Die Facebook-Nostalgie

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NZZ-Artikel vom 19. 3. 2014

Heute sind in Schweizer Tageszeitungen gleich drei Artikel zu Facebook-Gruppen erschienen (FB-Link), die Erinnerungen von Menschen an den Ort, an dem sie aufgewachsen sind, sammeln und zugänglich machen. »Du bisch vo X, wenn…« ist der Titel der Gruppen, in denen Menschen ihren nostalgische Gefühlen an ihre Heimat nachgehen.

Für den NZZ-Artikel würde ich von Andreas Jahn befragt. Meine Einschätzung war etwas differenzierter, als das im Text nun zum Audruck kommt – daher möchte ich hier etwas genauer formulieren, wie ich das Phänomen einschätze.

Social Media schaffen eine neue Nachbarschaft. Wir definieren uns weniger darüber, mit wem wir zusammenleben: Die Mehrfamilienhäuser in der Agglomeration zeichnen sich durch eine fast maximale Anonymität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner aus, für die es zudem kaum eine Rolle spielt, ob sie in Zürich oder in einer von 30 Agglomerationsgemeinden leben, von denen aus Zürich in 20 Minuten erreichbar ist. Vielmehr verbinden sich Menschen im 21. Jahrhundert nach ihren Interessen und Vorlieben. Sie turnen nicht polysportiv im konfessionell festgelegten und lokal verankerten Turnverein, sondern betreiben Pilates, Unihockey oder klettern in einer Halle und an geeigneten Felsen. Ihre Mobilität hat sich erhöht. Ein Faktor sind dabei neue Kommunikationsmittel, die es uns erlauben, uns mit den Menschen zu vernetzen, die zu unserer Lebensgestaltung passen.

Das führt zu Freiheiten, aber auch zu einer massiven Unsicherheit und Verunsicherung. Es entsteht ein dialektisches Verhältnis: Die Möglichkeiten des Webs werfen uns zurück auf die Bedingungen unserer Herkunft, die eben strikt festgelegt waren. Wo wir aufgewachsen sind, was wir erlebt haben war nicht gewählt und erforderte keine Entscheidung – und hat uns gerade deswegen so geprägt.

Dafür stehen diese Facebook-Gruppen. Darüber hinaus ermöglichen sie, einen ganz bestimmten Kontext festzulegen. Die Gruppen sind offen, und doch muss niemand befürchten, dass sich dort Menschen aufhalten, die mit dem zur Diskussion stehenden Ort nichts zu tun haben. Das Thema schließt Nicht-Betroffene automatisch aus und da die Aufmerksamkeitsökonomie fast gänzlich außer Kraft gesetzt ist, weil der Themenbezug so stark ist, liegt niemandem daran, sich in diesen Gruppen stark zu profilieren. So sind die Gruppen eine Reaktion auf das von Kathrin Passig beschriebene Problem der Konsensillusion: Auf Facebook sprechen wir gleichzeitig zu unseren Freundinnen, unsere Familie, unserem Arbeitsumfeld und zu ehemaligen Klassenkameraden. Wir zeigen jeweils eine Seite unseres Profils, die aber für alle sichtbar ist. So lernen wir andere Menschen oft von einer anderen Seite kennen, die uns stark befremden kann. Wir bemerken, dass unsere Mitmenschen unsere Haltungen weniger oft teilen, als wir das üblicherweise denken. Die Vermischung der Kontexte führt zu Enttäuschungen. Die hier zur Diskussion stehenden Gruppen stellen den Kontext wieder her: Wer sich nicht durch eine teilweise übereinstimmende Biografie auszeichnet, kann nicht mitreden und ist nicht präsent.

Nachtrag: Auf Facebook kategorisiert Nanina Egli die Posts in den Gruppen sehr schön:

