dem Selberschreiben wird, ist nicht von vornherein lächerlich.

Der Punkt ist nur: Das alles gibt es sowieso. Die Jugendlichen sind bereits im Netz und vor den Geräten, und gerade die potenziell Gefährdeten werden wir am wenigsten dran hindern können. Daran ist ganz sicher nicht die Schule schuld, oder wohlmeinende Eltern, weil sie ihre Kinder mit zum Lernen gedachten digitalen Geräten “anfixen”.

Nicht weniger Medien sind das Gegenmittel sind, sondern mehr, und anders: als Werkzeug der Selbstermächtigung, in einer Welt, die sich rasend schnell verändert. Da hilft nicht Nostalgie, kein Verbot, auch nicht medienpädagogisches Darüberreden, da hilft nur: vormachen.

Rezension: Bleckmann – Medienmündig

 Die Medienpädagogin Paula Bleckmann verspricht in ihrem Buch »Medienmündig« (Klett-Cotta, 2012) eine Anleitung dafür, »wie unsere Kinder selbstbestimmt mit dem Bildschirm umzugehen lernen«. Damit ist auch schon gesagt, was die Autorin unter Medienmündigkeit versteht – ein Begriff, das sie dem »Plastikwort« (Pörksen) Medienkompetenz entgegenhält:

[D]er »Kompetenz« [fehlen], zumindest in der öffentlichen Debatte, gleich zwei entscheidende Dinge: Erstens fehlt die Dimension der Reifung, also des Zeitlassens und Raumgeben im Verlauf der Ausbildung einer Persönlichkeit. Zweitens fehlt die Dimension der Selbstbestimtheit, der Zeitsouveränität, der Verhinderung von Abhängigkeit.

Während das Konzept der Medienmündigkeit im Buch klar gefasst ist – z.B. mit unten stehender Grafik -, werden die hier erwähnten Gefahren ständig wiederholt: Im Abschnitt über Prävention vergleicht Bleckmann Mediennutzung mit dem Rauchen. Das ist symptomatisch: Das Szenario der Sucht und die gesundheitlichen Schäden sind Leitthemen des Buches. Medienmündigkeit ist hauptsächlich Präventionsarbeit, das wichtigste Ziel für PädagogInnen und Eltern: Den Einstieg verzögern.
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Dabei argumentiert die Autorin zu wenig differenziert: Sie spricht mit Spitzer (2005; hier pdf mit Auszügen) von „Bildschirmmedien“, die für Kleinkinder sicher, für Grundschulkinder sehr wahrscheinlich und für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe wahrscheinlich schädlich seien.
Damit meint sie Fernsehen und Computer – ohne nach Inhalten und Tätigkeiten zu unterscheiden. Dabei lässt sie nicht nur die methodische Skepsis beiseite, die sie allen medienfreundlichen Studien entgegenbringt, sondern zeigt auch eine gewisse Ignoranz gegenüber den Entwicklungen der letzten 10 Jahre.
Trotz dieser Kritik lohnt sich die Lektüre – weil das Konzept der Medienmündigkeit durchdacht und überzeugend ist (siehe Auflistung der zentralen Entwicklungsziele unten). Es müsste gekoppelt werden mit einer nüchternen Sicht der medialen Möglichkeiten, die Chancen und Risiken in Beziehung setzt, anstatt Chancen auszublenden und vor Risiken bei jeder Gelegenheit zu warnen.

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Auf dem Blog von Klett-Cotta gibt es eine ausführliche Besprechung.