Anstand und Social Media

Gestern habe ich mir die erste Folge der neuen ABC-Serie »Selfie« angesehen. Die Ausgangslage: Eine junge Frau ist ein »Instastar«, also ein Star auf Instagram. Sie nutzt Social Media um soziales Kapital zu generieren – in ihrer Firma genießt sie gewisse Privilegien. Nur merkt sie selbst nicht, dass sie die Likes und Online-Kontakte nicht in wirklich bedeutungsvolle Interaktionen umwandeln kann: Zu Beginn der Folge wird sie krank und findet niemanden, der oder die ihr ein Ginger Ale an die Badewanne bringen würde. Schnell wird klar, warum: Die junge Frau ist nämlich äußerst unfreundlich zu ihren Mitmenschen. Sie kennt keine Manieren, weil sie ständig mit sich und ihrem Smartphone beschäftigt ist.

Danach entwickelt sich eine Pygmalion-Geschichte: Ein erfolgreicher asienstämmiger Mitarbeiter nimmt sich der jungen Frau an. Er unterrichtet sie trotz Widerständen darin, sich sozial angemessen zu verhalten. Er macht sie zu seinem Geschöpf, an dem er durchaus auch erotisches Interesse hat, wenn es später seinen Vorstellungen entspricht. Ob die Geschichte wie die von Shaw hin zur Unabhängigkeit der Frau kippt, lässt sich in der Pilotfolge noch nicht abschätzen.

Das Bild der Social-Media-Nutzung, wie es in der Serie gezeichnet wird, ist breiter verbreitet, als es das überzeichnete Format erahnen lassen könnte:

  1. Social Media machen oberflächlich.
  2. Social Media führen zu einer ausschließlichen Beschäftigung mit sich selbst.
  3. Social Media führen zu einem Niedergang von Sitten und Anstand.
  4. Social Media machen unglücklich und einsam.
  5. Social Media sind hauptsächlich ein Problem von jungen Frauen.
  6. Wer Social Media intensiv nutzt, müsste einen Kurs besuchen, um von wirklich erfolgreichen Menschen (Männern) zu lernen, wie man das Leben meistert.

Hier soll es nicht darum gehen, diese sechs Aussagen zu prüfen. Einige davon scheinen sich erhärten zu lassen (hier z.B. eine neue Studie zu 4.), andere entstehen durch Vorurteile. Eingehen möchte ich nur auf die Frage des Anstands.

Zu einem NZZ-Beitrag war gestern folgender Lead zu lesen:

Noch nie waren schriftliche Umgangsformen so undefiniert wie heute. Höflichkeiten verschwinden, Sender und Adressat sparen Zeit – und haben doch immer weniger davon.

Im Artikel hält der Kommunikationswissenschaftler Joachim Höflich fest, »Forschheiten« würden zunehmen, weil sie »herkömmliche Muster« aufgelöst haben. Er erwähnt ein klassisches Beispiel: Die Anrede bei E-Mails. Sie sei salopp geworden (»Hallo, Herr Höflich«) oder fehle ganz. Im Text steht auch die schweizerische Angewohnheit, eine E-Mail mit »Grüezi Herr Höflich« zu beginnen. Sie wirke wie andere in diesem »Pluralismus« von Umgangsformen »unbeholfen«.

Dazu sind zwei Punkte anzumerken:

  • Die Wertung (»Forschheit«, »unbeholfen«) geht aus von Personen, die mit den »herkömmlichen Mustern« vertraut sind und sich darauf stützen, wenn sie neue Interaktionsformen beurteilen.
  • Wie Ilana Gershon in ihrem Buch »The Breakup 2.0« nachweist, suchen junge Menschen im Umgang mit E-Mail nach der richtigen Mischung zwischen Nähe und Distanz. Einen Professor mit »Sehr geehrter Herr Höflich« anzusprechen, wirkt zu distanziert und unpersönlich – man kennt sich ja und ist sich nicht fremd. »Lieber Herr Höflich« geht nicht, weil das eine zu große Nähe signalisieren würde. Bleibt ein Mittelweg – »hallo« eben, oder »grüezi«.

Gershon hält fest, dass neue Mittel, Beziehungsarbeit zu medialisieren, zu neuen »Idioms of Practice« führen, also zu neuen Gebrauchsdialekten. Diese Metapher besagt, dass es regional und sozial unterschiedliche Ausprägungen von Gebrauchsnormen geben wird, weil Menschen unterschiedliche Erwartungen haben.

Eine Reflexion der Smartphone-Kultur tut somit not. «Schulen und Medien sollten sie vermehrt bewusstmachen. Denn wir brauchen anerkannte Regeln, damit die Kommunikation weitergeht».