Grob lassen, sich die Beiträge nämlich m. E. in vier Kategorien teilen: 
(a) Erinnerungen an Personen, Ort oder Ereignisse, die spezifisch an einen Ort geknüpft sind (etwa an Stadtorginale, regionale Feste, spezifische Ereignisse (Stadtbrand) oder Gebäude und Plätze) 
(b) Erinnerungen an Generationenerfahrungen (wie »Du bist von Urkleindorf, wenn Du früher in der Epa Schalplatten gehört hast«)
(c) Erinnerungen an Kleingruppenerlebnisse (»Du bist von Urkleindorf, wenn Du 1976 auch in den Kindergarten bei Frau Hüslimeier gegangen bist.»)
(d) Verhalten in der Jetztzeit, die anhaltenden Patriotismus signalisieren (»Du bist von Urkleindorf, wenn Du noch heute beim Hören des Urkleindöflerurmarsches nasse Augen bekommst.»)
Sinnvoll sind für mich nur die Einträge der Kategorie (a), diese sind aber ein schlechter Marker, dass man tatsächlich vor Ort lebte, was in den Kommentaren sanktioniert wird: »jeder der mal in Urkleindorf war, kennt unseren Urkleindorferurbrunnen – das heisst doch nicht, dass Du von hier kommst!« so dass (in den vier fünf Gruppen, die ich anschaute), sehr rasch Kategorie (b), (c) und (d) überwiegen – lustigerweise werden die Orts-Gruppen aber damit völlig austauschbar.

Aus Baden bin ich halb. Eines meiner ersten Wörter, die ich lesen konnte, war nicht Manor, sondern Vilan.
Aus Baden bin ich halb. Eines meiner ersten Wörter, die ich lesen konnte, war nicht Manor, sondern Vilan.

Die Konsensillusion

Soziale Netzwerke haben einen starken Einfluss auf die digitale Kommunikation gehabt. Diese Einsicht wird häufig – auch in diesem Buch ausgeblendet -, wenn davon ausgegangen wird, digitale Kommunikation sei automatisch Kommunikation in sozialen Netzwerken. »Lange Zeit war es der Normalzustand, dass man sich im Netz mit Fremden unterhielt«, hält Kathrin Passig am Anfang einer Untersuchung zum Wir-Gefühl in Social Media fest. Wenn also Gemeinschaften im digitalen Kontext entstanden, orientierten sie sich an gemeinsamen Interessen, die dazu führten, dass Kommunikation überhaupt entstehen konnte.

Diese Entwicklung ist für Jugendliche von entscheidender Bedeutung. Gerade solche mit Nischeninteressen, seien es spezielle Hobbies, Fertigkeiten oder Krankheiten, finden Anschluss an Netzgemeinschaften. Das gilt sogar für Hikikomori, also meist japanische, männliche Jugendliche, die sich sozial so stark isoliert haben, dass sie ihr eigenes Zimmer nicht mehr verlassen (vgl. z.B. Yong. S. 11ff.). Die Möglichkeiten zur Bildung von Gemeinschaften, so kann recht klar bilanziert werden, haben sich durch die Möglichkeiten der Web-Kommunikation erweitert und verfeinert.

Die Eigenschaft von sozialen Netzwerken, soziale Beziehungsstrukturen digital abbilden zu können, führt aber zu Schwierigkeiten, die aus der »Kombination aus Zusammenlegung der sozialen Kreise, kollaborativer Selbstdarstellung und wachsender Normalität der aktiven Internetnutzung« resultieren. Die Beispiele sind bekannt: Während wir im sozialen Austausch gewisse Themen aktiviert und andere zurückgestellt oder tabuisiert werden – die Kinder, die beim Nachtessen präsent sind, werden als Thema aktiviert, politische oder religiöse Fragen allenfalls ignoriert –, sind diese Themen alle nebeneinander in den Netzwerken präsent: »Die Flüsse vieler unterschiedlicher Lebenskontexte münden ins große Facebook-Meer«, schreibt Passig.

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Den Effekt dieses Phänomens kann man Konsensillusion nennen: Menschen denken generell, dass viele andere ihre Meinungen teilen, sie überschätzen den Anteil der Menschen, der so denkt, wie sie selber. Dieser Effekt tritt selbst dann ein, wenn Menschen ihn kennen, er ist innerhalb einer bestimmten Gruppe ausgeprägter als zwischen Mitgliedern der Gruppe und der Außenwelt.

Welche Auswirkungen hat das?

