Das Google-Urteil: Recht auf Vergessen oder eine Welle der Zensur?

Letzte Woche hat der Europäische Gerichtshof EuGH ein für Google bedeutsames Urteil erlassen. Die Schlüsselpassage lautet wie folgt:

Durch die Tätigkeit einer Suchmaschine können die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und Schutz personenbezogener Daten somit erheblich beeinträchtigt werden, und zwar zusätzlich zur Tätigkeit der Herausgeber von Websites; als derjenige, der über die Zwecke und Mittel dieser Tätigkeit entscheidet, hat der Suchmaschinenbetreiber daher in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass […] ein wirksamer und umfassender Schutz der betroffenen Personen, insbesondere ihres Rechts auf Achtung ihres Privatlebens, tatsächlich verwirklicht werden kann.

Kurz: Google muss Einträge entfernen, die den Schutz des Privatlebens von klagenden Personen verletzen – auch wenn die betreffenden Informationen im Netz weiterhin verfügbar sind. Im konkreten Fall ging es um einen Spanier, der in einer Zeitung im Zusammenhang mit einer zwangsversteigerten Immobilie genannt worden war. Die von der Zeitung verbreitete Information entsprach der Wahrheit: Nur wurde sie von Google allen verfügbar gemacht, die sonst kaum das Archiv der entsprechenden Zeitung durchforstet hätten.

Solche Informationen gab es schon immer. Amtliche Dokumente halten unliebsame Prozesse, Verwaltungsakte etc. von Menschen während ihrem ganzen Leben fest, nur fielen die vor der Google-Ära unter die so genannten »practical obscurity«: Nur wer mit hohem Aufwand und Kompetenz nach diesen Informationen sucht, findet sie. Für alle anderen sind sie verborgen. 

Das Urteil zeigt, dass Erinnerung und Vergessen gesellschaftlich relevante Themen sind, die nicht nur durch Technologie und Rechtssprechung Veränderungen erfahren können, die ungewollt und ungeplant sind.

Zeynep Tufekci verweist zu Recht auf den Genozid in Ruanda, während dessen Bewältigung die Kastenzugehörigkeit zu einem Tabu wurde: Ein kollektiver Prozess des Vergessens oder Verdrängens ersetzte die Praxis der belgischen Kolonialbehörden, die Kastenzugehörigkeit auf Ausweisen zu notieren – was letztlich den Genozid administrativ möglich machte.

Diese Überlegung zeigt, zwei wichtige Einsichten:

  1. Gesellschaften sollten sich nicht technologisch ausserstande setzen, Vergessen zu ermöglichen, weil davon ihr friedliches Zusammenleben abhängen kann.
  2. Informationen sind nicht neutral und Transparenz nicht kontextlos wertvoll.

Gleichzeitig ist das »Recht auf Vergessen« aber auch kein klares Konzept. Während es Tendenzen gibt, im Strafrecht dieses Vergessen ganz auszusetzen (zentrale Register von Straffälligen), wünschen sich viele Menschen ein Netz, in dem Sie Missliebiges auf Knopfdruck löschen können. Wer welche Information wo publiziert ist aber zunächst – und das ist eine große Errungenschaft – Gegenstand der Meinungäußerungsfreiheit und als solcher außerhalb der Zuständigkeit des Staates. Der Schweizer Datenschützer, Hanspeter Thür, äußerte sich zum Urteil wie folgt:

Mit dem EuGH-Urteil wird aus Sicht von Thür keine Zensur im Internet betrieben. Wenn Google auf Anfrage Links entferne, werde die Information im Internet nicht gelöscht. Gelöscht werde lediglich die von Google hergestellte Verknüpfung, betonte der oberste Schweizer Datenschützer. Die Suche nach einer bestimmten Information im Internet werde dadurch erschwert, aber nicht verhindert.

Diese Sicht umgeht die Frage nach den Kriterien für eine Löschung elegant, indem sie vorgibt, Google müsste alle Informationen löschen, wenn Menschen dazu einen Antrag stellen. Die Konsequenzen wären absurd: Bald würden Wikipedia-Einträge, Bücher, Zeitungsseiten nicht mehr gefunden, weil Menschen aus eingebildeten oder realen Nöten eine Löschung im Suchindex beantragt haben. Und warum sollte dieses Recht dann nur Google betreffen und nicht jede Suche im Netz, also beispielsweise auch die auf Newsportalen, in Facebook oder Wikipedia?

Und wenn es Kriterien für die Löschung gäbe: Müssten die nicht sinnvollerweise mit denen identisch sein, die zu einer Löschung der betreffenden Informationen nach Landesrecht führen? Heißt: Könnte ich eine Zeitung in der Schweiz rechtlich dazu bringen, einen Artikel über mich zu löschen – dann muss Google auch dann mitziehen, wenn der Artikel im Ausland erschienen ist.

Die juristische Umsetzung des Urteils wird den Weg weisen. Die Vorstellung, die »practical obscurity« würde zurückkehren und es wäre eine gute Sache, wenn die Menschen mit Zugang zu den nötigen Ressourcen und Suchalgorithmen alle Informationen einsehen könnten, während alle anderen eine staatlich zurechtgestutzte Suchmaske verwenden dürfen, scheint allerdings naiv. Die relevanten Probleme im Umgang mit Informationen sind sozial, nicht technisch, wie auch Per Urlaub in einem Kommentar für die Welt festhält:

Natürlich müssen wir uns vor den Gefahren der digitalen Permanenz schützen, aber nicht auf Kosten des freien Informationszuganges. Was wir brauchen, ist nicht ein Recht auf Vergessen, sondern eine Kultur der Vergebung. Dazu gehört auch ein gelassener Umgang mit der Tatsache, dass gerade die kreativsten, produktivsten und engagiertesten Menschen komplexe Leben führen, wo Privates gerne auch mal in Konflikt mit bürgerlicher Wunschvorstellung steht.

Durch eine solche menschlichere Sichtweise würde eine 15 Jahre alte Zeitungsnotiz über eine Grundstücksversteigerung ebenso zur Petitesse wie das jugendlich-leichtsinnige Selbstporträt mit Haschpfeife und Bikini auf der Facebook-Seite der Jurastudentin.

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