Diese Forderung von Höflich zielt in die völlig falsche Richtung: Die Regeln entstehen, weil Kommunikation weitergeht. Normen sind nötig, damit Kommunikationsschritte aneinander anschließbar werden. Normen entfallen, wenn ihr Sinn nicht vermittelt werden kann und sie Kommunikation behindern. Zu meinen, Schulen und Medien müssten Kindern und Jugendlichen klar machen, wie eine E-Mail-Anrede lauten soll, ist kurzsichtig: Das lernen alle Menschen dann, wenn sie gerne hätten, dass ihre Mails beantwortet werden. Genau so lernen wir schließlich auch, wen wir duzen und wen siezen sollen, wann wir unsere Schuhe ausziehen und wenn jemanden beim Sprechen unterbrechen dürfen.

Smartphones sind dann ein Problem, wenn sie verhindern, dass Menschen ihre Erwartungen äußern können. Wenn Mitmenschen den Blickkontakt oder das offene Gespräch verweigern – wie das die »Selfie«-Protagonistin tut -, dann muss man artikulieren können, dass einen das stört. Ihre Erwartungen in Bezug auf Anstand und soziale Gepflogenheiten können Menschen aber heute – wie früher auch – selbst austauschen. Dazu brauchen sie keine Anleitungen.

owl-eyes

Der digitale Kulturpessimismus des Feuilletons langweilt

Schlauen Menschen fällt Kulturpessimismus leicht: Thesenartig nehmen sie Beobachtungen aus der Jugendkultur auf, verbinden sie mit technologischen Neuerungen und zeichnen dann das Bild einer Welt, die dem Leben das Lebenswerte nimmt. Die normative Verwerfung von Entwicklungen, in die jede kulturpessimistische Argumentation münden muss, nehmen ihr alle Offenheit.

Kulturpessimismus floriert im Feuilleton. Über die Gründe kann ich nur spekulieren – es wunder mich immer wieder, warum aus all den Menschen, die zu digitalen Entwicklungen etwas sagen könnten, immer die mit den platten Angst-Thesen Platz erhalten.

Bevor ich skizziere, wie der bessere Netz-Diskurs unter Intellektuellen aussehen könnte, zwei Beispiele:

1. Werther als WhatsApp-Roman

Letzte Woche hat Tomasz Kurianowicz in der NZZ über Liebesbeziehungen geschrieben, die ihren Anfang in Chats finden. »Die neue Generation von Jugendlichen verliebt sich heutzutage vor dem Bildschirm«, ist der Ausgangspunkt von Kurianowicz. Er zitiert Luhmann und analysiert Werther, um zum abschließenden Horrorszenario zu kommen:

[Es] droht die Gefahr, dass wir eines Tages auf dem Sofa aufwachen und menschliche Auseinandersetzung aus Faulheit und Angst vermeiden. Das wäre dann der Punkt, an dem wir einen digitalen Unort erschaffen, an dem es nur noch Platz für uns und unser Smartphone gäbe und keinen Platz mehr für einen Partner aus Fleisch und Blut, den wir trotz und gerade wegen seiner Mängel, Schwächen und Unzulänglichkeiten lieben gelernt haben.

Hier sieht man, warum diese technologiepessimistische Haltung so langweilig ist: Kurianowicz muss annehmen, dass die Balance zwischen sozialer Verbindung und einsamer Reflexion, zwischen schreiben, sprechen und schweigen, zwischen dem Aushalten von Schwächen und dem Einfordern von positiver Resonanz durch die Technologie kippt – dass also über Jahrhunderte etablierte Kulturtechniken und Beziehungsformen sich aufgrund von kleinen Geräten radikal ändern. Statt Werther als Zeichen zu lesen, dass Problemkonstellationen, die Erwachsene bei Jugendlichen heute besonders auffallen, das moderne Subjekt seit seiner Entstehung begleiten, wird der Roman und mit ihm die Jugendlichen ahistorisch pathologisiert. Der Kulturpessimist Kurianowicz schenkt der Technik mehr Bedeutung, als ihr zukommen sollte.

2. Ist ein Auto ohne Lenkrad ein Auto?

Nein, schreibt Niklas Maak in der FAZ in einem Text über die Idee von Google, selbstgesteuerte Autos zu entwickeln, die Menschen nicht mal mehr besitzen müssten, um in stets verfügbaren Taxis von A nach B zu gelangen.

Das Auto, so argumentiert Maak, stünde »im Wortsinn für erfahrbare Freiheit und Selbstbestimmung«. Und auch bei ihm mündet diese Sichtweise in ein Katastrophenszenario:

Man muss gar kein Apokalyptiker sein, um sich auszumalen, wie demnächst die wearable devices und das „Internet der Dinge“ gegen ihre Benutzer arbeiten.