  1. Es besteht die Gefahr, Mitmenschen unsympathisch zu finden, weil man ihre Meinungen auf Facebook oder Twitter nachlesen kann. Die Struktur des Web 2.0 ermöglicht oder erzwingt einen Austausch über Themen, der in sozialen Situationen sonst vermieden werden könnte.
  2. Schnell entsteht der Eindruck, das Medium sei für das Problem verantwortlich und zieht sich daraus zurück. Damit ist ein Trugschluss verbunden, wie Passig meint: »Allerdings fußt die Vorstellung von der Authentizität, Verlässlichkeit und Harmonie der Offlinebeziehungen nicht unbedingt auf harten Fakten.«
  3. Menschen kommunizieren als Resultat der Konsensillusion oft auch eingeschränkt: Sie fokussieren auf positive und private Themen. Kaum jemand findet sich in einem angeregten Online-Streit, weil er oder sie Fotos vom Strandurlaub reinstellt, niemand wirkt wegen eines lustigen Musikvideos und einer schlauen Zitats unsympathisch.
  4. Soziale Netzwerke, die private Rede öffentlich oder halb-öffentlich machen, werden technologisch von anderen abgelöst, die das nicht mehr ermöglichen. Die Ablösung von Facebook, die bei urbanen Jugendlichen in Europa und in den USA bereits im vollen Gang ist, führt hin zu persönlichen Tools wie WhatsApp oder Snapchat – oder zu solchen, die nur bestimmte Inhalte zulassen, namentlich Instagram (Bilder) oder Vine (Videos). So kann entweder das Publikum klar definiert werden oder der Austausch von Inhalten verhindern, dass es zu Konsens kommen muss.

Wenn Social Media selbstverständlich werden

In loser Folge möchte ich als Vorbereitung auf einen Input am Weiterbildungszentrum der Fachhochschule St. Gallen über die Zukunft von Social Media nachdenken. Ein Inhaltsverzeichnis gibts hier

* * *

Unsere Eltern und Großeltern verstehen viel von technologischem Wandel. Sie haben erlebt, wie Radioapparate mit Hörspielen ganze Familien unterhalten haben, nur um einige Jahre später von Fernsehern abgelöst zu werden, das man später auf Videokassetten aufnehmen konnte, dann auf DVDs und schließlich auf Geräte, die alles können, außer Pancakes backen. Sie haben auf teuren Geräten Schallplatten gehört, sie später auf Kassetten überspielt und dann alle Tonträger in Form von CDs noch einmal gekauft. Sie haben Telefonnummern und Zugverbindungen in dicken Büchern nachgeschlagen oder die Menschen gefragt, bei denen sie auch Fahrscheine gekauft haben, um später von Maschinen bedient zu werden, die sie seit kurzem in ihrer eigenen Tasche mit sich tragen. Sie haben lange auf Briefe gewartet, viele geschrieben. Teure und kurze Telefonate geführt, zuerst von den Apparaten der wohlhabenden Nachbarn aus, später auf eigenen, gemieteten, gekauften, kabellosen. Telegramme und Faxe auf der Post verschickt und empfangen. Fotos mit teuren Apparaten aufgenommen und lange auf die entwickelten Bilder gewartet, eigene Dunkelkammern aufgebaut, farbige Bilder gemacht und schließlich nur noch digitale, die auf Harddisks darauf warten, überhaupt einmal angesehen zu werden.

Wer 50 Jahre im 20. Jahrhundert gelebt hat, hat die Zukunft von technologischem Wandel erlebt und würde sie wie folgt beschreiben:

  1. Viel Neues wird selbstverständlich. 
  2. Tätigkeiten wandeln sich wenig.
  3. Wie die Tätigkeiten technisch durchgeführt werden, wandelt sich stark und ständig.
  4. Die sozialen Implikationen von Technologie werden überschätzt.
  5. Die durch Technologie beanspruchten Ressourcen (Zeit, Geld) werden unterschätzt.

Stellen wir uns vor, die Technologie wäre 1963 eingefroren worden, dann könnten wir immer noch Bilder machen und sie Freunden zeigen, wir könnten schriftlich und mündlich miteinander kommunizieren und Informationen wären z.B. in Bibliotheken problemlos verfügbar. Einiges wäre im Vergleich zu heute anstrengender und viel langsamer, aber dafür hätten wir vieles gar nie lernen müssen: Keine nächtelangen Optimierungsübungen des RAM-Speichers bei den ersten PCs, keine Datenverluste durch abgestürzte Harddisks, kein Import von Kontakten auf neue Handys, keine Installationen von WLAN, kein Brennen von CDs, überspielen von VHS-Kassetten etc.

