Der digitale Kulturpessimismus des Feuilletons langweilt

Schlauen Menschen fällt Kulturpessimismus leicht: Thesenartig nehmen sie Beobachtungen aus der Jugendkultur auf, verbinden sie mit technologischen Neuerungen und zeichnen dann das Bild einer Welt, die dem Leben das Lebenswerte nimmt. Die normative Verwerfung von Entwicklungen, in die jede kulturpessimistische Argumentation münden muss, nehmen ihr alle Offenheit.

Kulturpessimismus floriert im Feuilleton. Über die Gründe kann ich nur spekulieren – es wunder mich immer wieder, warum aus all den Menschen, die zu digitalen Entwicklungen etwas sagen könnten, immer die mit den platten Angst-Thesen Platz erhalten.

Bevor ich skizziere, wie der bessere Netz-Diskurs unter Intellektuellen aussehen könnte, zwei Beispiele:

1. Werther als WhatsApp-Roman

Letzte Woche hat Tomasz Kurianowicz in der NZZ über Liebesbeziehungen geschrieben, die ihren Anfang in Chats finden. »Die neue Generation von Jugendlichen verliebt sich heutzutage vor dem Bildschirm«, ist der Ausgangspunkt von Kurianowicz. Er zitiert Luhmann und analysiert Werther, um zum abschließenden Horrorszenario zu kommen:

[Es] droht die Gefahr, dass wir eines Tages auf dem Sofa aufwachen und menschliche Auseinandersetzung aus Faulheit und Angst vermeiden. Das wäre dann der Punkt, an dem wir einen digitalen Unort erschaffen, an dem es nur noch Platz für uns und unser Smartphone gäbe und keinen Platz mehr für einen Partner aus Fleisch und Blut, den wir trotz und gerade wegen seiner Mängel, Schwächen und Unzulänglichkeiten lieben gelernt haben.

Hier sieht man, warum diese technologiepessimistische Haltung so langweilig ist: Kurianowicz muss annehmen, dass die Balance zwischen sozialer Verbindung und einsamer Reflexion, zwischen schreiben, sprechen und schweigen, zwischen dem Aushalten von Schwächen und dem Einfordern von positiver Resonanz durch die Technologie kippt – dass also über Jahrhunderte etablierte Kulturtechniken und Beziehungsformen sich aufgrund von kleinen Geräten radikal ändern. Statt Werther als Zeichen zu lesen, dass Problemkonstellationen, die Erwachsene bei Jugendlichen heute besonders auffallen, das moderne Subjekt seit seiner Entstehung begleiten, wird der Roman und mit ihm die Jugendlichen ahistorisch pathologisiert. Der Kulturpessimist Kurianowicz schenkt der Technik mehr Bedeutung, als ihr zukommen sollte.

2. Ist ein Auto ohne Lenkrad ein Auto?

Nein, schreibt Niklas Maak in der FAZ in einem Text über die Idee von Google, selbstgesteuerte Autos zu entwickeln, die Menschen nicht mal mehr besitzen müssten, um in stets verfügbaren Taxis von A nach B zu gelangen.

Das Auto, so argumentiert Maak, stünde »im Wortsinn für erfahrbare Freiheit und Selbstbestimmung«. Und auch bei ihm mündet diese Sichtweise in ein Katastrophenszenario:

Man muss gar kein Apokalyptiker sein, um sich auszumalen, wie demnächst die wearable devices und das „Internet der Dinge“ gegen ihre Benutzer arbeiten.

Doch, muss man. Selbstverständlich ist das Auto symbolisch aufgeladen. Natürlich versucht Google mit solchen Innovationen, die Energienutzung und die Mobilität effizienter zu gestalten. Freiheit ist selten besonders effizient. Aber auch hier führt die Befürchtung zu einer schrecklich einfachen Sichtweise: Auch die Pole kollektive Organisation und Freiheit sind in den letzten Jahrhunderten immer wieder aufeinandergeprallt. Ohne Kompromisse ging es nie und wird es nie gehen. Wir können uns weder eine Gesellschaft leisten, in der alle Menschen unbesorgt Ressourcen verschleudern, noch werden wir eine konstruieren, in der Geräte unser Leben so bestimmen, dass wir keine Freiräume mehr erfahren können.

Warum sollte also gerade ein Google-Projekt (von denen mehr gescheitert als erfolgreich gewesen sind) hier eine Entscheidung herbeiführen, die selbst dem Kapitalismus nicht vollständig gelungen ist?