Doch, muss man. Selbstverständlich ist das Auto symbolisch aufgeladen. Natürlich versucht Google mit solchen Innovationen, die Energienutzung und die Mobilität effizienter zu gestalten. Freiheit ist selten besonders effizient. Aber auch hier führt die Befürchtung zu einer schrecklich einfachen Sichtweise: Auch die Pole kollektive Organisation und Freiheit sind in den letzten Jahrhunderten immer wieder aufeinandergeprallt. Ohne Kompromisse ging es nie und wird es nie gehen. Wir können uns weder eine Gesellschaft leisten, in der alle Menschen unbesorgt Ressourcen verschleudern, noch werden wir eine konstruieren, in der Geräte unser Leben so bestimmen, dass wir keine Freiräume mehr erfahren können.

Warum sollte also gerade ein Google-Projekt (von denen mehr gescheitert als erfolgreich gewesen sind) hier eine Entscheidung herbeiführen, die selbst dem Kapitalismus nicht vollständig gelungen ist?

Der digitale Feuilleton-Diskurs, den ich mir wünsche

Die Baby-Boomer, die das Feuilleton lesen, stehen mit beiden Beinen in einer analogen Welt. Digitale Entwicklungen beobachten sie neugierig, wissen aber, dass sie diese Trends nicht mitmachen müssen, um wirtschaftlich und sozial erfolgreich zu sein. Das sind sie schon – sonst würden sie weder die NZZ oder die FAZ lesen. Ihnen holzschnittartige Kulturpessimismustücke vorzulegen hat sich im digitalen Bereich offenbar bewährt:

  1. Schaut mal was die Jungen oder das Silicon Valley tut!
  2. Denkt mal nach, was Goethe, Musil und Luhmann gesagt haben!
  3. Es kann alles noch schlimmer werden, darum wäre es besser, es wäre wie früher!

Wünschen würde ich mir lediglich eine Trennung dieser drei Argumentationsstufen. Ich habe nichts gegen Katastrophenszenarien als Gattung, nichts gegen Beschreibungen von technologischen Entwicklungen und schor gar nichts gegen eine schlaue Musil-Exegese. Aber diese drei Dinge haben weniger miteinander zu tun, als das Feuilleton denken könnte. (Schon nur, weil Goethe, Luhmann und Musil alle keine Kulturpessimisten waren und differenzierte Aussagen zur Technologie gemacht haben.) Was fehlt, sind die Stimmen, die beschreiben können, welche Auswirkungen die Technologie auf die Menschen hat, die sie heute benutzen. Die im arabischen Frühling vor Ort waren, die Twitter bei Protesten in der Türkei benutzt haben, die gegen den chinesischen Firewall kämpfen oder die mit Jugendlichen sprechen und ihre Anliegen kennen.

Diese Stimmen gibt es – es sie meist die von Frauen, die im angelsächsischen Raum agieren. Sie beschönigen nichts, aber sie müssen nicht den Teufel an die Wand malen, um kritisch sein zu können. Zeynep Tufekci und Danah Boyd verdienen Platz im Feuilleton, um digitale Themen zu diskutieren.

Negative Mandala. Groovity, society6
Negative Mandala. Groovity, society6

 

 

 

Die Facebook-Nostalgie

Bildschirmfoto 2014-03-19 um 12.14.21
NZZ-Artikel vom 19. 3. 2014

Heute sind in Schweizer Tageszeitungen gleich drei Artikel zu Facebook-Gruppen erschienen (FB-Link), die Erinnerungen von Menschen an den Ort, an dem sie aufgewachsen sind, sammeln und zugänglich machen. »Du bisch vo X, wenn…« ist der Titel der Gruppen, in denen Menschen ihren nostalgische Gefühlen an ihre Heimat nachgehen.

Für den NZZ-Artikel würde ich von Andreas Jahn befragt. Meine Einschätzung war etwas differenzierter, als das im Text nun zum Audruck kommt – daher möchte ich hier etwas genauer formulieren, wie ich das Phänomen einschätze.

Social Media schaffen eine neue Nachbarschaft. Wir definieren uns weniger darüber, mit wem wir zusammenleben: Die Mehrfamilienhäuser in der Agglomeration zeichnen sich durch eine fast maximale Anonymität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner aus, für die es zudem kaum eine Rolle spielt, ob sie in Zürich oder in einer von 30 Agglomerationsgemeinden leben, von denen aus Zürich in 20 Minuten erreichbar ist. Vielmehr verbinden sich Menschen im 21. Jahrhundert nach ihren Interessen und Vorlieben. Sie turnen nicht polysportiv im konfessionell festgelegten und lokal verankerten Turnverein, sondern betreiben Pilates, Unihockey oder klettern in einer Halle und an geeigneten Felsen. Ihre Mobilität hat sich erhöht. Ein Faktor sind dabei neue Kommunikationsmittel, die es uns erlauben, uns mit den Menschen zu vernetzen, die zu unserer Lebensgestaltung passen.

