Ökologie der Aufmerksamkeit

Der Essayist und Gymnasiallehrer Eduard Kaeser hat in einem dichten Essay in der NZZ skizziert, was man sich unter einer Ökologie der Aufmerksamkeit vorstellen könnte. Nicht umsonst hat ihn der Internetexperte Christoph Kappes als »intelligenteren Spitzer« bezeichnet, im »Ton besorgter Gymnasiallehrer« analysiert er Zusammenhänge äußerst lesenswert, intelligent und belesen – aber auch mit einem Hang zum Pathologisieren.

Worum geht es Kaeser? Er unterscheidet in Anlehnung an Georg Francks Konzept der »Ökonomie der Aufmerksamkeit«, in dem Aufmerksamkeit als Kapital analysiert wird, von einer »Ökologie des Aufmerksamkeit«:

Wir leben heute mit den digitalen Medien in einem neuen Ökosystem der Aufmerksamkeiten, und die wichtige Frage stellt sich, welche Arten von Aufmerksamkeit darin gedeihen und welche verkümmern – eine Frage der geistigen Ökologie also.

Diese Frage bezieht er dann direkt auf die Schule und macht folgende Beobachtungen:

  1. »Aufmerksamkeitsschwund«:
    Heute muss die Lehrperson von den Schülerinnen und Schüler Aufmerksamkeit bekommen, nicht mehr umgekehrt.
  2. »Enkulturation über digitale Medien«:
    Eine »stilistische Aufmerksamkeit« gewinnt an Bedeutung auf Kosten einer »substanziellen Aufmerksamkeit«: Medieninhalte werden nicht ihres Inhaltes wegen, sondern ihrer medialen und stilistischen Eigenheiten wegen konsumiert. Wichtig wird das Demonstrieren von Medienkompetenz als soziale Leistung – man gehört dazu; vertieftes Nachdenken und Konzentration geraten schon fast in Verruf.
  3. »ADHS als Normalzustand«:
    Konzentrationsfähigkeit werde schon bald als Krankheit betrachtet, während die neue Form der Aufmerksamkeit durch Multitasking und Multimedialität geprägt sei.
  4. »Ausbalancieren unserer Aufmerksamkeitsarten«:
    Das Fazit Käsers: Verschiedene Formen von Aufmerksamkeit müssen sich abwechseln und sich ausbalancieren.

Kaeser schlägt abschließend einen Selbsttest vor:

Man setze sich irgendwohin – möglichst an einen reizarmen, belanglosen, von Hektik freien Ort – und schenke der Umgebung während einer Viertelstunde seine volle Aufmerksamkeit: dem Boden der Dusche, einer eingefallenen Gartenmauer oder – für schon Fortgeschrittene – dem Bildschirm des ausgeschalteten Computers. Halte ich diesen Offline-Modus aus? Wer das kann, lernt, dass wahre Aufmerksamkeit damit zu tun hat, Leere und Langeweile ertragen zu können – und Warten. Warten lässt einen in einer Gegenwart ankommen, aus der man sich nicht herausschnattern kann: bei sich selber. Wahre Aufmerksamkeit ist – ernst genommen – eine Extremerfahrung. Sie kann uns – in einem zweiten Schritt – lehren, dass die Offline-Existenz gerade durch die Online-Existenz an neuer Bedeutung gewinnt.

Damit schließt Kaeser an eine Diskussion über die Frage an, ob die ständige Beschäftigung, die soziale Netzwerke ermöglichen und erfordern, positiv oder negativ zu bewerten sei – und an die Bewertung des Verhältnisses offline-online, wo die naive Sichtweise, dass das richtige Leben sich nur offline Abspiele, längst durch differenzierte Betrachtungsweisen abgelöst worden ist.

Kaeser Argumentation ist in diesem Sinne auch nicht undifferenziert, durch den Bezug auf den Code »gesund/krank« wird es aber schwierig, eine Entwicklung zu sehen: Mediale und gesellschaftliche Entwicklungen müssen zunächst beschrieben werden, bevor es darum gehen kann, sie zu bewerten. In diesem Sinne ist der Rede von »Aufmerksamkeitsarten« sehr zu begrüßen, die normative Frage, welche Formen denn nun als Krankheit gelten werden oder sollen, könnte dabei ausgeklammert werden.

Social Media und das jugendliche Gehirn

Der große amerikanische Autor David Foster Wallace sprach 2005 zu den Absolventinnen und Absolventen des Kenyon Colleges. Er sagte unter anderem (Video gibts hier, Übersetzung im unteren Teil):