Der digitale Feuilleton-Diskurs, den ich mir wünsche

Die Baby-Boomer, die das Feuilleton lesen, stehen mit beiden Beinen in einer analogen Welt. Digitale Entwicklungen beobachten sie neugierig, wissen aber, dass sie diese Trends nicht mitmachen müssen, um wirtschaftlich und sozial erfolgreich zu sein. Das sind sie schon – sonst würden sie weder die NZZ oder die FAZ lesen. Ihnen holzschnittartige Kulturpessimismustücke vorzulegen hat sich im digitalen Bereich offenbar bewährt:

  1. Schaut mal was die Jungen oder das Silicon Valley tut!
  2. Denkt mal nach, was Goethe, Musil und Luhmann gesagt haben!
  3. Es kann alles noch schlimmer werden, darum wäre es besser, es wäre wie früher!

Wünschen würde ich mir lediglich eine Trennung dieser drei Argumentationsstufen. Ich habe nichts gegen Katastrophenszenarien als Gattung, nichts gegen Beschreibungen von technologischen Entwicklungen und schor gar nichts gegen eine schlaue Musil-Exegese. Aber diese drei Dinge haben weniger miteinander zu tun, als das Feuilleton denken könnte. (Schon nur, weil Goethe, Luhmann und Musil alle keine Kulturpessimisten waren und differenzierte Aussagen zur Technologie gemacht haben.) Was fehlt, sind die Stimmen, die beschreiben können, welche Auswirkungen die Technologie auf die Menschen hat, die sie heute benutzen. Die im arabischen Frühling vor Ort waren, die Twitter bei Protesten in der Türkei benutzt haben, die gegen den chinesischen Firewall kämpfen oder die mit Jugendlichen sprechen und ihre Anliegen kennen.

Diese Stimmen gibt es – es sie meist die von Frauen, die im angelsächsischen Raum agieren. Sie beschönigen nichts, aber sie müssen nicht den Teufel an die Wand malen, um kritisch sein zu können. Zeynep Tufekci und Danah Boyd verdienen Platz im Feuilleton, um digitale Themen zu diskutieren.

Negative Mandala. Groovity, society6
Negative Mandala. Groovity, society6

 

 

 

Das Internet verändert nicht die Menschen, sondern ihre Interaktion

Bei Medium hat Zeynep Tufecki einen klugen Essay über die Ursachen für die gescheiterte Budgetdebatte in den USA geschrieben – wer sich dafür nicht interessiert, sollte den ersten Abschnitt überspringen.

Die aktuelle Budgetkrise in den USA stellt deshalb eine Kuriosität dar, weil über 70 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner dafür sind, dass der »Government Shutdown« beendet wird, die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker aus der Republikanischen Partei aber keine Angst haben müssen, nicht wiedergewählt zu werden, obwohl sie sich der öffentlichen Meinung so klar widersetzen. Tufecki erklärt das damit, dass diese Sitze aus Wahlkreisen stammen, die bewusst so gestaltet worden sind, dass sich Republikaner mit Sicherheit durchsetzen – obwohl die Demokraten 1.4% mehr Stimmen erhalten haben als die Republikaner, haben letztere 17 Sitze im Kongress mehr, weil sie in der Lage sind, die Wahlkreise an vielen Stellen selbst festzulegen. Daher ist es den Tea-Party-Republikanern oft völlig egal, was die öffentliche Meinung im ganzen Land ist, weil sie sich auf einen Wahlkreis konzentrieren, der von konservativen Weißen bestimmt wird und in dem sich demokratische Kandidatinnen und Kandidaten unter keinen Umständen durchsetzen könnten.

Tagclouds zum Shutdown in den USA.
Tagclouds zum Shutdown in den USA.

Tufeckis Einleitung hat damit direkt nichts zu tun, sondern formuliert in wenigen Sätzen eine wichtige Perspektive auf die Kommunikation im Internet. Daher zuerst das leicht gekürzte Original, dann meine Übersetzung:

Are you looking to blame the Internet for something? Forget what you’ve read in most popular media. It’s not making people more angrynarcissistic or lonely.
Not a week goes by in which a headline in a major new outlet doesn’t claim that the Internet turns us into something or other. The internet has been blamed for everything from stupidity to narcissism to loneliness to anger. When you dig down into such stories, you often find that the popular writers have either misunderstood the study—which often merely shows that the Internet reflects offline realities –or are cherry picking small, outlier studies while ignoring the preponderance of the research. (Yes, people who score high on offline narcissism scales behave in more narcissistic ways online. Yes, anger spreads more quickly online compared to other emotions. But guess what? Well-established research shows anger also spreads more quickly offline.) Overall, there is scant evidence, or reason, that the Internet alters fundamentals of human psychology.
The internet doesn’t change the players. It does, however, change the game. Sometimes, drastically. In other words, if you want to understand what the Internet changes, look first to game theory, not psychology. We don’t have a different kind of human as a result of the Internet. We do, however, have different kinds of structures which change the games humans play in their social, personal and political lives.