In weiteren 50 Jahren – so meine Prognose – wird der Rückblick ähnlich aussehen: Menschen werden Tools, die heute neuartig und voller Potential erscheinen, mit leichter Nostalgie belächeln; aber mit neuen Werkzeugen immer noch schriftliche, mündliche und visuelle Botschaften verschicken. Social Media wird sein wie ein Telefon: Erwachsene werden sie nutzen, als hätte es nie etwas anderes gegeben, Pubertierende werden mit ihren Eltern über die richtige Nutzung streiten und an die Möglichkeit, abgehört zu werden, werden wir uns gewöhnen. (Beeindruckend schon der Rückblick auf das Jahr 2000, das lange eine unvorstellbare Zukunft symbolisierte.)

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Fernsehwerbung, USA 1960er-Jahre.

Das zeigt der Rückblick nämlich auch: Der Briefträger hat Postkarten schon immer gelesen, Telefonleitungen konnten schon immer abgehört werden, Briefe abgefangen und gelesen. Diese Möglichkeiten mögen über Social Media neue Dimensionen annehmen, aber die Gefahr wird wie die damit verbundenen Chancen ständig überschätzt, wie das Beispiel von David Bunnell zeigt:

Ob Google Brumm, ob Internet oder Facebook: Wie kein zweites Mal in der IT-Technologie war die Entstehung des Personal Computers mit der Hoffnung verknüpft, ein Gegenstück zu den totalitären Großcomputern der Konzerne sei gefunden. Er sollte die Menschheit befreien, Gleichheit für alle Rassen, Glaubensrichtungen, Minoritäten und Klassen bringen. Diese erhabenen Sätze schrieb David Bunnell in das Benutzerhandbuch eines der ersten PC, des Altairs der Firma MITS im Jahre 1974. Schon knapp zehn Jahre später zog Bunnell eine pessimistische Bilanz: „Anstelle die Standesunterschiede zu zerstören, hat der PC ein neues Kasten-System geschaffen, basierend auf dem privilegierten Datenzugriff. Er hat eine Art Berliner Mauer aus Drähten geschaffen, die die informationstechnisch Verarmten ausgrenzt.“

Menschen gewöhnen sich an Technologie und die Unsicherheiten, die sie mit sich bringt. Sie können vieles ausblenden. So werden sie – das meine Prognose – auch mit Algorithmen und Robotern leben können. Einige werden sie wie Mitmenschen behandeln und es letztlich nicht so relevant finden, ob sie im Krankenhaus von einem Menschen oder einem Roboter gepflegt werden, andere werden sie als störend empfinden und weitere einfach benutzen.

Die Zukunft wird auch zeigen, dass »Social Media« ein Euphemismus ist. Social bedeutet nicht, dass diese Medien auf die Gesellschaft und ihre Organisation bezogen sind, sondern einfach, dass Beziehungen messbar und verarbeitbar werden. Das gilt selbstverständlich auch für die negativen Seiten von Social Media, wie Passig und Lobo festhalten:

Wenn wir im negativsten Fall annehmen, dass gar nicht zu unterscheiden ist, ob im Netz echte Empathie wirkt oder nur aus narzisstischen Gründen vorgetäuschte Empathie: Das gilt außerhalb genauso. Wenn das Netz schlecht und unsozial sein soll, ist es die Welt auch.

Ein positives Leitbild für Netzpolitik – oder: Stadt- und Landleben

Das ist der fünfte Teil von Gedanken zu meinem geplanten Re:Publica-Workshop. (Er wurde leider nicht berücksichtigt.) 

In den letzten Beiträgen habe ich gezeigt, wie verzerrte Darstellungen der Chancen und Gefahren von Internetkommunikation Barrieren errichten, welche viele Menschen daran hindern, digitale Werkzeuge so zu nutzen, dass sie ihnen nützen. Diese Kritik soll ergänzt werden durch ein positives Programm. Das es – zumindest als Skizze – schon besteht, reicht es, an dieser Stelle darauf zu verweisen: In seinem »Code for Germany« legt Christoph Kappes ein Fundament zu einem Leitbild. Es zeichnet sich durch vier Eigenschaften aus, die mir wichtig scheinen (ich paraphrasiere Kappes):

  1. es befasst sich weniger mit dem Internet als mit dem, was Computer tun und wir mit Computern tun
  2. es richtete sich weniger auf rechtliche Fragen, sondern fragt, wie sich Wissen und Kultur durch den Einsatz von digitaler Hilfsmitteln ändern
  3. es hat mehr mit Software zu tun, »als dem prägenden Werkzeug unserer Zeit (das keineswegs nur kopiert, wie der Urheberrechtsstreit immer suggeriert, sondern das Information messbar, vergleichbar, ermittelbar und anderes steuerbar macht und dadurch Neues erzeugt, nämlich das Gegenteil von Kopie: Unterscheidbares)«
  4. es zeigt den Charakter der digitalen Wissensnutzung auf, die ein Gemeingut ist, das nicht übernutzt werden kann, weil Kopien die Nutzung nicht verändern oder verschlechtern.