Das führt zu Freiheiten, aber auch zu einer massiven Unsicherheit und Verunsicherung. Es entsteht ein dialektisches Verhältnis: Die Möglichkeiten des Webs werfen uns zurück auf die Bedingungen unserer Herkunft, die eben strikt festgelegt waren. Wo wir aufgewachsen sind, was wir erlebt haben war nicht gewählt und erforderte keine Entscheidung – und hat uns gerade deswegen so geprägt.

Dafür stehen diese Facebook-Gruppen. Darüber hinaus ermöglichen sie, einen ganz bestimmten Kontext festzulegen. Die Gruppen sind offen, und doch muss niemand befürchten, dass sich dort Menschen aufhalten, die mit dem zur Diskussion stehenden Ort nichts zu tun haben. Das Thema schließt Nicht-Betroffene automatisch aus und da die Aufmerksamkeitsökonomie fast gänzlich außer Kraft gesetzt ist, weil der Themenbezug so stark ist, liegt niemandem daran, sich in diesen Gruppen stark zu profilieren. So sind die Gruppen eine Reaktion auf das von Kathrin Passig beschriebene Problem der Konsensillusion: Auf Facebook sprechen wir gleichzeitig zu unseren Freundinnen, unsere Familie, unserem Arbeitsumfeld und zu ehemaligen Klassenkameraden. Wir zeigen jeweils eine Seite unseres Profils, die aber für alle sichtbar ist. So lernen wir andere Menschen oft von einer anderen Seite kennen, die uns stark befremden kann. Wir bemerken, dass unsere Mitmenschen unsere Haltungen weniger oft teilen, als wir das üblicherweise denken. Die Vermischung der Kontexte führt zu Enttäuschungen. Die hier zur Diskussion stehenden Gruppen stellen den Kontext wieder her: Wer sich nicht durch eine teilweise übereinstimmende Biografie auszeichnet, kann nicht mitreden und ist nicht präsent.

Nachtrag: Auf Facebook kategorisiert Nanina Egli die Posts in den Gruppen sehr schön:

Grob lassen, sich die Beiträge nämlich m. E. in vier Kategorien teilen: 
(a) Erinnerungen an Personen, Ort oder Ereignisse, die spezifisch an einen Ort geknüpft sind (etwa an Stadtorginale, regionale Feste, spezifische Ereignisse (Stadtbrand) oder Gebäude und Plätze) 
(b) Erinnerungen an Generationenerfahrungen (wie »Du bist von Urkleindorf, wenn Du früher in der Epa Schalplatten gehört hast«)
(c) Erinnerungen an Kleingruppenerlebnisse (»Du bist von Urkleindorf, wenn Du 1976 auch in den Kindergarten bei Frau Hüslimeier gegangen bist.»)
(d) Verhalten in der Jetztzeit, die anhaltenden Patriotismus signalisieren (»Du bist von Urkleindorf, wenn Du noch heute beim Hören des Urkleindöflerurmarsches nasse Augen bekommst.»)
Sinnvoll sind für mich nur die Einträge der Kategorie (a), diese sind aber ein schlechter Marker, dass man tatsächlich vor Ort lebte, was in den Kommentaren sanktioniert wird: »jeder der mal in Urkleindorf war, kennt unseren Urkleindorferurbrunnen – das heisst doch nicht, dass Du von hier kommst!« so dass (in den vier fünf Gruppen, die ich anschaute), sehr rasch Kategorie (b), (c) und (d) überwiegen – lustigerweise werden die Orts-Gruppen aber damit völlig austauschbar.

Aus Baden bin ich halb. Eines meiner ersten Wörter, die ich lesen konnte, war nicht Manor, sondern Vilan.
Aus Baden bin ich halb. Eines meiner ersten Wörter, die ich lesen konnte, war nicht Manor, sondern Vilan.

Die Figur des »Digital Native«

Andreas Pfister und Philippe Weber haben an der Kantonsschule Zug, wo sie unterrichten, eine Umfrage zu »mediale[m] Konsum, digitale[n] Fertigkeiten und Wertungen von Medien« durchgeführt, deren (nicht-repräsentativen) Ergebnisse sie in einem Essay in der NZZ interpretiert haben.

Terminator 2 Judgment Day (1991): John Connor, der Digital Native, hackt einen Bankomaten.

Dabei geht es ihnen darum, die »messianische Figur« des Digital Native zu dekonstruieren. Diese Figur weise, so stellen sie einleitend fest, paradoxe Züge auf:

Während man Jugendlichen auf der Ebene des technischen Know-hows alles Mögliche zutraut, wird ihnen zugleich eine kolossale Naivität den Medien gegenüber unterstellt. Der jugendliche Frohmut mache sie blind gegenüber den eigentlichen Kräften, die hinter der Technik lauerten.