It is extremely difficult to stay alert and attentive, instead of getting hypnotized by the constant monologue inside your own head (may be happening right now). Twenty years after my own graduation, I have come gradually to understand that the liberal arts cliché about teaching you how to think is actually shorthand for a much deeper, more serious idea: learning how to think really means learning how to exercise some control over how and what you think. It means being conscious and aware enough to choose what you pay attention to and to choose how you construct meaning from experience. Because if you cannot exercise this kind of choice in adult life, you will be totally hosed. Think of the old cliché about “the mind being an excellent servant but a terrible master.”
[Übersetzung phw: ] Es ist enorm schwierig, wach und aufmerksam zu bleiben, während in unserem Kopf ein ständiger Monolog uns zu hypnotisieren versucht (wie das jetzt vielleicht gerade passiert). Zwanzig Jahre nach meinem eigenen Abschluss habe ich langsam verstanden, dass das Klischee der Geisteswissenschaft, dass sie vermitteln, wie man denkt, für eine viel größere und ernsthaftere Vorstellung steht: Zu lernen, wie man denkt, bedeutet eigentlich zu lernen, wie man kontrollieren kann, wie und was man denkt. Es bedeutet, bewusst und aufmerksam genug zu sein, um wählen zu können, worauf man sich konzentrieren will und wie man aus Erfahrungen bedeutsame Erkenntnisse gewinnt. Wer als Erwachsener eine solche Wahl nicht treffen kann, wird völlig im Regen stehen. Man denke an das alte Klischee, dass der Geist ein ausgezeichneter Sklave, aber ein schlechter Herr sei.

Wallace führt weiter aus, dass sich Selbstmörder nicht selten in den Kopf schössen, wohl um das Denken auszuschalten – was er selbst später auch getan hat.

Hier soll es aber nicht um Wallace gehen, sondern um die Frage, wie man sich heute konzentrieren kann. In unseren Köpfen ist ständig mehr, als wir verarbeiten können. Eine naheliegende These ist es, dass die schnelle, mehrschichtige Kommunikationskultur der Social Media die Gefahr, abgelenkt zu sein, verstärken.

Diese These soll anhand einer Infographik zunächst vorgestellt und dann geprüft werden. Die Infographik stammt von AssistedLivingToday, sie trägt den reisserischen Titel »Social Media is Ruining our Minds«. Ich kommentiere im Folgenden Auszüge daraus:


(1) Schlechteres Konzentrationsvermögen

Die Grafik behauptet, man habe sich vor 10 Jahren 12 Minuten auf etwas konzentrieren können, heute noch 5 Sekunden. Diese Behauptung ist zunächst einmal falsch, die Quelle der Grafik, ein Zeitungsartikel, spricht von einer Reduktion von 12 Minuten auf 5 Minuten, nicht Sekunden.

Tatsächlich zeigt eine Umfrage des PewResearchCenters (pdf, Feburar 2012), dass führende Experten und Analysten davon ausgehen, dass die Aufmerksamkeitsspanne sinken wird und es für Menschen schwierig wird, komplexe Probleme mit dauerhafter Konzentration zu bearbeiten. Zudem ist offensichtlich, dass die Ablenkungen durch Social Media für soziale Zusammenleben eine Herausforderung darstellen (vgl. diesen Kommentar aus Forbes). Gleichzeitig sind gewisse Konzentrationsleistungen auch nicht mehr nötig, weil Computer als Hilfsmittel viele Aufgaben für uns erledigen (z.B. das Addieren von langen Zahlenreihen, Rechtschreibprüfung, das Auswendiglernen von langen Listen etc.)


(2) Verändert sich das Hirn? 

Der nächste Teil der Grafik scheint zu zeigen, dass sich unser Hirn negativ verändert. Das ist eine Aussage, die vor allem in England von Susan Greenfield regelmässig wiederholt wird (z.B. hier im Guardian). Die Baronin ist zwar Neurowissenschaftlerin, kann ihre Behauptungen aber nicht wissenschaftlich belegen.

Die Aussage, dass der Umgang mit Technologie einen Einfluss auf die Entwicklung unsere Hirns hat, ist sicherlich nicht falsch – muss aber genauer und seriöser untersucht werden. Heute kann man dazu kaum genaue Aussagen machen. Martin Robbins schreibt im Guardian etwas bösartig:

In short – as far as I can understand it – Greenfield’s hypothesis is that an unquantified level of exposure to an unspecified subset of modern technologies may be affecting an indeterminate number of people’s brains in an undefined way, with a number of results.
[Übersetzung phw:] Kurz gesagt: So weit ich es verstehe, behauptet Greenfield, dass eine unbestimmte Art von Umgang mit einem unbestimmten Teil moderner Technologie eine unbestimmte Anzahl menschlicher Hirne auf eine unbestimmte Art beeinflussen kann, so dass unbestimmte Effekte eintreten.


(3) Und die Hormone

Hierzu muss nicht viel gesagt werden: Dass Menschen Hormonlevel habe, die sich bei Aktivitäten (auch auf Social Media) verändern, ist selbstverständlich. Auf Twitter und auf FB finden stressige und soziale Interaktionen statt – unerwartet wäre, dass Menschen sich hormonell dadurch nicht beeinflussen lassen.

(4) Fazit

So verlockend sich die Grafik präsentiert, so manipulativ ist sie: Unser Hirn verändert sich vielleicht, wenn wir Social Media benutzen. Genaueres wissen wir darüber nicht – uns bleibt die Erkenntnis, dass wir einen bewussten Umgang mit Social Media wählen müssen und uns nicht treiben lassen dürfen. Aber das wussten wir wohl schon.