Möchtest du dem Internet die Schuld für etwas zuschreiben? Dann vergiss, was du in vielen Medien gelesen hast. Das Internet macht Menschen nicht wütiger, narzisstischer oder einsamer.
Es vergeht keine Woche, ohne dass eine wichtige Zeitung oder Zeitschrift in einer großen Schlagzeile behauptet, das Internet würde uns zu diesem oder jenem machen. Von Dummheit über Narzissmus, von Einsamkeit oder Wut – dem Internet wurde für fast alles schon die Schuld gegeben. Wühlt man sich durch solche Geschichten, findet man meist heraus, dass die Autorinnen und Autoren entweder die Studien falsch verstanden hatten – weil die meist zeigen, dass das Internet zum Ausdruck bringt, was sich in der Offline-Realität abspielt – oder kleine, unbedeutende Studien rauspickt, die dem Rest der Untersuchungen widersprechen. (Ja, Menschen die offline narzisstisch sind, verhalten sich online narzisstischer. Ja, Wut verbreitet sich online schneller als andere Gefühle. Aber rate mal? Auch offline verbreitet sich Wut schneller.) Es gibt allgemein kaum Belege oder Gründe dafür, dass das Internet die menschliche Psychologie verändere.
Das Internet verändert mit anderen Worten nicht die Spieler, sondern das Spiel. Manchmal auf drastische Art und Weise. Wer verstehen will, was das Internet ändern, sollte sich mit Spieltheorie beschäftigen, nicht mit Psychologie. Das Internet schafft keine neuen Menschen. Aber es kreiert neue Strukturen und die verändern die Spiele, die Menschen in ihrem sozialen, persönlichen und politischen Leben spielen.

Man kann das wohl am besten am Beispiel der Aufmerksamkeit zeigen. Wer sich mit fremden Menschen über Politik streiten will, kann das offline wie online tun. Aber das Spiel ist online ein ganz anderes. Der Preis dafür (oder der Aufwand) ist kleiner, die resultierende Aufmerksamkeit anders, unter Umständen größer, zumindest gibt es mehr Zuschauer. Die wiederum sind ein sehr selektives Publikum: Würde ich mich in einer Kneipe mit Fremden auf politische Diskussionen einlassen, dann wären wohl einige zufällige Gäste anwesend, von denen sich wenige überhaupt einen Reim auf die allenfalls lautstarke Diskussion machen können. Im Internet sind aber meine Gäste da – sie sehen auf meiner Pinwand oder in ihrer Timeline, mit wem ich mich worüber streite. Weil der Preis für die Handlung kleiner wird und die Belohnung größer, kann es gut sein, dass Menschen online häufiger engagierte politische Diskussionen führen. Das heißt aber nicht notwendigerweise, dass das für sie an Bedeutung gewonnen hätte, weil es das Internet gibt.

http://xkcd.com/610/
http://xkcd.com/610/

Das Internet verändert nicht die Menschen, sondern ihre Interaktion

Bei Medium hat Zeynep Tufecki einen klugen Essay über die Ursachen für die gescheiterte Budgetdebatte in den USA geschrieben – wer sich dafür nicht interessiert, sollte den ersten Abschnitt überspringen.

Die aktuelle Budgetkrise in den USA stellt deshalb eine Kuriosität dar, weil über 70 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner dafür sind, dass der »Government Shutdown« beendet wird, die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker aus der Republikanischen Partei aber keine Angst haben müssen, nicht wiedergewählt zu werden, obwohl sie sich der öffentlichen Meinung so klar widersetzen. Tufecki erklärt das damit, dass diese Sitze aus Wahlkreisen stammen, die bewusst so gestaltet worden sind, dass sich Republikaner mit Sicherheit durchsetzen – obwohl die Demokraten 1.4% mehr Stimmen erhalten haben als die Republikaner, haben letztere 17 Sitze im Kongress mehr, weil sie in der Lage sind, die Wahlkreise an vielen Stellen selbst festzulegen. Daher ist es den Tea-Party-Republikanern oft völlig egal, was die öffentliche Meinung im ganzen Land ist, weil sie sich auf einen Wahlkreis konzentrieren, der von konservativen Weißen bestimmt wird und in dem sich demokratische Kandidatinnen und Kandidaten unter keinen Umständen durchsetzen könnten.

