Gibt Pro Juventute Gesprächsprotokolle an den Blick weiter?

 

***Update, 15. März 2014: Ich habe diesen Beitrag nach eine Reihe von Rückmeldungen von Laurent Sedano, einem Mitarbeiter von Pro Juventute, überarbeitet.***Bildschirmfoto 2014-03-14 um 09.06.24

Ich habe die Sexting-Kampagne von Pro Juventute schon mehrfach kommentiert, z.B. hier. Heute sind im Blick Auszüge aus Beratungsgesprächen erschienen, die Pro Juventute geführt hat. Das steht beispielsweise:

«Ach, ich brauche einfach ­jemanden, um Dampf abzulassen. Ich kann sonst mit niemandem reden, weil es mir so peinlich ist. Grad kürzlich habe ich mit meinem Vater über so Internetzeug geredet, und es war für mich so klar, wie gefährlich dies sein kann. Ich habe mir nicht im Traum vorstellen können, dass mir das mal passiert.»

Das Motiv von Pro Juventute ist wohl ein doppeltes: Einerseits auf die eigene Arbeit aufmerksam zu machen, was dann zu Spenden führt, andererseits Prävention zu betreiben.

Meiner Meinung nach führt das aber zu einer Sabotage der eigenen Arbeit. Das Vertrauen Jugendlicher in Beratungspersonen hat Priorität. Wenn aus diesen Gesprächen in der Boulevardpresse zitiert wird, wird das Vertrauen zerstört. So anonymisiert die Gespräche sein mögen: Betroffene (und Nicht-Betroffene) müssen damit rechnen, von ihrem Umfeld auf die geschilderten Situationen angesprochen zu werden und sich rechtfertigen zu müssen. Pro Juventute ist sich gemäß Laurent Sedano sicher, dass das nicht passieren kann, weil »die Angaben zu Details zusätzlich eingefügt« worden seien. Diese Verfremdung ist aber für Leserinnen und Leser des Blick nicht erkennbar, der Text weckt den Eindruck, es handle sich um echte Protokolle.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Ringier verdient Geld mit Äußerungen von Jugendlichen in Notsituationen, die sexualisiert präsentiert werden (vgl. Bild oben). Das darf nicht sein und  von Pro Juventute nicht ermöglicht werden.

Die Richtlinien der Hotline geben an, unter welchen Umständen die Schweigepflicht aufgehoben werden kann:

Es werden nur unpersönliche Daten zu statistischen Zwecken erhoben. Alle Beraterinnen und Berater unterstehen der Schweigepflicht, auch über das Anstellungsverhältnis hinaus. Diese Schweigepflicht kann mit deinem Einverständnis aufgehoben werden.

Daher wirkt es zumindest zynisch, wenn im Artikel ein 14-Jähriger wie folgt zitiert wird:

«Gäll, diese Anrufe sind vertraulich», will der 14-Jährige wissen, bevor er loslegt […]

Ob die Jugendlichen von Pro Juventute über die Möglichkeit einer Veröffentlichung informiert wurden und  damit einverstanden waren, habe ich von Pro Juventute auf Anfrage hin nicht erfahren.

Laurent Sedano hat im Namen von Pro Juventute Stellung genommen (siehe Kommentare) über das konkrete Vorgehen von Pro Juventute aufkelärt:

Bei den Geschichten handelt es sich um Fallbeispiele, d.h.es sind nachgestellte und zusammengestellte Protokolle und geben nicht einen tatsächlichen Beratungsinhalt wieder. Aus Vertraulichkeitsgründen sind die Gespräche verfremdet. Die Angaben zu allen Details sind zusätzlich eingefügt, so dass sich kein Kind darin wiederfinden kann. Diese Fallbeispiele werden in erster Linie nicht medial, sondern direkt in der Jugendarbeit verwendet […]

Mein ungutes Gefühl bleibt bestehen:

  1. Lesen Jugendliche den Blick, erhalten Sie den Eindruck, dass ihre vertraulichen Gespräche mit 147 dort publiziert werden könnten.
  2. Wer Jugendarbeit betreibt, darf Inhalte nicht im Boulevard ausbreiten. Auch wenn sie stark verfremdet sind.
  3. Entweder sind die Auszüge anonymisiert-echt und bedürfen einer Freigabe der Jugendlichen und ihrer Eltern – oder sie sind fiktiv. Dann müsste das im Text deutlich werden.