Die Figur sei für die Gesellschaft deshalb so wichtig, weil Jugendliche als »Vorhut des Fortschritts« verstanden werden. Die Umfrage zeige jedoch, dass die Realität von dieser Projektion abweicht. Die zentralen Punkte von Pfister und Weber sind dabei:

  1. Jugendliche nutzen Neue Medien zweckgebunden, ihre Lebenswelt ist nicht mit der virtuellen verschmolzen, wie man denken könnte.
  2. Mediennutzung ist nichts Selbstverständliches, sondern wird historisch kontextualisiert und differenziert betrachtet.
  3. Trotz einer gewissen Unbekümmertheit können Jugendliche die Qualität und den Gehalt medialer Produkte beurteilen.
  4. Die Beherrschung digitaler Technik lernen Jugendliche auch heute noch vielfach von Erwachsenen und nicht autodidaktisch.

Das Fazit der Autoren:

Offenbar übernehmen auch Jugendliche gerne die Figur des Digital Natives. Diese Identifikation ist aufschlussreich, weil die Selbstwahrnehmung den tatsächlichen Umgang der Jugendlichen mitprägt und vielleicht zu jener unbekümmerten Praxis führt, die wir feststellen konnten. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf die Erwachsenen übertragen: Das Bild vom jugendlichen Umgang mit Medien prägt den Wandel zur digitalen Gesellschaft mit. Eine Entmystifizierung der Jugendlichen könnte demnach auch eine Chance sein, den digitalen Wandel anders zu gestalten – jenseits von Heilserwartungen und Horrorvisionen.

Auch wenn ich weit gehend mit Pfister und Weber einig gehe, möchte ich zwei Aspekte ansprechen, die blinde Flecken einer solchen Untersuchung sein könnten. Eine Lesart der Digital Divide, die auch z.B. Manfred Spitzer sehr stark macht, ist die, dass der Einsatz von digitaler Technik intelligente, schulisch erfolgreiche Jugendliche in ihrer Leistungsfähigkeit unterstütze, Jugendliche mit Lernschwierigkeit und wenig Schulerfolg jedoch einschränke. Zu fragen wäre also, ob es nicht eine Art Kompetenz ist, digitale Technik so einzusetzen, dass man gerade nicht damit verschmilzt und damit auch in der Schule erfolgreich sein kann.

Damit ist auch die Vermutung verbunden, dass Jugendliche in Bezug auf Medienkompetenz oft Haltungen und Wertungen von Erwachsenen übernehmen – gerade wenn sie von diesen befragt werden. So scheinen die Autoren selbst der Meinung zu sein, die Tagesschau sei ein hochwertigeres Produkt als »Blogs«, eine sehr verbreitete, jedoch komplett undifferenzierte Position: Schlechte Tagesschaubeiträgen stehen hochwertigen Blogposts gegenüber – und umgekehrt. Meine Vermutung wäre, dass gerade die Figur des Digital Native und die damit verbundenen kulturpessimistischen Befürchtungen Jugendliche daran hindern, mit der virtuellen Welt zu verschmelzen, und dazu führen, dass Jugendliche diese Haltungen mindestens teilweise übernehmen. Das führt dazu, dass 16-jährige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten teilweise nicht einmal wissen, was ein Blog ist.

Leistungsschutzrecht kurz erklärt

Am 29. August hat die Bundesregierung Deutschlands einen Gesetzesentwurf für ein so genanntes Leistungsschutzrecht für Presseverleger (pdf) beschlossen. Im Folgenden eine kurze Erklärung, was damit gemeint ist – gefolgt von einem Aufriss der dadurch entstandenen Kritik am vorgeschlagenen Gesetz.

Was bedeutet Leistungsschutzrecht?

Leistungsschutzrechte sind Teil des Urheberrechts – sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz. Die auch »verwandte Schutzrechte« genannten Rechte schützen nicht die Urheber von Rechten, sondern künstlerische, wissenschaftliche oder gewerbliche Leistungen, die nicht die nötige Originalität aufweisen, um urheberrechtlichen Schutz zu erhalten. Konkret sind damit zum Beispiel folgende Leistungen gemeint:

  • Künstler treten mit Werken auf, die sie nicht selber geschaffen haben (z.B. Cover)
  • ein Buch wird in einer wissenschaftlichen Ausgabe aufbereitet und kommentiert
  • ein Film oder ein Tondokument wird durch die Veröffentlichung zugänglich gemacht.

Presseverlage machen – so die Idee des Leistungsschutzrechtes – journalistische Texte einer Öffentlichkeit zugänglich. Deshalb müssen sie für diese Leistung geschützt werden. Schutz hießt konkret: Wer ihre Leistung kommerziell nutzt, muss dafür eine Lizenz erwerben und bezahlen.