Tagclouds zum Shutdown in den USA.
Tagclouds zum Shutdown in den USA.

Tufeckis Einleitung hat damit direkt nichts zu tun, sondern formuliert in wenigen Sätzen eine wichtige Perspektive auf die Kommunikation im Internet. Daher zuerst das leicht gekürzte Original, dann meine Übersetzung:

Are you looking to blame the Internet for something? Forget what you’ve read in most popular media. It’s not making people more angrynarcissistic or lonely.
Not a week goes by in which a headline in a major new outlet doesn’t claim that the Internet turns us into something or other. The internet has been blamed for everything from stupidity to narcissism to loneliness to anger. When you dig down into such stories, you often find that the popular writers have either misunderstood the study—which often merely shows that the Internet reflects offline realities –or are cherry picking small, outlier studies while ignoring the preponderance of the research. (Yes, people who score high on offline narcissism scales behave in more narcissistic ways online. Yes, anger spreads more quickly online compared to other emotions. But guess what? Well-established research shows anger also spreads more quickly offline.) Overall, there is scant evidence, or reason, that the Internet alters fundamentals of human psychology.
The internet doesn’t change the players. It does, however, change the game. Sometimes, drastically. In other words, if you want to understand what the Internet changes, look first to game theory, not psychology. We don’t have a different kind of human as a result of the Internet. We do, however, have different kinds of structures which change the games humans play in their social, personal and political lives.

Möchtest du dem Internet die Schuld für etwas zuschreiben? Dann vergiss, was du in vielen Medien gelesen hast. Das Internet macht Menschen nicht wütiger, narzisstischer oder einsamer.
Es vergeht keine Woche, ohne dass eine wichtige Zeitung oder Zeitschrift in einer großen Schlagzeile behauptet, das Internet würde uns zu diesem oder jenem machen. Von Dummheit über Narzissmus, von Einsamkeit oder Wut – dem Internet wurde für fast alles schon die Schuld gegeben. Wühlt man sich durch solche Geschichten, findet man meist heraus, dass die Autorinnen und Autoren entweder die Studien falsch verstanden hatten – weil die meist zeigen, dass das Internet zum Ausdruck bringt, was sich in der Offline-Realität abspielt – oder kleine, unbedeutende Studien rauspickt, die dem Rest der Untersuchungen widersprechen. (Ja, Menschen die offline narzisstisch sind, verhalten sich online narzisstischer. Ja, Wut verbreitet sich online schneller als andere Gefühle. Aber rate mal? Auch offline verbreitet sich Wut schneller.) Es gibt allgemein kaum Belege oder Gründe dafür, dass das Internet die menschliche Psychologie verändere.
Das Internet verändert mit anderen Worten nicht die Spieler, sondern das Spiel. Manchmal auf drastische Art und Weise. Wer verstehen will, was das Internet ändern, sollte sich mit Spieltheorie beschäftigen, nicht mit Psychologie. Das Internet schafft keine neuen Menschen. Aber es kreiert neue Strukturen und die verändern die Spiele, die Menschen in ihrem sozialen, persönlichen und politischen Leben spielen.

Man kann das wohl am besten am Beispiel der Aufmerksamkeit zeigen. Wer sich mit fremden Menschen über Politik streiten will, kann das offline wie online tun. Aber das Spiel ist online ein ganz anderes. Der Preis dafür (oder der Aufwand) ist kleiner, die resultierende Aufmerksamkeit anders, unter Umständen größer, zumindest gibt es mehr Zuschauer. Die wiederum sind ein sehr selektives Publikum: Würde ich mich in einer Kneipe mit Fremden auf politische Diskussionen einlassen, dann wären wohl einige zufällige Gäste anwesend, von denen sich wenige überhaupt einen Reim auf die allenfalls lautstarke Diskussion machen können. Im Internet sind aber meine Gäste da – sie sehen auf meiner Pinwand oder in ihrer Timeline, mit wem ich mich worüber streite. Weil der Preis für die Handlung kleiner wird und die Belohnung größer, kann es gut sein, dass Menschen online häufiger engagierte politische Diskussionen führen. Das heißt aber nicht notwendigerweise, dass das für sie an Bedeutung gewonnen hätte, weil es das Internet gibt.

http://xkcd.com/610/
http://xkcd.com/610/

Auch der digitale Mensch ist ein Mensch

Zeynep Tufecki ist eine Forscherin, deren Arbeiten verdeutlichen, welche Funktion Social Media für das Leben der Menschen heute haben. Ihren Aufsatz  »We Were Always Human« habe ich heute mit großem Interesse gelesen und möchte die wichtigsten Argumentationslinien hier nachzeichnen.