Bemerkungen zur Sexting-Kampagne von Pro Juventute

Gestern hat Thinh-Lay Bosshart die Ergebnisse eines Selbstversuchs mit dem Chat-Support von Pro Juventute veröffentlicht, der heute auf Facebook zu einigen Diskussionen Anlass gegeben hat (FB-Link, Gruppe »Medienpädagogik«). Als Reaktion darauf möchte ich einige Bemerkungen zur Kampagne von Pro Juventute anfügen, die meinen Kommentar zur Sexting-Kampagne ergänzen.

  1. Die Aufklärungsarbeit von Pro Juventute ist wichtig und richtig. In Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten wird die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mit der kostspieligen Kampagne auf ein medienpädagogisches Thema gelegt, das tatsächlich Aufmerksamkeit verdient.
  2. Die fachlichen Informationen, die Pro Juventute z.B. in den Merkblättern zur Verfügung stellt, sind hochwertig und empfehlenswert. Sie sind kompakt, praxisnah und korrekt.
  3. Sexting ist – wie auch Cybermobbing – keines der großen Themen von Pro Juventute. Sexting betrifft eines von 450 Gesprächen, die Pro Juventute mit Jugendlichen täglich führt.
  4. Der Vorwurf, die Kampagne würde dafür benutzt, Spendengelder einzutreiben, der beispielsweise bei der Cybermobbing-Kampagne in der NZZ erhoben wurde, mag einen wahren Kern haben, verkennt aber, wie sich Organisationen wie Pro Juventute finanzieren müssen. Marketing ist wichtig und es ist keineswegs verwerflich, das Marketing mit einer Aufklärungskampagne zu verbinden.
  5. Dennoch bleibt ein schaler Nachgeschmack, dass ein Bild der Jugend gezeichnet wird, das der Realität nicht ganz gerecht wird. Jugendliche betreiben Sexting, aber die Praxis ist nicht Alltag und betrifft nicht alle Jugendlichen. Ein Schulleiter einer Zürcher Oberstufe hat kürzlich von drei Fällen im letzten halben Jahr gesprochen, mit denen er sich beschäftigen musste. Sicher kein vernachlässigbares Problem, aber beispielsweise nicht auf eine Stufe mit familiären Problemen zu stellen.
  6. Die Präsenz in den sozialen Netzwerken könnte professioneller ausfallen. Die Beratung im Chat sollte zumindest an kompetente Fachleute weiterverweisen, wenn sie selbst keine kompetente Auskunft geben kann.
  7. Das betrifft auch den Cyber-Risiko-Check. Er ist auf Facebook beschränkt – eine Plattform, die gefährdete Jugendliche (also die jüngsten) neben WhatsApp und Instagram immer weniger nutzen.
    Dazu kommuniziert er medienpädagogisch paradox: Er verlangt Zugriff zum eigenen Facebook-Profil und möchte sogar im eigenen Namen publizieren können – will aber gleichzeitig vermitteln, dass der Zugriff zum Profil möglichst vorsichtig gehandhabt werden sollte. Die Kriterien, nach denen die Empfehlungen erfolgen, sind zudem wenig transparent und die Tipps an der Oberfläche. Echte Präventionsarbeit muss sich stärker auf Kontexte beziehen und funktioniert auf einer so allgemeinen Ebene nicht.

Fazit: Während die Kampagne sinnvoll ist, dürfte sie in der konkreten Ausgestaltung sorgfältiger sein. Lieber etwas genauere Information, dafür weniger Möglichkeiten, als allgemeine Hinweise, die im konkreten Fall wenig nützen. 

