Videos erfordern eine neue Alphabetisierung

In seiner Abrechnung mit Fernsehen und »Show Business«, Amusing Ourselves To Death  von 1985 notiert Neil Postman:

American television is, indeed, a beautiful spectacle, a visual delight, pouring forth thousands of images on any given day. The average length of a shot on network television is only 3.5 seconds, so that the eye never rests, always has something new to see. Moreover, television offers viewers a variety of subject matter, requires minimal skills to comprehend, and is largely aimed at emotional gratification. (Kap. 6, The Age of Show Business)

Während er in den 80er-Jahren durchaus Recht haben mochte, hat Postman übersehen, wie neue Medien zu einer neuen Art von Alphabetisierung (auf Englisch redet man von neuen literacies) führen. Bewegte Bilder – Videos, Fernsehen – waren zur Zeit von Postmans Niederschrift ein Medium, mit dem nur ein limitierter Umgang möglich war – deshalb waren auch die Anforderungen an Zuschauende tief (»minimal skill to comprehend«).

Das hat sich geändert: Seit Fernsehen vermehrt aufgenommen wird und Videorekorder in allen Formen es erlauben, Szenen mehrmals und verlangsamt zu schauen, wird es möglich genauer hinzusehen, mehrmals dasselbe zu sehen. Dadurch steigen die Anforderungen an die Zuschauerinnen und Zuschauer. Zwei Beispiele:

  1. In seinem neuen Buch über die Mathematik bei den Simpsons erwähnt Simon Singh mehrere »freeze-frame gags«. Dabei handelt es sich um Scherze, die nur in einer Einstellung überhaupt sichtbar sind – also nur dann erkannt werden, wenn eine Simpsons-Folge mehrmals geschaut wird und an entscheidenden Stellen gestoppt werden kann. Als Beispiel hier die zweite Zeile, wo Homer scheinbar Fermats Theorem widerlegt.

    Simpsons, S10E02
    Simpsons, S10E02
  2. In der Analyse der zweitletzten Folge der vierten Staffel von Breaking Bad hat der Youtube-User jcham979 eine begründete Vermutung aufgestellt, wie die Staffel enden wird. Seine Prognose war richtig – sie basierte auf der sorgfältigen Analyse von Schlüsselstellen, die er in einem Video zusammenstellt.

Youtube, so bemerkt Clive Thompson in seinem Buch Smarter Than You Think, ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Alphabetisierung der Videosprache funktionieren könnte. Neue Medien, so seine These, würden zunächst immer Formate aus anderen Medien imitieren und erst durch den Gebrauch einer eigenständigen Funktion zugeführt.

Was sich bei Fernsehserien schon gut zeigen lässt, weil es sie schon recht lange gibt und sie seit der HBO-Revolution um 2000 zu dem geworden sind, was sie im Zeitalter von digitalem Fernsehen sein können (vgl. dazu meinen Aufsatz über die Erzählstruktur von The Sopranos), ist bei Online-Videos noch offen. Thompson geht davon aus, dass sie erst dann einen großen Schritt vorwärts machen, wenn sie vom Massenmedium zum persönlichen Kommunikationsmedium werden. Das sei dann der Fall, wenn sie Post-It-Status erhalten – genau so, wie wir Notizen auf Post-Its machen, die uns helfen, unser Denken zu strukturieren aber gleichzeitig auch komplett wertlos sind: Genau so werden wir Videos machen um zu denken und zu kommunizieren.

Die unten zu sehen Einstellung der Webcam, so Thompson, sei im herkömmlichen Film und Fernsehen verpönt gewesen, weil sie hässlich ist. In der Geschichte der bewegten Bilder sei es aber mittlerweile die häufigste Einstellung – weil sie Menschen ermöglicht, selbst Filme zu drehen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie enthält großes kreatives Potential für die Weiterentwicklung des Mediums Video.

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Youtube-Video mit Webcam. Quelle

Thompson verweist auf die Geschichte der Photographie. Die Manipulierbarkeit von Bildern schien lange eine große Bedrohung für ihren Wahrheitswert zu sein. Sobald aber alle Bilder mit ein paar Klicks am Computer verändern können, entsteht die Möglichkeit, in einem höheren Sinne wahre Bilder zu machen. Unternehmen und Regierungen, die Bilder manipulieren, werden heute fast immer dabei erwischt, weil alle nachvollziehen können, wie das geschehen ist.

Umgekehrt können Bürgerinnen und Bürger manipulierte Bilder nehmen, um eine Wahrheit auszudrücken, die politisch unterdrückt wird. Das geschah nah dem Zugunfall in Wengzhou 2011: Die chinesische Regierung versuchte Kritik im Keim zu unterdrücken, indem sie gewisse Informationen zurückbehielt und eine saubere Untersuchung der Unfalls verhinderte. Auf den sozialen Netzwerken in China gab es heftige Reaktionen auf die Politik der Regierung, die durch verschiedene Zensurmassnahmen nur eingeschränkt zu sehen waren. Bild-Text-Kombinationen, wie sie aus so genannten Memes bekannt sind, blieben aber lange online, weil sie durch herkömmliche Zensurverfahren nicht erfasst werden konnten – sie enthielten ja weder Originalbilder noch verwerflichen Text.

Übersetzung: Das glaube ich eher als die offizielle Version.
Übersetzung: Das glaube ich eher als die offizielle Version.

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Ein letztes Beispiel ist der Zapruder-Film. Er wurde während der Ermordung des amerikanischen Präsidenten Kennedy gedreht und war die Basis zahlloser Verschwörungstheorien. Der Dokumentarfilmer Errol Morris unterhält sich in einem lesenswerten Gespräch mit Ron Rosenbaum über die Bedeutung dieses Films. Der Film wurde Jahrzehnte lang vor dem Publikum versteckt – nun kann er in Zeitlupe auf Youtube betrachtet und analyisert werden.

Das Versprechen, dass die Wahrheit so ans Licht kommt, ist aber trügerisch, so die Pointe von Morris:

Another thing we know is that we may never learn. And we can never know that we can never learn it. We can never know that we can’t know something. This is the detective’s nightmare. It’s the ultimate detective’s nightmare.