Kappes‘ Fazit:

So gesehen sollte eigentlich im Zentrum von internet-veranlasster Politik nicht „das Netz“, sondern die Entwicklung von Wissen, Software und Kultur stehen, die von jedermann nutzbar sind:

  • von Schulbüchern und wissenschaftlichen Beiträgen für jedermann,
  • Software für Nachbarn, die untereinander Hilfe anbieten und tauschen möchten,
  • Komponenten für verteilte soziale Netzwerke und Standards für den Datenaustausch zwischen Diensten bis hin zu
  • neuen digital basierten Prozesses für Politik und Medien – wir müssen schnell Ordnung und Überblick in die Welt bringen, die täglich komplexer wird, und
  • kulturellen Techniken, die durch digitale Informationsverarbeitung verändert werden, namentlich neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit in losen Gruppen oder auch digitales Rechte-Handling einschließlich verständlicherer rechtlicher Regelungen für Commons.

Politik – so sollte man sich in Erinnerung rufen – bedeutet die Organisation des sozialen Miteinanders. Netzpolitik befasst sich damit, wie Menschen digitale Werkzeuge einsetzen. Was in der professionellen Politik beredet und beschlossen wird, beeinflusst das Leben vieler Menschen nicht. Ein netzpolitisches Programm könnte ganz einfach darin bestehen, Werkzeuge zu schaffen, die Menschen helfen, ihren Alltag zu bewältigen. »Ich stelle mir das Alter mit Internet viel schöner vor als ohne«, war kürzlich im Internet zu lesen. Gute Netzpolitik führt zu schönerem Leben, indem sie Menschen dabei hilft, tolle Dinge nicht nur im Internet, sondern auch außerhalb auf die Beine zu stellen.

An Kappes Forderung lässt sich das Fazit des ausgezeichneten Textes von Kathrin Passig anschließen, in dem sie überzeugend zeigt, dass die Linien der kritischen Diskussion über soziale Medien und das Internet denen der Diskussion über das Leben in der Stadt entsprechen: In Städten (=im Internet) leben geschwätzige Fremde miteinander und setzen sich unbeschreiblichen Gefahren aus, während auf dam Land (= im richtigen Leben) die echten Menschen wohnen: Bescheiden, wortkarg und beschützt von allen Übeln. Passig schließt mit folgenden Absätzen:

Natürlich ist die öffentliche Kommunikation mit Unbekannten im Netz nicht per se die bessere Lösung, so wenig wie das Stadtleben besser als das Landleben ist, insbesondere, seit man einige Annehmlichkeiten der Zivilisation überall erhalten kann: Filme in Originalversionen, homosexuelle Bürgermeister, manchmal sogar O2-Handyempfang. Auch wer ein Blog betreibt oder Twitter nutzt, sehnt sich manchmal nach Waldeinsamkeit, nach weniger widerspruchsfreudigen Gesprächspartnern oder gleich nach der Abschaffung aller Kommentarfunktionen. Dieses Hadern ist unumgänglich, auch in der Stadt ist die Koexistenz der verschiedenen Lebensweisen nicht einfach, und ihre Bewohner schwanken zwischen den Wünschen nach Abgrenzung und Integration.

Aber in der Stadtforschung gibt es seit über hundert Jahren eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Strukturen der Verständigung unter Fremden. Es wäre schön, wenn die Diskussion um die Kommunikation im Netz nicht noch einmal hundert Jahre bräuchte, um an diesem Punkt anzukommen.