Das Vertrauensparadox – zur Sexting-Kampagne von Pro Juventute

IMG_7987

Eine neue Kampagne von Pro Juventute nimmt neben Cybermobbing auch Sexting in den Blick. Jugendliche verschicken beim so genannten Sexting (Sex – Texting (SMS)) dabei erotische Fotos von sich selbst, meist einzelnen nahen Freundinnen und Freunden, denen sie vertrauen und mit denen sie intime Beziehungen pflegen. Bricht das Vertrauen, können diese Bilder an eine breitere Öffentlichkeit gelangen, meist mit verheerenden Folgen. Die Merkblätter von Pro Juventute bieten sehr gute Informationen für Jugendliche, Eltern und Lehrpersonen.

Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen und darüber zu sprechen. Durch Sensibilisierung kann das  Problem aber nicht gelöst werden. Vertrauen ist sehr paradox – es erfolgt nicht begründet, sondern basiert auf einer Annahme: »Ich kann dem anderen vertrauen.« Deshalb haben so genannte Vertrauensbeweise einen hohen Stellenwert. Je gefährlicher etwas  ist  – ein Nacktbild verschicken, ein Passwort tauschen, desto besser eignet es sich für den Versuch zu beweisen, dass man einer anderen Person vertraut.

Der Kinder- und Jugendpsychologe Urs Kiener sagt dem Tages Anzeiger zur Kampagne:

Die Hauptproblematik ist die Verletzung der Privatsphäre. Eine solche Nacktaufnahme wird häufig von einem jungen Mädchen auf Aufforderung ihres Freundes gemacht − als eine Art Liebesbeweis. Wenn die Liebe, wie oft bei Jugendlichen, nicht ewig hält, veröffentlicht der Junge das Bild, indem er es an seine Kollegen schickt, vielleicht aus Frustration, vielleicht aus Blödsinn oder weil er damit bluffen will. Weiss plötzlich die ganze Schule von dem Bild, löst das bei der jungen Frau unglaubliche Ohnmachtsgefühle aus.

Obwohl das Problem in der Schweiz gemäß der JAMES-Studie lediglich sechs Prozent der Jugendlichen betrifft, befürchtet der Experte eine Zunahme – gemäß Daten von EU-Kids Online nimmt er an, dass bald 20 Prozent der Jugendlichen davon betroffen sein werden. Diese Prognose darf man durchaus skeptisch betrachten: Viele Jugendliche wissen um die Gefahren, die mit erotischen Fotos verbunden sind, und verhalten sich entsprechend. Zudem ist es recht schwierig, hier präzise Angaben zu ermitteln.

Quelle: Ergebnisbericht JAMES-Studie 2012
Quelle: Ergebnisbericht JAMES-Studie 2012

Nacktaufnahmen an sich sind also nicht verwerflich?
Nein. Problematisch sind sie nur, weil sie mit Mitteln aufgenommen werden, die die Bilder innert Sekunden ungewollt in die Öffentlichkeit hinauszerren.

Auch diese Aussage im Interview muss man eher kritisch sehen – heute kann jedes Bild innert Sekunden ungewollt publiziert werden. Kieners Verweis auf die Polariod-Kameras unserer Jugend mag zeigen, dass es früher auch eine eher ungefährliche Begeisterung für Bilder gab: Aber heute können auch analoge Bilder innert Sekunden digitalisiert werden. Jedes Bild ist heute potentiell öffentlich.

Hier der Videoclip zur Kampagne:

Cybermobbing

Durch die aktuelle Pro Juventute-Kampagne sowie die Club-Sendung vom 30. Oktober ist das Thema Cybermobbing momentan sehr präsent. Im Folgenden ein Grundsatzartikel zum Thema, der sich auf die wesentlichen Aspekte konzentriert. Ich biete zu diesem Thema auch Beratung an. Am Schluss gibt es Verweise auf bestehende Merkblätter, die empfehlenswert sind.

1. Was ist Cybermobbing? 

Mobbing bedeutet kontinuierliche und geplante kommunikative Aktionen durch Einzelpersonen oder Gruppen gegenüber einem Individuum. Es findet in einem bestimmten sozialen oder institutionellen Kontext statt, meist am Arbeitsplatz oder in der Schule und zeichnet sich dadurch aus, dass feindselige Handlungen langfristig und systematisch erfolgen. Betroffene von Mobbing erleben sich als unterlegen und werden in ihrer Menschenwürde angegriffen.

