Evgeny Morozovs Kritik am Internetdiskurs

In seinem Buch To save everything, click here untersucht Evgeny Morozov das Internet als Idee. Um zu markieren, dass er nicht ein technisches Netzwerk meint, sondern ein gedankliches Konstrukt, markiert er Internet fast durchgängig mit Anführungszeichen. Zu Beginn von Kapitel 2 stellt der Autor fest, heute könne man mit »Internet« »just about anything« bezeichnen – der Begriff ist beliebig geworden. Getrieben von dieser Einsicht, untersucht Morozov zwei Phänomene. Das erste nennt er »Internet-centrism«: Die Vorstellung, dass eine Art Revolution erfolge, deren Auswirkung auf alle Bereiche des Lebens nur verstanden werden könne, wenn das »Internet« im Mittelpunkt der Analyse stehe. Diese Vorstellung bezeichnet Morozov mehrfach als religiöse, weil sie von Selbstverständlichkeiten und Sachzwängen ausgehe, die nur akzeptiert, wer an die Idee »Internet« glaube.

Quelle FAZ - Interview mit Morozov
Quelle FAZ – Interview mit Morozov

Mit dem Glaube des »Internet-centrism« hängt für Morozov ein zweites Phänomen zusammen, der »Solutionism«. »Solutionism interprets issues as puzzles to which there is a solution, rather than problems to which there may be a response«, lautet ein Zitat von Gilles Paquet, das Morozovs Definition gut summiert: Die Ideologie des Silicon Valley führt dazu, dass Software und Algorithmen Scheinprobleme lösen. Die Werkzeuge, welche zur Verfügung stehen, werden übermäßig eingesetzt, so dass letztlich die Fähigkeit verloren geht, echte Probleme oder Tugenden zu erkennen und darauf zu reagieren. Stattdessen werden Einsatzmöglichkeiten für die Werkzeuge gesucht, bei denen sie aber oft mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen: Einerseits, weil sie von wirklichen Problemen ablenken, andererseits weil sie funktionierende Mechanismen so verändern, dass neue Probleme entstehen.

Morozov bietet dafür eine Reihe von Beispielen an: Transparente Daten, softwaregestützte Politik, digitale Bildung oder präventive Polizeiarbeit. Im Hintergrund droht aber immer die politische Diktatur, der – so Morozovs Grundüberzeugung – eine so vage Idee wie »Freiheit im Internet« nichts entgegenhalten kann, schlimmer noch: Die sie eigentlich fördert, statt dagegen anzukämpfen.

Der interessante Aspekt von Morozovs Buch ist neben der Analyse von praktischen Beispielen sein Fazit. Er schlägt vor, in der Debatte ums »Internet« zwei Gruppen von Intellektuellen zu unterschieden: Solche, die sich wesentliche Resultate von der Beschäftigung mit »dem Internet« versprechen, und »Post-Internet«-Denker, die davon ausgehen, dass das Phänomen zwar soziologisch oder historisch beschrieben werden kann, ganz analog zu »Wissenschaft«, aber nicht dabei behilflich ist, die Welt zu beschreiben und verstehen. Morozov gehört selbstverständlich zur zweiten Gruppen. Er schlägt folgende Maßnahmen für den Umgang mit Technologie vor (S. 354ff.):

  1. Keine Diskussionen über die Auswirkungen des Internets und von Social Media mehr führen, weil unklare Fragestellungen damit verbunden werden, auf die kaum hilfreiche Antworten gefunden werden können.
  2. Besser ist es, technikbezogene, enge und empirische Analysen durchzuführen, welche beispielsweise die Funktionsweise spezifischer Algorithmen betreffen.
  3. Technologie generell eher als Konsequenz von Veränderungen in der Welt betrachten denn als Ursache solcher Veränderungen.
  4. Einsehen, dass in den letzten hundert Jahren jede Generation den Eindruck hatte, eine tiefschürfende technologische Umwälzung zu erleben. Das befreit von der Illusion, digitale Kommunikation bewirke einen echten Wandel.

Sein Fazit:

Technology is not the enemy; our enemy is the romantic and revolutionary problem solver who resides within. (S. 358)

* * *
Mir gefällt Morozovs Buch. Es ist energisch geschrieben und verbindet eine Reihe wichtiger Gedanken. Der entscheidende für mich: Ahistorische Beschreibungen führen leicht in die Irre. Internetkritik ähnlich zu betreiben wie Wissenschaftsphilosophie ist ein Zugang, von dem ich überzeugt bin. Morozov macht sich aber vieles zu einfach: Da er gerade das Problemfeld nicht eingrenzt, sondern »Internet« lediglich als einen Spielstein in einem Diskursspiel betrachtet, kann er einen Gegner konstruieren, der überall verwundbar ist. Er hält seine eigenen Vorgaben gerade nicht ein: Er führt weder eine enge Untersuchung noch eine empirische durch, er will – wie er es im Postscript fordert (S. 355ff.) –auf naive Technologiekritik verzichten, liefert aber ihren Vertreterinnen und Vertretern Munition.

