Authentizität als konstanter Mangel

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»Und genau das will ein Selfie sein – authentisch«, heißt es in Matthias Oppligers Essay über Selfies, der in der heutigen Ausgabe der Tageswoche zusammen mit einem längeren Gespräch mit mir erschienen ist.

Mit diesem Satz bin ich nicht einverstanden. Wer Selfies als Kommunikationsform einsetzt, nutzt das Potential der Selbstinszenierung in der Regel. Sich für das Bild schnell die Haarsträhne aus dem Gesicht wischen, das erste löschen und schnell noch eins anfertigen, den Bildausschnitt leicht verändern und noch einen kleinen Filter drüberlegen – all diese Schritte laufen schon fast automatisch ab, bevor ein Selfie auf Instagram das persönliche Netzwerk erreicht.

All photographs are posed, every single one of them. Every one of them. Every last one of them. They’re all posed. Maybe they’re not all posed in the same way, but they’re all posed.

Diese Einsicht von Errol Morris gilt für alle Formen von medialer Kommunikation: Jede Überführung von Wahrnehmungen und Gedanken in Zeichen beinhaltet eine bewusste oder unbewusste Darstellung, eine Inszenierung. Authentische Kommunikation gibt es nicht, weil schon allein die für Kommunikation nötige Selektion Authentizität verunmöglicht.

Und wie verhält es sich mit dem Einwand, dass mit Authentizität aber etwas ganz anderes gemeint sei, nämlich eine möglichst präzise medial Wiedergabe der Realität? Ein Social-Media-Profil wäre diesem Verständnis nach dann authentisch, wenn der Name mit dem Realnamen übereinstimmt, wenn das Profilbild der Person ähnlich sieht, wenn sie die Person auf dem Profil so verhält, wie sie das in anderen sozialen Kontexten auch tut. Gemeint wäre also eher eine Angleichung an Erwartungen, die andere an eine Person stellen; eine Ähnlichkeit mit einem Bild, das andere von einem angefertigt haben. Ist das, was wir mit Authentizität bezeichnen wollen?

Selfies zeigen all das: Sie stellen den Wunsch nach authentischer Kommunikation aus, wenn etwa der Bundesrat ein Selfie macht und somit sagt: »Schaut mal, wir brauchen keine Kommunikationsprofis, das Bild haben wir selbst gemacht, so sehen wir wirklich aus.«

Künstlerisch gut gemachte Selfies zeigen aber noch mehr: Sie äußern zwar das Bedürfnis, die Beschränkungen des Mediums aufzuheben, zeigen aber gleichzeitig auch die Unmöglichkeit seiner Umsetzung. Sie vermitteln ein Bedürfnis nach Nähe und die Gewissheit der Distanz, sie entwerfen eine Gemeinschaft aus dem Gestus der Einsamkeit. Sie fordern radikale Selbstbestimmung über die eigene Repräsentation, indem sie das Urteil eines Publikums einholen.

Selfies sind ein Kommentar über Authentizität, aber nicht authentisch.

(Bilder: mirrorsme/Instagram, Hat Tip an Nico Huser für den Hinweis)

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Selfies als Reaktion auf Massenüberwachung

Der öffentliche Raum wird zunehmend überwacht. Kameras und bald auch Mikrofone nehmen auf, was in Nahverkehrsmitteln, auf Plätzen, Bahnhöfen, Einkaufszentren und an vielen anderen Orten passiert, um eine diffuse Form von »Sicherheit« herzustellen.

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Gleichzeitig beginnen Menschen, Bilder von sich selbst zu machen. Zunächst oft alleine, dann in Gruppen. An ausgefallen Orten, bei ausgefallenen Tätigkeiten. Auf der Toilette, nach dem Sex, auf Bestattungen, in Konzentrationslagern. Kein Ort scheint heilig, nichts intim.

Die Selfies imitieren die Überwachung. Sie sind eine Reaktion darauf, dass die Kontrolle über das eigene Bild verloren gegangen ist. Sie stellen aber diese Kontrolle gleichzeitig wieder her, indem nämlich vor und hinter der Kamera dieselbe Person zu sehen ist. Die Technologie, die Massenüberwachung möglich und einfach macht, ist es, mit der sich Menschen selbst abbilden: Nicht nur fotografisch, sondern auch indem sie Daten von sich selbst sammeln – was sie essen, wie viel Sport sie treiben, wie viele Schritte sie pro Tag gehen, den Rhythmus ihres Herzschlags, ihren Blutdruck.

Selfies sind ein Symptom der gescheiterten Verhandlungen rund um Zustimmung, Kontrolle, Manipulation und Überwachung. Ein Bild von jemandem zu machen erfordert die Erlaubnis der anderen Person. Dieser moralische und rechtliche Grundsatz wird immer stärker aufgeweicht. Eine vernünftige Reaktion darauf ist es, sich selbst so zu zeigen, wie man erscheinen will.

Personen, von denen viele Selfies im Netz sind, können kaum durch unerwünschte Aufnahmen in ihrer Selbstrepräsentation gestört werden. Paradoxerweise genießen sie eine stärkere Privatsphäre, weil sie mehr zwischen den Selfies verstecken können als Menschen, welche diese Technik nicht nutzen.

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Diese Gedankengänge basieren auf dem brillanten Essay von Jenna Brager, »Selfie Control«, sowie auf Ausführungen von Zeynep Tufekci zu Überwachung.