Gemeint sind damit Suchmaschinen und ähnliche Dienste. Betrachtet man ein Google-Suchergebnis, dann sieht man, dass Google sowohl auf die Texte von Online-Portalen verweist, als auch daraus zitiert (so genannte Snippets publiziert).

Damit nutzt Google die Leistung von Presseverlagen kommerziell, so die Idee des Leistungsschutzrechtes für Presseverleger. Google verdient sein Geld nämlich mit Werbung. Fährt Google nach der Einführung des Gesetzes fort, Suchergebnisse von Webseiten von Presseverlagen in dieser Art und Weise aufzubereiten, muss das Unternehmen die Verlage dafür entschädigen.

Ein Leistungsschutzrecht ist deshalb nötig, weil Google nicht gegen das Urheberrecht verstößt, zumal nur wenige Wörter zitiert werden, was das Urheberrecht zulässt.

Kritik am Leistungsschutzrecht

Obwohl der Gesetzesentwurf »andere Nutzer, wie z. B. Blogger, Unternehmen der sonstigen gewerblichen Wirtschaft, Verbände, Rechtsanwaltskanzleien oder private bzw. ehrenamtliche Nutzer« explizit ausschließt und sich nur auf Suchmaschinen und ähnliche Leistungen (gemeint ist z.B. das online Kulturmagazin Perlentaucher, das schon einen Nachruf mit dem Titel »Das Internet war eine Episode der Freiheit« publiziert hat) bezieht, stößt er auf heftige Kritik. Die fünf wichtigsten Aspekte in der Übersicht:

  1. Wer nicht bei Google erscheinen will, erscheint nicht bei Google.
    Verlage, die sich daran stören, dass Google ihre Texte abruft, können mit wenigen Klicks Google daran hindern, das zu tun. Die Verlage nutzen die Leistungen von Google freiwillig, niemand zwingt sie dazu, im Google-Index zu erscheinen.
  2. Die Verlage profitieren mehr von Google als Google von den Verlagen.
    Die Suchergebnisse von Presseverlagen machen etwas 10% der Google-Suchergebnisse in Deutschland aus. Bei den Presseportalen machen die über Google vermittelten Zugriffe aber 30-60% aller Zugriffe aus. D.h. ohne die Presseportale funktionierte Google weiterhin problemlos – die Presseportale verlören hingegen einen Großteil ihrer von Google vermittelten Zugriffe.
  3. Google erbringt eine andere Leistung als die Presseverleger.
    Zu sagen, Google nutze die Leistung der Presseverleger unentgeltlich, impliziert, Google sei auch eine Art Verlag. Google ist aber eine Suchmaschine. Die Werbeeinnahmen erhält Google nicht wegen seiner verlegerischen Leistung, sondern weil es hilft, relevante Links zu finden.
  4. Die Verlage werden durch das Leistungsschutzrecht nichts einnehmen.
    Das wahrscheinlichste Vorgehen der Suchmaschinenanbieter ist, die Presseverlage nicht mehr in ihre Suchergebnisse einzubinden. Dadurch verdienen die Verlage nicht nur nicht, sondern sie verlieren auch massiv Werbeeinnahmen durch fehlende Zugriffe. Sie schneiden sich ins eigene Fleisch, könnte man denken.
  5. Das Gesetz verhindert den freien Fluss der Information.
    Das Internet funktioniert mit Links, mit denen auf andere Informationen verwiesen wird. Darf man – egal in welchem Kontext – nicht verlinken, ohne dafür zu bezahlen, so hindert man Menschen daran, Informationen zu erhalten, die frei verfügbar wären. Das ist grundsätzlich unethisch.

Auch in der Schweiz wurde die Idee eines Leistungsschutzrechtes schon debattiert, am prominentesten wird es durch den Schaffhauser Verleger Norbert Neininger vertreten (NZZ August 2010, NZZ Juni 2012).

Ich verlinke nicht auf sämtlichen relevante Texte, eine lesenswerte Übersicht über die Reaktionen bietet aber irights.info.

Auch Sascha Lobos Analyse der politischen Hintergründe ist sehr lesenswert, zudem zeigt er, dass der Gesetzesentwurf andere, konstruktivere Massnahmen im Umgang mit der problematischen Monopolstellung von Google verhindert oder erschwert.

Ökologie der Aufmerksamkeit

Der Essayist und Gymnasiallehrer Eduard Kaeser hat in einem dichten Essay in der NZZ skizziert, was man sich unter einer Ökologie der Aufmerksamkeit vorstellen könnte. Nicht umsonst hat ihn der Internetexperte Christoph Kappes als »intelligenteren Spitzer« bezeichnet, im »Ton besorgter Gymnasiallehrer« analysiert er Zusammenhänge äußerst lesenswert, intelligent und belesen – aber auch mit einem Hang zum Pathologisieren.