Cybermobbing ist Mobbing mit digitalen Mitteln: Es erfolgt also über Internetkommunikation und mobile Kommunikation.

Verwandte Begriffe sind Cyberbullying und Cyberstalking:

  • Bullying kann als Synonym zu Mobbing gesehen werden, es bedeutet tyrannisieren, einschüchtern oder schikanieren – im Gegensatz zu Mobbing durchaus auch mit physischer Gewalt.
  • Stalking meint das Verfolgen einer Person, meist durch eine andere Einzelperson. Stalking kann ein Mittel sein, das für Mobbing eingesetzt wird.

Allgemeiner kann man von Cybergewalt sprechen, um all diese Phänomene zu bezeichnen.

2. Cybermobbing konkret

Wie muss man sich Cybermobbing vorstellen?

  1. Auf einer ersten Ebene wird die Kommunikation einfach ins Internet oder auf mobile Geräte verlagert: Verbale Gewalt erfolgt per SMS, Chat-Nachricht oder Email. Oft sind die Täter dann auch anonym unterwegs oder erstellen gefälschte Profile.
  2. Auf einer zweiten Ebene werden spezifisch digitale Techniken genutzt: Gewalt wird nicht nur verbal, sondern multi-medial ausgeübt. Wie im berühmten Fall von Amanda Todd (siehe Video unten) werden Videos, Tondokumente oder Bilder verwendet, um Opfer unter Druck zu setzen, zu erpressen und zu bedrohen. Diese Daten können auch manipuliert sein – wie im Fall von »Jamileh«.
  3. Auf einer dritten Ebene werden spezifische Mechanismen von Social Media genutzt, um Effekte von Social Media oder sozialen Netzwerke gewaltsam zu nutzen. Einige Beispiele:
    (a) Private Nachrichten, Bilder oder Videos werden öffentlich gemacht und damit eine Dynamik auszulösen. (»X hat über Y Z gesagt…«)
    (b) Es wird negative Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Profil gelenkt, mit dem Ziel, dass ein ganzer Schwarm von Internet-Mobbenden mitspielt. Das kann dann – wie in diesem Beispiel – durchaus auch in der nicht-digitalen Welt Auswirkungen haben.
    (c) Verbreitet ist auch, dass man verhindert, dass eine Person im Netz ein positives Image aufbauen kann, indem z.B. Bilder immer wieder negativ kommentiert werden, Profile mit hässlichen Aussagen verunstaltet werden etc.
  4. Auf einer vierten Ebene werden dann im Internet gewonnene Informationen für Gewalttaten in der physischen Welt genutzt. So beschreibt z.B. dieser Reddit-User, wie er vom Cyberstalker zum Stalker geworden ist.


3. Eigenschaften von Cybermobbing

Cybermobbing hat Eigenschaften, die es durchaus von Mobbing unterscheiden – obwohl die zugrundeliegenden Strukturen oft dieselben sind (siehe unten):

  • Digitale Kommunikation ist enorm effizient: Nachrichten können sehr schnell und ohne Aufwand verschickt werden, Gruppen organisiert und mobilisiert und Informationen beschafft. Das führt dazu, dass Täter viel mehr Möglichkeiten haben.
  • Digitale Kommunikation kann mit versteckten oder falschen Identitäten erfolgen: Oft wissen Betroffene von Cybergewalt nicht, wer hinter Attacken stecken. Auch wenn sie Vermutungen haben, können sie nur mit großer digitaler Kompetenz echte Beweise sicher stellen, oft bleibt es bei diesen Vermutungen.
  • Cybermobbing ist ort- und zeitunabhängig. Ich wurde in meiner Jugend auf dem Weg zum Handballtraining regelmäßig zum Opfer physischer und verbaler Gewalt. Diese Gewalt war auf einen Ort und eine Zeit beschränkt – Cybermobbing kann uns jederzeit auf dem Mobiltelefon und an jedem Ort erreichen. Das führt zu einem diffusen Gefühl von Bedrohung; im Club formuliert das eine Betroffene von Cyber-Stalking so: Sie fühle sich im vierten Stock, als würde ihre Stalkering jederzeit zum Fenster reinschauen.
  • Internetkommunikation ist direkter und oft unfreundlicher: Die Schwellen, jemanden zu belästigen, zu bedrohen, verbal Gewalt auszuüben sind viel kleiner.
  • Social Media hat die Absicht, »Schwärme« zu erzeugen: Intelligente Schwärme. Aber, so hat es Sascha Lobo formuliert, Schwarmlobbying und Schwarmmobbing liegen dicht beieinander«. Es ist für Schwarmmitglieder oft nicht einmal zu erkennen, ob sie nun Mittäter bei Cybermobbing werden, weil sie einfach den Regeln der Schwarmorganisation folgen.
  • Die digitale Welt wird immer enger mit unserem beruflichen, schulischen und sozialen Leben verzahnt. Damit wird auch Cybermobbing direkt eingebunden: Es wirkt sich sehr schnell auf unser soziales und berufliches Wohlbefinden aus, es findet selten in einem isolierten virtuellen Bereich statt, der ausblendbar wäre.

