Die Facebook-Nostalgie

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NZZ-Artikel vom 19. 3. 2014

Heute sind in Schweizer Tageszeitungen gleich drei Artikel zu Facebook-Gruppen erschienen (FB-Link), die Erinnerungen von Menschen an den Ort, an dem sie aufgewachsen sind, sammeln und zugänglich machen. »Du bisch vo X, wenn…« ist der Titel der Gruppen, in denen Menschen ihren nostalgische Gefühlen an ihre Heimat nachgehen.

Für den NZZ-Artikel würde ich von Andreas Jahn befragt. Meine Einschätzung war etwas differenzierter, als das im Text nun zum Audruck kommt – daher möchte ich hier etwas genauer formulieren, wie ich das Phänomen einschätze.

Social Media schaffen eine neue Nachbarschaft. Wir definieren uns weniger darüber, mit wem wir zusammenleben: Die Mehrfamilienhäuser in der Agglomeration zeichnen sich durch eine fast maximale Anonymität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner aus, für die es zudem kaum eine Rolle spielt, ob sie in Zürich oder in einer von 30 Agglomerationsgemeinden leben, von denen aus Zürich in 20 Minuten erreichbar ist. Vielmehr verbinden sich Menschen im 21. Jahrhundert nach ihren Interessen und Vorlieben. Sie turnen nicht polysportiv im konfessionell festgelegten und lokal verankerten Turnverein, sondern betreiben Pilates, Unihockey oder klettern in einer Halle und an geeigneten Felsen. Ihre Mobilität hat sich erhöht. Ein Faktor sind dabei neue Kommunikationsmittel, die es uns erlauben, uns mit den Menschen zu vernetzen, die zu unserer Lebensgestaltung passen.

Das führt zu Freiheiten, aber auch zu einer massiven Unsicherheit und Verunsicherung. Es entsteht ein dialektisches Verhältnis: Die Möglichkeiten des Webs werfen uns zurück auf die Bedingungen unserer Herkunft, die eben strikt festgelegt waren. Wo wir aufgewachsen sind, was wir erlebt haben war nicht gewählt und erforderte keine Entscheidung – und hat uns gerade deswegen so geprägt.

Dafür stehen diese Facebook-Gruppen. Darüber hinaus ermöglichen sie, einen ganz bestimmten Kontext festzulegen. Die Gruppen sind offen, und doch muss niemand befürchten, dass sich dort Menschen aufhalten, die mit dem zur Diskussion stehenden Ort nichts zu tun haben. Das Thema schließt Nicht-Betroffene automatisch aus und da die Aufmerksamkeitsökonomie fast gänzlich außer Kraft gesetzt ist, weil der Themenbezug so stark ist, liegt niemandem daran, sich in diesen Gruppen stark zu profilieren. So sind die Gruppen eine Reaktion auf das von Kathrin Passig beschriebene Problem der Konsensillusion: Auf Facebook sprechen wir gleichzeitig zu unseren Freundinnen, unsere Familie, unserem Arbeitsumfeld und zu ehemaligen Klassenkameraden. Wir zeigen jeweils eine Seite unseres Profils, die aber für alle sichtbar ist. So lernen wir andere Menschen oft von einer anderen Seite kennen, die uns stark befremden kann. Wir bemerken, dass unsere Mitmenschen unsere Haltungen weniger oft teilen, als wir das üblicherweise denken. Die Vermischung der Kontexte führt zu Enttäuschungen. Die hier zur Diskussion stehenden Gruppen stellen den Kontext wieder her: Wer sich nicht durch eine teilweise übereinstimmende Biografie auszeichnet, kann nicht mitreden und ist nicht präsent.

Nachtrag: Auf Facebook kategorisiert Nanina Egli die Posts in den Gruppen sehr schön:

Grob lassen, sich die Beiträge nämlich m. E. in vier Kategorien teilen: 
(a) Erinnerungen an Personen, Ort oder Ereignisse, die spezifisch an einen Ort geknüpft sind (etwa an Stadtorginale, regionale Feste, spezifische Ereignisse (Stadtbrand) oder Gebäude und Plätze) 
(b) Erinnerungen an Generationenerfahrungen (wie »Du bist von Urkleindorf, wenn Du früher in der Epa Schalplatten gehört hast«)
(c) Erinnerungen an Kleingruppenerlebnisse (»Du bist von Urkleindorf, wenn Du 1976 auch in den Kindergarten bei Frau Hüslimeier gegangen bist.»)
(d) Verhalten in der Jetztzeit, die anhaltenden Patriotismus signalisieren (»Du bist von Urkleindorf, wenn Du noch heute beim Hören des Urkleindöflerurmarsches nasse Augen bekommst.»)
Sinnvoll sind für mich nur die Einträge der Kategorie (a), diese sind aber ein schlechter Marker, dass man tatsächlich vor Ort lebte, was in den Kommentaren sanktioniert wird: »jeder der mal in Urkleindorf war, kennt unseren Urkleindorferurbrunnen – das heisst doch nicht, dass Du von hier kommst!« so dass (in den vier fünf Gruppen, die ich anschaute), sehr rasch Kategorie (b), (c) und (d) überwiegen – lustigerweise werden die Orts-Gruppen aber damit völlig austauschbar.

Aus Baden bin ich halb. Eines meiner ersten Wörter, die ich lesen konnte, war nicht Manor, sondern Vilan.
Aus Baden bin ich halb. Eines meiner ersten Wörter, die ich lesen konnte, war nicht Manor, sondern Vilan.