Anstand und Social Media

Gestern habe ich mir die erste Folge der neuen ABC-Serie »Selfie« angesehen. Die Ausgangslage: Eine junge Frau ist ein »Instastar«, also ein Star auf Instagram. Sie nutzt Social Media um soziales Kapital zu generieren – in ihrer Firma genießt sie gewisse Privilegien. Nur merkt sie selbst nicht, dass sie die Likes und Online-Kontakte nicht in wirklich bedeutungsvolle Interaktionen umwandeln kann: Zu Beginn der Folge wird sie krank und findet niemanden, der oder die ihr ein Ginger Ale an die Badewanne bringen würde. Schnell wird klar, warum: Die junge Frau ist nämlich äußerst unfreundlich zu ihren Mitmenschen. Sie kennt keine Manieren, weil sie ständig mit sich und ihrem Smartphone beschäftigt ist.

Danach entwickelt sich eine Pygmalion-Geschichte: Ein erfolgreicher asienstämmiger Mitarbeiter nimmt sich der jungen Frau an. Er unterrichtet sie trotz Widerständen darin, sich sozial angemessen zu verhalten. Er macht sie zu seinem Geschöpf, an dem er durchaus auch erotisches Interesse hat, wenn es später seinen Vorstellungen entspricht. Ob die Geschichte wie die von Shaw hin zur Unabhängigkeit der Frau kippt, lässt sich in der Pilotfolge noch nicht abschätzen.

Das Bild der Social-Media-Nutzung, wie es in der Serie gezeichnet wird, ist breiter verbreitet, als es das überzeichnete Format erahnen lassen könnte:

  1. Social Media machen oberflächlich.
  2. Social Media führen zu einer ausschließlichen Beschäftigung mit sich selbst.
  3. Social Media führen zu einem Niedergang von Sitten und Anstand.
  4. Social Media machen unglücklich und einsam.
  5. Social Media sind hauptsächlich ein Problem von jungen Frauen.
  6. Wer Social Media intensiv nutzt, müsste einen Kurs besuchen, um von wirklich erfolgreichen Menschen (Männern) zu lernen, wie man das Leben meistert.

Hier soll es nicht darum gehen, diese sechs Aussagen zu prüfen. Einige davon scheinen sich erhärten zu lassen (hier z.B. eine neue Studie zu 4.), andere entstehen durch Vorurteile. Eingehen möchte ich nur auf die Frage des Anstands.

Zu einem NZZ-Beitrag war gestern folgender Lead zu lesen:

Noch nie waren schriftliche Umgangsformen so undefiniert wie heute. Höflichkeiten verschwinden, Sender und Adressat sparen Zeit – und haben doch immer weniger davon.

Im Artikel hält der Kommunikationswissenschaftler Joachim Höflich fest, »Forschheiten« würden zunehmen, weil sie »herkömmliche Muster« aufgelöst haben. Er erwähnt ein klassisches Beispiel: Die Anrede bei E-Mails. Sie sei salopp geworden (»Hallo, Herr Höflich«) oder fehle ganz. Im Text steht auch die schweizerische Angewohnheit, eine E-Mail mit »Grüezi Herr Höflich« zu beginnen. Sie wirke wie andere in diesem »Pluralismus« von Umgangsformen »unbeholfen«.

Dazu sind zwei Punkte anzumerken:

  • Die Wertung (»Forschheit«, »unbeholfen«) geht aus von Personen, die mit den »herkömmlichen Mustern« vertraut sind und sich darauf stützen, wenn sie neue Interaktionsformen beurteilen.
  • Wie Ilana Gershon in ihrem Buch »The Breakup 2.0« nachweist, suchen junge Menschen im Umgang mit E-Mail nach der richtigen Mischung zwischen Nähe und Distanz. Einen Professor mit »Sehr geehrter Herr Höflich« anzusprechen, wirkt zu distanziert und unpersönlich – man kennt sich ja und ist sich nicht fremd. »Lieber Herr Höflich« geht nicht, weil das eine zu große Nähe signalisieren würde. Bleibt ein Mittelweg – »hallo« eben, oder »grüezi«.

Gershon hält fest, dass neue Mittel, Beziehungsarbeit zu medialisieren, zu neuen »Idioms of Practice« führen, also zu neuen Gebrauchsdialekten. Diese Metapher besagt, dass es regional und sozial unterschiedliche Ausprägungen von Gebrauchsnormen geben wird, weil Menschen unterschiedliche Erwartungen haben.

Eine Reflexion der Smartphone-Kultur tut somit not. «Schulen und Medien sollten sie vermehrt bewusstmachen. Denn wir brauchen anerkannte Regeln, damit die Kommunikation weitergeht».

Diese Forderung von Höflich zielt in die völlig falsche Richtung: Die Regeln entstehen, weil Kommunikation weitergeht. Normen sind nötig, damit Kommunikationsschritte aneinander anschließbar werden. Normen entfallen, wenn ihr Sinn nicht vermittelt werden kann und sie Kommunikation behindern. Zu meinen, Schulen und Medien müssten Kindern und Jugendlichen klar machen, wie eine E-Mail-Anrede lauten soll, ist kurzsichtig: Das lernen alle Menschen dann, wenn sie gerne hätten, dass ihre Mails beantwortet werden. Genau so lernen wir schließlich auch, wen wir duzen und wen siezen sollen, wann wir unsere Schuhe ausziehen und wenn jemanden beim Sprechen unterbrechen dürfen.

Smartphones sind dann ein Problem, wenn sie verhindern, dass Menschen ihre Erwartungen äußern können. Wenn Mitmenschen den Blickkontakt oder das offene Gespräch verweigern – wie das die »Selfie«-Protagonistin tut -, dann muss man artikulieren können, dass einen das stört. Ihre Erwartungen in Bezug auf Anstand und soziale Gepflogenheiten können Menschen aber heute – wie früher auch – selbst austauschen. Dazu brauchen sie keine Anleitungen.

owl-eyes

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