Sharknado – eine Replik auf die Intellektuellenschelte von Evgeny Morozov

In der Zeit hat Evgeny Morozov gestern einen Essay publiziert, in dem er die Rolle der Intellektuellen in der Debatte übers Internet hinterfragt. Der Text liegt auf Englisch und Deutsch vor, ich zitiere die Übersetzung, habe aber das Original auch gelesen.

a_560x0Morozovs Text ist recht komplex und anfangs etwas undurchsichtig. Er vergleicht zu Beginn das Internet mit einem Sharknado. Dabei bezieht er sich auf den oben abgebildeten Wirbelsturm in einem populären amerikanischen Film, der vom Gedankenexperiment ausgeht, ein Wirbelsturm hebe einen Schwarm Haie aus dem Meer und befördere sie so nach Los Angeles. Nun: Es gibt keine Sharknados. Morozovs Aussage deshalb – Expertinnen und Experten reden über das Internet, als wäre es etwas, was es nicht gibt. Sie sind nun entweder Intellektuelle, die öffentliche Debatten über ein Phantom-Internet bestreiten, oder verdienen ihr Geld damit, Menschen Lösungen im Umgang mit dem Phantom-Internet anzubieten – das die Grundthese Morozovs.

Ob man meine Argumentation überzeugend findet, hängt allerdings davon ab, ob man „das“ Internet für einen Asteroiden hält, den ein Astrophysiker erklärt, oder für einen Sharknado, also einen Gegenstand, den man zwar erklären kann, aber nur zu dem Preis, dass man ihn dadurch glaubhafter macht, als er sein sollte.

Das ist natürlich eine falsche Alternative, die Morozov hier eröffnet: Die mit dem Internet verbundenen Kommunikationspraktiken können nicht entweder mit einer echten Bedrohung der Menschheit wie einem Asteroiden verglichen werden oder aber mit einer imaginierten – einem Sharknado – sondern auch mit weniger gefährlichen Phänomenen oder zumindest von gesellschaftlich hervorgebrachten und nicht von der Natur erzeugten. Also etwas mit der Industriegesellschaft – das tut Mercedes Bunz – oder mit dem Kapitalismus – das tut Geert Lovink.

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Morozov zieht nun Chomsky und Foucault bei, um den Internet-Intellektuellen ein problematisches Verhältnis zur Macht vorzuwerfen:

Nach Chomsky müssen Intellektuelle den Mächtigen die Wahrheit sagen. Nach Foucault müssen sie Wahrheit als Macht entlarven.

Das würden Expertinnen und Experten in der Diskussion der Auswirkungen des Internets nicht tun, was man mit einem einfachen Test herausfinden könne – wer sich für Reden bezahlen lasse, Regierungen im Umgang mit dem Internet berate oder gar die Waffenindustrie, können nicht glaubhaft infrage stellen, was Machtapparate mit digitaler Technologie täten. Morozovs Paradebeispiel dafür ist ein Gespräch, das Jeff Jarvis 2007 mit Ghadaffis IT-Minister in Boston führte.

Was Morozov hier bemüht, ist eine Silicon-Valley-Vorstellung eines Intellektuellen. Davon grenzt sich beispielsweise Jaron Lanier klar ab, wenn er darauf hinweist, dass:

Das Denken der Menschen im Silicon Valley in einem Widerspruch gefangen ist: Einem Widerspruch zwischen den Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die entwicklungsfreudigen und technologiegläubigen Menschen ein komfortables Leben ermöglichen – und dem Anspruch, Menschen aus den Zwängen des Geldes zu befreien, Informationen frei zugänglich zu machen.

Selbstverständlich trifft Morozov damit gewisse TED-Talks, die gegenüber politischer und wirtschaftlicher Macht eine große Naivität an den Tag legen. Aber er verfehlt europäische Intellektuelle wie Kathrin Passig, Sascha Lobo oder Christoph Kappes, deren Reflexion des Internets immer politisch und kritisch ist.

a_560x0 (1)Und doch erschöpft sich Morozvs Argumentation nicht darin. Sie enthält einen feineren Punkt, der eine genaue Lektüre lohnt. In Bezug auf Foucault schreibt er:

Die Herausforderung besteht darin zu verstehen, wie ein Sharknado zu einer Idee werden kann, um die herum eine Fernsehsendung und ein Evakuierungsunternehmen aufblühen. Die emanzipatorische Aufgabe des Intellektuellen wäre es, aufzuzeigen, dass es auch andere Bezugsmöglichkeiten zwischen Haien, Wasser und Wetter gibt als diejenigen, die wir Sharknado nennen.