4. Gibt es Cybermobbing ohne Mobbing? 

Diese Frage untersuchen Prof. Sonja Perren vom Jacobscenter der Universität Zürich in Zusammenarbeit mit Prof. Françoise Alsaker von der Universität Bern in noch laufenden Projekten. Im Zwischenergebnis einer Studie von 2011 hält Perren fest:

[T]raditionelle Gewalt [kommt] unter Jugendlichen (physische, verbale, soziale Gewalt) im Vergleich zu Cybergewalt deutlich häufiger vor. Unter Jugendlichen, die in Gewalttaten involviert sind, können Täter, Opfer und solche[,] die beides sind, unterschieden werden. Die Studie zeigt, dass die Jugendlichen[,] die mit Cybergewalt zu tun haben (als Opfer und/oder Täter), oft auch in traditionelle Gewalt verwickelt sind (meist in der gleichen Rolle wie bei Cybergewalt).

In der NZZ lässt sich Perren noch pointierter zitieren:

Der Kreis der Betroffenen ist sehr klein. […]
Das Problem beim Cybermobbing ist daher nicht im Cyber zu suchen, sondern beim Mobbing.

Genaue Zahlen zu Cybermobbing sind für die Schweiz nicht verfügbar, die besten Daten sind veraltet, sie stammen aus der JAMES-Studie von 2010. Wie die Daten zeigen, wird nicht erhoben, ob Cybermobbing (»fertig machen« ist eventuell keine geeignete Beschreibung) tatsächlich von Mobbing getrennt existiert.

JAMES-Studie 2010, ZHAW.

5. Was sollen Betroffene tun? 

Die Antwort auf diese Frage lässt sich aus Leitlinien für Mobbing direkt ableiten. Ganz wichtig ist bei Cybermobbing: Durch Zurückschlagen auf dem Netz kann das Problem nicht gelöst werden, wie dieser lesenswerte Artikel zeigt.

Hier die wichtigsten Punkte, adaptiert (nicht alle Punkte sind in jedem Fall anwendbar):

  1. Andere Menschen informieren – auch wenn man selber nicht betroffen ist: Eltern, Freunde, Lehrpersonen, Kolleginnen und Kollegen. Cybermobbing nie für sich behalten. Scham ist sehr verständlich, sollte aber nicht dazu führen, dass man das Problem anderen verschweigt.
  2. Hilfe holen bei Telefon 147 oder bei 147.ch.
  3. Darauf bestehen, dass Mobbing aufhört. Es unter keinen Umständen akzeptieren oder Betroffene selbst (oder ihr Verhalten im Internet) dafür verantwortlich machen.
  4. Vorfälle protokollieren, eine Art Mobbing-Tagebuch anlegen. Die Dokumentation kann verwendet werden, um eine Lösung zu finden – aber auch, um Vorfälle verarbeiten zu können.
  5. Sich von Expertinnen und Experten beraten lassen.
  6. Einträge löschen lassen und löschen, Täter sperren lassen und sperren; Profile melden.
  7. Anzeige erstatten bei der Polizei. Die Vorfälle auch Betreibern von Sozialen Netzwerken etc. melden, die dann auch Massnahmen unternehmen.
  8. Cybermobbing in der Schule und am Arbeitsplatz zum Thema machen und Fachpersonen (Schulsozialarbeit, PsychologInnen etc.) beiziehen.
  9. Präventionsarbeit an Schulen und Arbeitsplätzen leisten. Es gibt keine einfachen Rezepte für Mobbing-Prävention: Wichtig ist ein gutes Klima und Kommunikation.