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Was man von der Lesesucht-Debatte im 18. Jahrhundert lernen kann

Die Lesesucht ist ein thörigter, schädlicher Mißbrauch einer sonst guten Sache, ein wirklich großes Übel, das so ansteckend ist, wie das gelbe Fieber in Philadelphia; sie ist die Quelle des sittlichen Verderbens für Kinder und Kindes Kinder.
– Johann Gottfried Hoche, »Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht« (1794)

Im 18. Jahrhundert kritisierte eine Reihe von Intellektuellen, Experten, würde man wohl heute sagen, die grassierende Lesesucht. Wie der lesenswerte Beitrag von Klaus Wolschner deutlich macht, wurde während der zunehmenden Alphabetisierung die zunehmende Lektüre von Romanen ein einem Krankheitsdiskurs beobachtet – ein bekanntes Beispiel ist Karl Philipp Moritz‘ autobiographisch inspirierter Bildungsroman Anton Reiser:  »Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden, wie es den Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen.« (S. 174)

In seiner »Mediologie des 18. Jahrhunderts« mit dem Titel »Körperströme und Schriftverkehr« hat der Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke dieses Phänomen analysiert. Er spricht von einem »Überdruck der Imaginationen« (S. 403): Literatur hat Wünsche ausgelöst, die im beschränkten dörflichen Umfeld nicht zu befriedigen waren. Gleichzeitig hat sich die Möglichkeit ergeben, sich über die Schrift Netzwerke aufzubauen, die von der physischen Präsenz gelöst werden können. Dadurch wurden auch etablierte Mechanismen zur Verteilung von Macht und Wissen infrage gestellt. Koschorke zitiert einen zeitgenössischen Text von Karl Gottfried Bauer:

Wo der Mensch so wenig in sich, sondern stets außer sich zu existieren gewohnt ist, wo er so wenig durch sich selbst ist und alles durch andere, durch den Gebrauch äußerlicher Werkzeuge zu werden suchen muss, wo er folglich nur selten sich selbst genug sein kann, wo er einen großen Teil seiner moralischen, ja man kann dreist behaupten, auch seiner physischen Freiheit, Preis gibt und dennoch hinter seinem, oft ganz chimärischen Ziele, weit zurückbleibt.

Kinder lesen. Kupferstich von 1778. (Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung)
Kinder lesen. Kupferstich von 1778. (Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung)

Wenn man die Eigenschaften der Debatte über die Lesesucht zusammenfasst, dann sind folgende Aspekte relevant:

  1. Betroffen von der Kritik sind nicht-privilegierte Gruppen wie Frauen und Jugendliche; sie geht aus von Privilegierten. 
  2. Die dahinterstehende Ideologie ist der digitale Dualismus: Die (physische) Realität und die virtuelle Welt der Romane sind zu trennen. Die Interaktion der beiden Sphären wird als gefährlich bezeichnet.
  3. Der verwendete Suchtbegriff ist auch aufgrund von unpräzisen Vergleichen undifferenziert und tendenziös.

Diese Aspekte gelten auch für »Mediensucht«, wie sie heute mit Computerspielen (»World of Warcraft«) und Social Media in Verbindung gebracht wird. Es wäre also leicht, die Diskussion einfach zu verweigern, indem man darauf verweist, dass jeder mediale Wandel von ähnlichen Befürchtungen geprägt war: Sei es das Lesen, der Film oder eben Computerspiele – stets war die Rede von einer »gänzlichen Zerrüttung des Gehirns« oder »einem empfindlichen Nervensystem« (die Zitate stammen aus einem Traktat von Friedrich Burchard Beneken aus dem Jahr 1788). Gehirn und Nerven sind ein Universalargument, das Raum für viele Spekulationen bietet und immer wieder ignoriert, wie formbar und gewöhnungsfähig das menschliche Hirn ist.

Gleichwohl können problematische Auswirkungen von eine virtuellen Gefühls- und Handlungswelt nicht als gänzlich unberechtigt zurückgewiesen werden. Der Suchtexperte Bert te Wildt argumentiert präzise, wenn er festhält, Medienabhängigkeit sei besonders verheerend, weil sie hauptsächlich Heranwachsende betreffe. Sie verlagerten dabei ihre Beziehungen und ihre Beziehungsarbeit ins Mediale. Indem sie Profile und Avatare ihrer selbst erstellen, also mit Ersatz-Ichs den Cyberspace bevölkern, seien sie gezwungen, viel Zeit in den Aufbau dieser simulierten Personen zu investieren und daraus resultierende Beziehungen zu pflegen. Dabei erlebten sie zufällige Ausschüttungen von Belohnungsreizen, die gekoppelt mit entsprechenden Vorgängen im Hirn wie bei Glücksspielen zu Abhängigkeit führen können. Diese »virtuelle Dimension von Beziehungen« führe nach de Wildt dazu, dass »das empathische Moment leidet oder gar verkommen könnte«. Menschen verlieren das Mitgefühl, weil sie außerstande sind, handeln zu helfen: Sie können im Medialen nur zuschauen. Letztlich böten Medien die Möglichkeit der Realitätsflucht: Realität und Wirklichkeitsansprüche driften dabei auseinander. Kann die Realität die Ansprüche nicht befriedigen, würden sie ins Mediale externalisiert und zum Objekt gemacht.