Das ist richtig. Natürlich können sind die Konstellationen von Kommunikationspraktiken, Informationsfluss, Arbeitswelt, politischer Machmanifestation, Gesellschaft etc., denen wir vereinfachend den Namen »Internet« geben, kontingent, d.h. sie könnten auch anders sein. Das muss in der Diskussion reflektiert werden, weshalb es auch wichtig ist, dass Morozov auf drei Probleme hinweist:

  1. Das Internet ist nicht ein einheitliches Phänomen, sondern verbindet eine Reihe unterschiedlichster Mechanismen, die sich nicht aufeinander übertragen lassen. Nicht jedes Forum funktioniert wie die Wikipedia, nicht jedes soziale Netzwerk ist Facebook, nicht jede Art von Filesharing funktioniert wie Napster.
  2. Was wir tun, ist nicht ein Effekt dessen, was wir Internet nennen, sondern das Internet ist das Produkt von dem, was wir tun. Diese Behauptung Morozovs ist meiner Ansicht nach unterkomplex: Es gibt vielmehr Wechselwirkungen. Die Möglichkeiten von Technologie verändern das Verhalten von Menschen, auch wenn sie selbst natürlich wiederum Ursprungsbedingungen haben. Das eine schließt das andere nicht aus.
  3. Die Diskussion und Interpretation des Internets ist in einen größeren Theorierahmen eingebettet, also nie frei von Ideologie, nie objektiv.

Mit diesen drei Punkten hat Morozov Recht. Aber er ignoriert, dass er damit nicht alleine steht. Er entwirft Strohmänner, indem er aus Texten von Johnson, Shirky und Jarvis selektiv Abschnitte rauspickt, die dafür geeignet sind, zu zeigen wie naiv diese Intellektuellen sein sollten. So richtig vieles von dem ist, was er sagt, so selbstverständlich ist es für die Menschen, die übers Internet vertieft nachdenken.

Präventive Polizeiarbeit mit Facebook

In einem Auszug aus seinem neuen Buch hält Evgeny Morozov fest, wie Algorithmen, Daten und Social Media dazu führen könnten, dass Verbrechen verhindert werden können, bevor sie begangen werden – und kritisiert diesen Zugang zugleich.

»Predictive Policing« wertet statistisches Wissen über Kriminalität systematisch aus. So können beispielsweisen die Ressourcen der Polizei gezielt  dort eingesetzt werden, wo die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass es zu gewaltsamen Übergriffen kommt. Einbezogen werden aber auch real-time Daten: In den USA gibt es in den Städten ein Netzwerk von Mikrofonen und Kameras, die z.B. Schüsse sofort melden, Autokennzeichnen überprüfen und mit großen Rechnern diese Daten in Verbindung bringen.

Cover des Buches von Morozov.
Cover des Buches von Morozov.

Das Problem sind dabei, so Morozov, die Algorithmen: Auch wenn sie als objektiv wahrgenommen werden, sind sie es wahrscheinlich nicht. Die fehlende Transparenz, die nötig ist, um den Vorteil der maschinellen Verfahren zu sichern (wenn Verbrecher die Algorithmen einsetzen könnten, dann wären sie teilweise nutzlos), führt dazu, dass eingebaute Vorurteile (z.B. über Rassen, soziale Schichten etc.) nicht erkannt werden können und versteckt eine immense Wirkung entfalten. Ein weiteres Problem sind die Dunkelziffern: Die Statistiken, auf denen die Algorithmen beruhen, erheben nur die erfassten Verbrechen, nicht aber die der Polizei nicht bekannten. Dieser Effekt verstärkt sich durch die maschinelle Verarbeitung.

Soziale Netzwerke setzen ebenfalls auf »Predictive Policing«: Um dem Vorwurf zu entgehen, Verbrechern zu erleichtern, durchsuchen Facebook und ähnliche Anbieter die Daten ihrer Nutzer systematisch nach Auffälligkeiten (z.B. alle Kontakte sind minderjährig, spezielle Keywords für Drogenhandel, Vergewaltigung etc.)

Daraus konstruiert Morozov seine Kritik:

    1. Private Internetfirmen müssen sich nicht an die Verfahrensregeln halten, die Menschen in Staaten vor der Staatsgewalt schützen – sie können sie also systematisch überwachen. 
    2. Während heute vor allem problematische Äußerungen die Grundlage für einen Verdacht darstellen, können mit der Verarbeitung großer Datenmengen auch unproblematische Äußerungen die Basis für einen Verdacht darstellen:

      Thus, even tweeting that you don’t like your yoghurt might bring police to your door, especially if someone who tweeted the same thing three years before ended up shooting someone in the face later in the day.

Das Fazit: Der Nutzen von »Predictive Policing« ist überzeugend. Es muss aber verhindert werden, dass diffuse und unfaire Methoden im großen Stil eingesetzt werden und so unschuldige Menschen gefährden. Das kann nur geschehen, wenn die Verfahren der Polizei überprüft werden können und transparent sind.