6. Ressourcen

  1. Bericht des Bundesrates zu Cyberbullying mit rechtlicher Einschätzung.
  2. Merkblatt der Volksschulbildung Luzern.
  3. Broschüre »Datenschutz und Cybermobbing« der Stiftung Schweizer Jugendkarte.
  4. Präventionsmaterial für Schulen und Lehrpersonen der Fachhochschule Nordwestschweiz.
  5. Tipps von 147.ch.

Cyber-Mobbing: Die Pro Juventute-Kampagne

Pro Juventute will mit einer neuen Kampagne zu Cybermobbing Jugendliche und ihr Umfeld für das Thema sensibilisieren, wie die Organisation in einer Medienmitteilung schreibt. Die Kampagne erfolgt multimedial: Neben einem Clip (ganz unten) gibt es Plakate und eine Facebook-App (Klick aufs Bild).

Folgende Gründe für die Kampagne werden genannt:

  • Das Beratungsangebot 147.ch wird vermehrt wegen Cybermobbing in Anspruch genommen.
  • Die JAMES-Studie von 2010 zeige, dass »jeder fünfte Teenager schon erlebt habe, dass ihn jemand im Internet fertig machen« wolle.
  • Cyber-Mobbing ist nicht ortsgebunden.
  • Die Täter könnten anonym agieren.
  • Cyber-Mobbing ist der Hälfte der Jugendlichen als Begriff nicht bekannt, rund zwei Drittel wissen nicht, wo Hilfe suchen.
  • »Cyber-Mobbing kann von Schlafschwierigkeiten über Depressionen bis zum Jugendsuizid führen.«

Stephan Oetiker, Direktor von Pro Juventute, weist auf eine Überforderung von Lehrpersonen, Jugendlichen und Eltern hin:

Unsere Kampagne zeigt auf, dass: Cyber-Mobbing ein ernstes Problem ist. Wir wollen Jugendliche, Eltern und Lehrer sensibilisieren und Hilfsangebote wie die Notrufnummer 147 aufzeigen. Die Fachleute von Pro Juventute sind in ihrer täglichen Arbeit damit konfrontiert, dass sowohl Jugendliche wie Eltern und Lehrerpersonen überfordert sind mit dem Thema und sich dringend Unterstützung wünschen.

Pro Juventute setzt vor allem auf Prävention und Aufbau von Medienkompetenz. Die Organisation bietet so genannte »Medienprofis-Workshops« an.

* * *

Die Anlage der Kampagne finde ich sinnvoll: Systematischer Aufbau Medienkompetenz ist der Schlüssel im Umgang mit solchen Phänomene – ich berate Eltern und Schulen auch in solchen Fragen.

Die Kampagne selbst ist mir aber zu weit von der Online-Realität weg. Wir sehen ein männliches Model, dominierend ist das Blut, das fließt. Das wirkt drastisch: Es zeigt aber nicht psychische Bedrängnis, in die junge Menschen geraten, der Mix aus sozialen Anforderungen und Überforderungen, die Social Media mit sich bringen können.

Mir scheint es auch wichtig, dass man das Phänomen genauer fasst. »Fertig machen« im Internet ist nicht Cyber-Mobbing. Anonymität ist nicht der Grundmodus von sozialen Netzwerken. Und Medienkompetenz ist mehr als rechtliche Information und Reflexion.

In der NZZ kritisiert Ronny Nicolussi die Kampagne als Methode um an Spendengelder zu gelangen. Die angegeben Zahlen zur Häufigkeit von Cybermobbing seien stark übertrieben, zudem sei Cybermobbing fast immer ein Folgephänomen von bestehendem Mobbing – das Problem liege beim Mobbing, nicht bei der Internetkommunikation.