Dieses Suchpotential der virtuellen Dimension, sei sie nun durch Bücher, Filme oder Games gegeben, hat aber auch ein revolutionäres Potential: Es befähigt, die Wirklichkeit zu verändern, Autoritäten zu hinterfragen, eigene Netzwerke in der virtuellen Dimension zu bilden, die Beschränkungen der Realität überwinden können. Als Beispiel kann hierfür Marina Weisbands Biografie angeführt werden, die als Migrantin in der Schule schlecht integriert war und ausgeschlossen wurde. Sie sagte dazu in einem Interview:

Mit 13 habe ich einen Internetanschluss bekommen, und dort habe ich Freunde gefunden. Da hatte ich dann meine virtuelle Clique. Sobald wir von der Schule heimkamen, haben wir uns alle in einem bestimmten Forum getroffen und uns hin und her geschrieben, bis wir eingeschlafen sind. Wir waren uns sehr nah. Ich habe auch meinen ersten Freund online kennengelernt.

Medienwandel ein ein sozial komplexes Phänomen. Er kann nicht bewältigt werden, indem jahrhundertealte Formeln wiederholt und in sozialen Abgrenzungs- und Ausgrenzungsbemühungen eingesetzt werden – aber auch nicht, indem er unkritisch gefeiert wird. In ihrem lesenswerten Essay »Standardsituationen der Technologiekritik« hat Kathrin Passig ein Muster diskutiert, das technische Neuerungen kulturhistorisch begleite. In der Welt fasst es Felix Müller wie folgt zusammen:

  1. Wofür soll das bitte gut sein?
  2. Das braucht doch kein Mensch.
  3. Die Einzigen, die das wollen, sind zweifelhafte oder privilegierte Minderheiten.
  4. Das ist ja nur eine Modeerscheinung.
  5. Die Innovation verändert überhaupt nichts.
  6. Die Neuerung ist zwar ganz gut, aber nicht gut genug.
  7. Sie stürzt schwache Charaktere ins Verderben.

Rezension: Passig/Lobo – Internet. Segen oder Fluch

Das Autorenteam Kathrin Passig und Sascha Lobo unternimmt mir ihrem neuesten Buch den Versuch, die Debatte ums Internet zu verflüssigen und in konstruktive Bahnen zu lenken.

Der dringend notwendige Diskurs um das Internet, seine Bedeutung für unser Leben und seine Folgen ist ritualisiert und erstarrt. (7)

Passig und Lobo. Flickr: simsullen. CC NC-BY-NC 2.0

Es handle sich um einen »dauerhafteren, komplexeren Konflikt, mit dem wir einen Umgang finden müssen« (9). Das tun sie, indem sie die »zentralen Eckpunkte« der Debatte – das kleine Wortspiel stammt aus diesem Vortrag von Sascha Lobo – humorvoll aufrollen, zeigen, welche Argumente sich erschöpft haben und die Diskussion nicht vorwärtsbringen und was eigentlich – das das unterliegende Hauptthema des Buches – denn wirklich spezifisch mit dem Internet zusammenhängt und was allgemeine Probleme der Menschheit, ihres Umganges mit Technologie und mit Informationen sind:

Die Digitalisierung färbt die Welt nicht schwarz-weiß, nur weil sie mit Nullen und Einsen zu tun hat, ebenso wenig wie Geigen den Konzertsaal in einen Schafstall verwandeln, nur weil sie mit Darmsaiten bespannt sind. Technik beantwortet die einfachen Fragen […] Alle wirklich interessanten Probleme existieren nach der Erfindung neuer Techniken ungerührt weiter. Was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, dass alle angeblich durch Technik in die Welt kommenden Probleme entweder vorher schon existiert haben oder einfach nicht sehr interessant sind. (298)

Wie in einem Auszug auf SPON nachzulesen ist, zeichnen Passig und Lobo die Argumente der »Internetoptimisten« und der »Internetskeptiker« nach. Damit gelingt ihnen der »Versuch[] der Vermittlung« (14) zwischen den beiden Positionen ausgezeichnet, obwohl sie nicht verbergen, dass sie die digitale Welt mögen.