Tufecki geht von einer dualistischen Definition des Menschen aus: Er verbindet eine körperliche Präsenz mit einer symbolischen. In der Stimme sind sie verbunden, in der Schrift – so zeigt ein Verweis auf eine berühmte Platon-Stelle – nicht. Die Schrift lässt sich vom Körper trennen und erzeugt so eine körperlose Symbolik:

Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht passt, und sie selber weiß nicht, zu wem sie reden soll, zu wem nicht. (Platon,  Phaidros 275D)

Technologie, so führt Tufecki ihre Argumentation weiter, ändere an der Dualität des Menschen nichts: Weder die Bibliothek von Alexandria noch die Erfindung der Schreibmaschine, des Telegrafen oder des Internets. Aber Menschen würden daran arbeiten, die Sphäre des Symbolischen zu erweitern und zu externalisieren.

Das kann in der frühen Phase des Internets beobachtet werden, in der vornehmlich wohlhabende, aufgeschlossene, junge, weiße Männer digitale Kommunikation verwendet haben, um damit multiple und fragmentarische Persönlichkeiten zu entwerfen, die sich oft rein symbolisch manifestierten und keine körperlichen Konsequenzen hatten.

Heute, in Zeiten von Social Media, nähere sich die digitale Bevölkerung der realen an – und sei damit viel stärker an Körper gebunden, der letztlich alle Rollen, die Menschen online einnehmen könnten, verbinde. Dadurch wird deutlich, dass frühe theoretische Arbeiten zum Internet einen Digitalen Dualismus vertreten haben, der nicht haltbar ist: Der symbolische Bereich des Menschen kann nicht als »Cyberspace« oder »virtuelle Welt« von der körperlichen, realen Welt gelöst werden, weil sonst auch alle Bücher, Höhlenmalereien oder Telefongespräche eine »virtuelle Welt« bilden würden.

Samuel Schimek: Facebook This. Social Media Photobooth.
Samuel Schimek: Facebook This. Social Media Photobooth.

Tufecki hat die Nutzung von Facebook früh intensiv untersucht. Wie Daniel Miller spricht sie davon, es gäbe nicht ein Facebook, sondern für jede Kultur eines. Sie macht nun in ihrem Aufsatz mehrere aufschlussreiche Feststellungen:

  1. Unabhängig von ihren Einstellungen passen sich Menschen – z.B. in Bezug auf Privatsphäre – an die in ihrer Community herrschenden Normen in einem sozialen Netzwerk an.
  2. Deshalb agieren viele dort mit ihrem realen Namen, obwohl sie Bedenken in Bezug auf ihre Privatsphäre haben.
  3. Auf Facebook sind viele Nutzerinnen und Nutzer »Grassroot Surveillance« ausgesetzt, also einer niederschwelligen Überwachung durch ihre Mitmenschen, die es ihnen erschwert, verschiedene Rollen anzunehmen, ohne – im Fall von Jugendlichen – von ihren Eltern, ihren Lehrpersonen oder ihren Freunden dabei indirekt beobachtet zu werden.
  4. Dadurch werden sich neue Normen und Umgangsformen ergeben, die aber noch nicht genügend entwickelt sind, so dass gerade Facebook zur Zeit von Tufeckis Untersuchung zu vielen Konflikten unter Jugendlichen geführt hat.

Tufeckis Untersuchungen konnten aufzeigen, dass es ein Spektrum in Bezug auf die Aufgeschlossenheit gegenüber digitaler Kommunikation gibt. Sie verwendet die Begriffe »cyberasozial« und »cyberhypersozial« für Menschen, die nicht willens oder fähig sind, digitale Beziehungen zu pflegen respektive in hohem Masse willens und fähig dazu sind.

Dieser Charakterzug ist unabhängig von technischer Kompetenz einerseits, von der Intensität und Quantität von offline Beziehungen andererseits: Das Vorurteil, nur sozial nicht eingebundene Menschen würden digitale Beziehungen pflegen, lässt sich durch Tufeckis Untersuchungen widerlegen.

Ihr Fazit:

The size of our capacity and ability for affection and bonding remains grounded in our humanness. And that perhaps is the most impor- tant conclusion. “Faster, higher, and stronger” through technology may be tempting, but we are, as we have always been, human and our limits transcend technology. We are, as we always were, human, all too human.