Worum geht es Kaeser? Er unterscheidet in Anlehnung an Georg Francks Konzept der »Ökonomie der Aufmerksamkeit«, in dem Aufmerksamkeit als Kapital analysiert wird, von einer »Ökologie des Aufmerksamkeit«:

Wir leben heute mit den digitalen Medien in einem neuen Ökosystem der Aufmerksamkeiten, und die wichtige Frage stellt sich, welche Arten von Aufmerksamkeit darin gedeihen und welche verkümmern – eine Frage der geistigen Ökologie also.

Diese Frage bezieht er dann direkt auf die Schule und macht folgende Beobachtungen:

  1. »Aufmerksamkeitsschwund«:
    Heute muss die Lehrperson von den Schülerinnen und Schüler Aufmerksamkeit bekommen, nicht mehr umgekehrt.
  2. »Enkulturation über digitale Medien«:
    Eine »stilistische Aufmerksamkeit« gewinnt an Bedeutung auf Kosten einer »substanziellen Aufmerksamkeit«: Medieninhalte werden nicht ihres Inhaltes wegen, sondern ihrer medialen und stilistischen Eigenheiten wegen konsumiert. Wichtig wird das Demonstrieren von Medienkompetenz als soziale Leistung – man gehört dazu; vertieftes Nachdenken und Konzentration geraten schon fast in Verruf.
  3. »ADHS als Normalzustand«:
    Konzentrationsfähigkeit werde schon bald als Krankheit betrachtet, während die neue Form der Aufmerksamkeit durch Multitasking und Multimedialität geprägt sei.
  4. »Ausbalancieren unserer Aufmerksamkeitsarten«:
    Das Fazit Käsers: Verschiedene Formen von Aufmerksamkeit müssen sich abwechseln und sich ausbalancieren.

Kaeser schlägt abschließend einen Selbsttest vor:

Man setze sich irgendwohin – möglichst an einen reizarmen, belanglosen, von Hektik freien Ort – und schenke der Umgebung während einer Viertelstunde seine volle Aufmerksamkeit: dem Boden der Dusche, einer eingefallenen Gartenmauer oder – für schon Fortgeschrittene – dem Bildschirm des ausgeschalteten Computers. Halte ich diesen Offline-Modus aus? Wer das kann, lernt, dass wahre Aufmerksamkeit damit zu tun hat, Leere und Langeweile ertragen zu können – und Warten. Warten lässt einen in einer Gegenwart ankommen, aus der man sich nicht herausschnattern kann: bei sich selber. Wahre Aufmerksamkeit ist – ernst genommen – eine Extremerfahrung. Sie kann uns – in einem zweiten Schritt – lehren, dass die Offline-Existenz gerade durch die Online-Existenz an neuer Bedeutung gewinnt.

Damit schließt Kaeser an eine Diskussion über die Frage an, ob die ständige Beschäftigung, die soziale Netzwerke ermöglichen und erfordern, positiv oder negativ zu bewerten sei – und an die Bewertung des Verhältnisses offline-online, wo die naive Sichtweise, dass das richtige Leben sich nur offline Abspiele, längst durch differenzierte Betrachtungsweisen abgelöst worden ist.

Kaeser Argumentation ist in diesem Sinne auch nicht undifferenziert, durch den Bezug auf den Code »gesund/krank« wird es aber schwierig, eine Entwicklung zu sehen: Mediale und gesellschaftliche Entwicklungen müssen zunächst beschrieben werden, bevor es darum gehen kann, sie zu bewerten. In diesem Sinne ist der Rede von »Aufmerksamkeitsarten« sehr zu begrüßen, die normative Frage, welche Formen denn nun als Krankheit gelten werden oder sollen, könnte dabei ausgeklammert werden.

Mit Smartphones bei Prüfungen betrügen

Heute ist in der NZZ ein Artikel mit dem Titel »Schöner spicken mit dem Smartphone« erschienen. Matthias Böhni diskutiert Möglichkeiten, wie Schülerinnen und Schüler mit dem Smartphone bei Prüfungen betrügen können, befragt diese Schülerinnen und Schüler und zitiert abschließend auch mich:

Und was meint ein Lehrer zu diesem Treiben? Philippe Wampfler ist Mathematik- und Deutschlehrer an der Kantonsschule Wettingen. «Wie oft Schüler mit dem Smartphone spicken, hängt stark von der Prüfungsart, der Lehrperson, der Infrastruktur wie dem WLAN-Netz und der Klasse ab», so Wampfler. «Wenn klassisches Spicken oft vorkommt, würde ich bei Smartphones von wenig sprechen – es ist riskanter und teilweise aufwendiger.» Der 34-Jährige bestätigt zudem, dass es unter den Lehrern viele digitale Analphabeten gebe, die das sogar noch zelebrierten. «Sie haben keine Ahnung, was technisch möglich ist. Eine Katastrophe, dass sie sich das im Jahr 2012 immer noch leisten können. Oft ist nur schon das Bedienen eines Beamers ein unüberwindbares Hindernis», so Wampfler […]. «Von den 20- bis 40-jährigen Lehrern wissen etwa die Hälfte, was die Schüler mit Smartphones anstellen. Je älter, umso weniger haben die Lehrer eine Ahnung.» Von Verboten hält er nicht viel. «Man sollte die Prüfungen so formulieren, dass das Smartphone nicht viel nützen kann, also keine reinen Wissensfragen stellen.»

Hier ein paar ausführlichere Kommentare von mir:

  1. Es ist nicht möglich, Prüfungen zu schreiben, bei denen der Einsatz eines Smartphones unter keinen Umständen einen Vorteil verschaffen könnte. Und oft ist es auch wichtig, Wissensfragen zu stellen.
  2. Es sollte immer möglich sein, dass Lehrpersonen vor Prüfungen Smartphones einziehen oder abschalten lassen.
  3. Auch der geschickte Einsatz von Smartphones demonstriert eine Kompetenz – wer unentdeckt betrügen kann, hat gewissermassen auch etwas gelernt. Selbstverständlich ist das keine Entschuldigung und auch keine Rechtfertigung, aber es hilft vielleicht zu einer gewissen Gelassenheit (auch mit Grafiktaschenrechnern oder anderen Geräten kann man betrügen).
  4. Gute Prüfungen stellen meiner Meinung nach neue Fragen und finden in einem möglichst realistischen Lernumfeld statt: Man darf Hilfsmittel benutzen. Schulen, die mit iPads ausgerüstet sind, sollten die auch bei Prüfungen einsetzen – genau so wie Duden bei Deutschprüfungen eingesetzt werden kann, weil niemand einen Text schreibt, ohne den Duden zu konsultieren. (Das einzige Problem ist, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler gleichermassen mit Smartphones ausgerüstet sind.)
  5. Das Profil der Lehrperson hat sich verändert: Das traditionelle Bild erforderte keine speziellen technischen Kenntnisse, sondern Fach- und Sozialkompetenz. Heute erweitert sich – wie in vielen Berufen – der Anforderungskatalog: Es ist kaum möglich, die perfekte Lehrperson zu finden – weil die halt neben vielen Sachkenntnissen psychologische und kommunikative Fähigkeiten mitbringen soll, motiviert sein muss in einem aufreibenden Job und gleichzeitig auch noch die neuesten technologischen Entwicklungen überblicken und beherrschen soll. Dennoch sollte darauf in Ausbildung und Weiterbildung mehr Gewicht gelegt werden.
  6. Ein generelles Verbot von Smartphones halte ich für problematisch, wie ich hier ausgeführt habe.

Der Fotograf der NZZ, Christoph Ruckstuhl, hat noch weitere Bilder gemacht, eines davon verwende ich hier. Alle Rechte liegen bei ihm bzw. bei der NZZ.

 

Zusatz 21. August 2012: Auch der Blog der Swisscom, Hallo Zukunft, verwendet ein Zitat von mir.

Systematische Intransparenz: Kritik an Facebook und mobilen Apps

Ein aufschlussreicher Artikel in der FAZ übt massiver Kritik an Facebook und zeigt zurecht auf, dass Neuerungen oft versteckt und so eingeführt werden, dass man sie nicht freiwillig benutzen kann, sondern sie automatisch aufgeschaltet werden und man sie nur mit großem Aufwand wieder abschalten kann:

Nur Informatiker können wirklich verstehen, was Facebook mit den persönlichen Daten treibt. Gesichtserkennung, Zwangsadresse, Gruppenverhalten: die Intransparenz hat System.

Dieses System ermöglicht Facebook, mit den Inhalten von Usern Geld zu verdienen, Werbung zu schalten etc. Joana Kiel schreibt weiter:

Diese Informationen werden von einer großen Datenbank aufgenommen und verwertet. So kann die Datenbank beim Hochladen von neuen Bildern immer mehr Informationen und Markierungen miteinander vergleichen – das Datennetz wird immer dichter.

Ähnlich gehen mobile Apps vor, die viele Nutzerdaten ungefragt weiterleiten und verwenden. Dazu hat Henning Steier heute in der NZZ einen Artikel publiziert, in dem er Tools wie MobileScope vorstellt, mit deren Hilfe man erkennen kann, welche Apps welche Daten weiterleiten. Diese Tool sind selbst auch nicht unproblematisch, zumal sie auf alle Daten Zugriff haben und man faktisch sein Handy komplett überwachen lässt.