Internet-Optimismus ist gleich schwierig wie wichtig

My animating belief is that politicians and bullshitters and ideologues have taken the idea of societal change and replaced it with a particular notion of technology as the only or main causal mechanism in history. Somehow, we’ve been convinced that only machines and corporations make the future, not people and ideas.

Der Gedanke, den Alexis Madrigal als eine Art Manifest formuliert, wird in Bezug auf das Internet kaum noch gedacht: Es wird nicht als das gesehen, was ich verkürzt »digitale Kommunikation« nenne – also das Resultat eines Bedürfnisses von Menschen, anderen Menschen etwas mitzuteilen und ihnen ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Zu Recht: Die enormen Investitionen, welche den Aufbau dieser Infrastruktur ermöglicht haben, wurden nicht von wohltätigen NGOs getätigt, sondern von Unternehmen, die einen Profit erwarten. Wir seien das Produkt im Internet, wird uns immer wieder klar gemacht, wenn wir einen Moment lang über die Möglichkeiten staunen, die unsere Smartphones bereit halten: Wir können zwar Google Maps nutzen, zahlen aber dafür mit »Daten«! Facebook verkauft unsere Freundeslisten an Werbekunden. Twitter »missbraucht« unsere Aktivitäten, um uns Inhalte anzuzeigen, die wir gar nicht sehen wollen. Snapchat verspricht, keine Bilder und Videos zu archivieren, »verliert« aber mehrere 100’000 solcher Bilder. Täglich können wir – wenn wir uns dafür noch interessieren – erfahren, wie Unternehmen im Netz Prinzipien missachten, das Gesetz umgehen und unsere Netzkommunikation zu Geld machen.

Dabei ist das die Spitze des Eisbergs: Amerikanische Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste können unsere Daten abfangen, die verwendeten Verschlüsselungen knacken und auf die Mikrofone und Kameras zugreifen, die wir nutzen. Was andere Regierungs- und Militärorganisationen können und machen, wissen wir kaum. Die Freiheit des Netzes entpuppt sich als das Trugbild, hinter dem sich totalitäre Überwachungsmethoden verstecken.

Und auch dort, wo Menschen scheinbar offen digitale Räume im Netz gestalten können, vertreiben sie Schwächere und Andersdenkende mit perfiden Methoden, lassen ihrem Hass freien Lauf und quälen Unschuldige. Hat Adam Thierer 2010 in einem zweiteiligen Essay (Teil 1, Teil 2, beide pdf) noch für Internet Optimismus plädiert und gezeigt, wie sich die Argumente der beiden Seiten unterschieden, hat sich der Pessimismus flächendeckend durchgesetzt.

Thierer, Teil 1, S. 67
The Case for Internet Optimism, Teil 1, S. 67

So erstaunt es nicht, dass in den Feuilletons der deutschsprachigen Zeitungen ein langweiliger Kulturpessimismus vorherrscht, wenn es um Neue Medien geht. Vielleicht müsste man präziser von einem Technikpessimismus sprechen. Es scheint, als hätten diejenigen Teile der Gesellschaft, die aufs Netz zugreifen (können), eine riesige Chance vergeben. Ein Vorgang, für den die Piratenpartei im politischen Bereich als trauriges Symbol gelten muss.

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Und doch sind »wir« – eben, die Menschen, die auf Netz zugreifen können – ständig online. Alkoholkranke trinken auch weiter, obwohl sie wissen, dass sie sich damit vergiften, können Pessimistinnen und Pessimisten schnell einwenden. Aber der Vergleich ist schief:

  1. Trotz aller Mühen der Presseleute, ein tragfähiges Geschäftsmodell zu finden, war ich noch nie so gut informiert wie heute. Ich lese täglich tiefschürfende Beiträge zu Kultur, Politik und Sport – auf die mich mein Netzwerk hinweist.
  2. Ich nehme an Debatten teil, die mich betreffen und interessieren.
  3. Von zuhause auf greife ich auf mehr Bücher, Filme und andere Medien zu, als jede Bibliothek in meiner Nähe in ihrer Sammlung hat.
  4. Ich tausche mich regelmäßig mit Fachleuten aus, die sich in meinen Arbeitsschwerpunkten auskennen.
  5. Aus dem Netz sind viele Freundschaften entstanden; bestehende werden digital gepflegt.

Die Liste könnte verlängert werden. Ihr Fazit: Müsste ich auf digitale Kommunikation verzichten, bedeutete das eine gravierende Einschränkung meiner Lebensqualität. Und ich bin mit dieser Einschätzung nicht allein. Will ich dafür einstehen, dass der freiere und schnellere Fluss von Information, der das Internet mit sich gebracht hat, ein Fortschritt ist, so muss ich Optimist bleiben.

Nun ist das Resultat der Überlegungen nicht, dass das Internet Vor- und Nachteile hat oder dass man es positiv oder negativ sehen kann. Die Vorteile sind seine Nachteile, es ist positiv und negativ zugleich. Wer das Internet nicht naiv sieht, ist Optimist und Pessimist zugleich. Ich weiß, wie unerträglich die politische Ohnmacht gegenüber Massenüberwachung und die kapitalistische Vereinnahmung von Kommunikation sind; mir ist bewusst, dass Menschen (digitale) Rede- und Meinungsfreiheit immer auch dazu benutzen, zu Hass und Gewalt aufzurufen. Und dennoch bin ich nicht bereit, die positiven Auswirkungen zu leugnen.

Wer einfache Lösungen verspricht, versteht nicht, wie verstrickt gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Aspekte im Netz sind. Nur: Das zeichnet das Internet nicht einmal aus. Jede Frage, über die es sich nachzudenken lohnt, erweist sich als eine Vermischung verschiedener Perspektiven und lässt jeden Vorschlag einer einfachen Lösung als unüberlegt erscheinen. Vielleicht reicht das ja auch als Grund aus, um pessimistischer Netzoptimist zu bleiben: Das Projekt Internet ist ein spannendes Problem.

what if, xkcd
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