Das Buch richtet sich an ein breites Publikum: Internetaffine Menschen finden darin unterhaltsame Vergleiche, Gedankenexperimente und Zusammenfassungen wichtiger Inputs und Debatten, die nicht alle bekannt sind. Aber Internetaffinität ist keine Voraussetzung, es wird erklärt, wie digitale Phänomene zu verstehen sind – und zwar so, dass sich niemand langweilt. (Wenn man den beiden Schreibenden einen Vorwurf machen könnte, dann den, dass sie ihre erste Regel im Umgang mit Metaphern, man solle sie »sparsam und risikobewusst«(48) einsetzen, offenbar beim Schreiben des Buches nicht beachtet haben.)

Ich möchte im Folgenden ein Kapitel genauer zusammenfassen – das über den sozialen Aspekt von Social Media: »Entfremdung und Nähe« (220 – 240). Es wird strukturiert durch »Frontverläufe« (222):

  • Vereinsamung und Gesellschaftsbildung.
    Fazit: »Es gibt Onlinesozialkontakte, wenn man es so empfindet.« (227)
  • Narzissmus und Empathie.
    Fazit: »[…] wenn wir im negativsten Fall annehmen, dass gar nicht zu unterscheiden ist, ob im Netz echte Empathie wirkt oder nur aus narzisstischen Gründen vorgetäuschte Empathie: Das gilt außerhalb genauso. Wenn das Netz schlecht und unsozial sein soll, ist es die Welt auch.« (232)
  • Oberflächlichkeit und Unterflächlichkeit: »Der Programmierspruch: ‚It’s not a bug, it’s a feature‘ kann eben auch für die Oberflächlichkeit gelten. [Es könnte sein, (phw)] dass schwache Verbindungen entgegen der allgemeinen Auffassung geradezu unersetzlich für den sozialen Austausch sind.« (236f.)

Es ist ein geeignetes Kapitel, um festzustellen, wie Passig und Lobo argumentieren: Sie vermeiden Komplexität nicht und sie scheuen sich auch nicht, Fragen zu stellen, Lücken offen zu lassen. Gleichzeitig sind sie äußerst belesen und bringen ihre Sachkenntnis ohne Affekt ein: Sie beschreiben beispielsweise, wie Profile auf Facebook Arbeitspsychologen zu präziseren Einschätzungen von BewerberInnen befähigen als standardisierte Eignungstests.

Wenn aber ein simples, gar nicht darauf zugeschnittenes Facebook-Profil mehr über die berufliche Eignung einer Person sagt als seit vierzig Jahren von Fachleuten für diesen Zweck entwickelte Tests – dann heißt das auch, dass soziale Netzwerke eine ungeahnte Tiefe bergen. (235)

Vergleiche bringen den Leser dazu, sich Fragen zu stellen, deren Antworten er schon zu kennen gemeint hat: So beginnt das Kapitel mit der Aufforderung, sich eine Welt vorzustellen, in der zuerst das soziale Computerspiel und dann das Buch erfunden worden wäre. Wie würden Eltern und ErzieherInnen reagieren, wenn Kinder plötzlich Bücher läsen? (220) Oder: Wurden die ersten Menschen, die sich Kleider angezogen haben, auch als Selbstdarsteller beschimpft? (230)

Fazit: Wer nicht in einer argumentativen Schlaufe in Bezug auf das Internet stecken bleiben will, sondern gewillt ist, sich neu zu orientieren, Argumente zu prüfen, sich anregen zu lassen, der oder die kann im Moment kein bessere, aktuelleres und lustigeres Buch lesen als das von Passig und Lobo. Auf dem »Beipackzettel« von Sascha Lobo kann man auch nachlesen, wann man das Buch lesen soll:

  • […]
  • man technische und gesellschaftliche Hintergründe erfahren möchte zu den meistdiskutierten Netzthemen
  • man wissen will, wo welche Argumente vermieden werden sollten und warum
  • man ernüchtert werden möchte, weil hinter manchen Bereichen der Debatte schlicht unauflösbare Gegensätze stehen (Spoiler: zum Glück nicht hinter allen)
  • man manchmal nachts unter der Bettdecke heimlich daran zweifelt, ob man wirklich überall immer richtig liegt
  • man andere Positionen und ihre Geschichte verstehen möchte
  • kurz: wenn man Teil der Lösung sein möchte und nicht Teil des Problems.