Protokoll einer Schuldiskussion: Verschiebt Medienkonsum gesunde Grenzen?

Im Rahmen des Medienkundeunterrichts erhielt eine Klasse von 18-jährigen Schülerinnen und Schülern der Auftrag, eine Rezension über ein Programm vom Fantoche-Festival zu schreiben. Als Vorbereitung befassten wir uns mit Animationstechniken sowie der Kultur und Geschichte des modernen Japans. Danach besuchte die Klasse individuell einen Film oder eine Filmsammlung aus dem Japan-Schwerpunkt »What’s Going on Japan«.

Die erste Reaktion war, dass die Filme zu abstrakt und zu wenig linear erzählt seien, um darüber schreiben zu können. Darauf reagierte ich mit dieser Anleitung. Eine zweite Reaktion stellte sich ein: Ein Teil der Klasse zeigte sich zutiefst schockiert über Filme aus dem Sammlung »Girls on the Run«, insbesondere Ketsujiru Juke von Sawako Kabuki und Agitated Screams of Maggots von Keita Kurosaka.

Damit hätten wir (ich und meine Lehrpartnerin) nicht gerechnet. Es war nicht ein reines ästhetisches Missfallen, sondern eine Form von echter Verletztheit. Zwei recht robuste Schüler betonten, sie hätten drei Tage gebraucht, um sich von diesen Filmen zu erholen, mehrere erwähnten, dass sie sich ernsthaft fragten, wie degeneriert die Menschheit sei, wenn sie solche Filme herstelle. Es wurde deutlich, dass wir Erwachsenen beide Filme mit ganz anderen Augen sahen als die Jugendlichen.

Diese Einwürfe versuchten wir in einer Diskussion aufzufangen, in der auch andere Stimmen laut wurden. Es gehe, so meinte eine Schülerin, um die Frage, wo denn individuelle Grenzen lägen. Warum akzeptieren dieselben Schüler unerträgliche psychische und physische Gewalt bei Filmen der Saw-Reihe, aber nicht in kurzen Animationsfilmen?  Offenbar, so das Ergebnis der Diskussion, kann die narrative Einbettung – Spannungselemente, Kontext, Figurenkonstruktion, Funktion im Handlungszusammenhang etc. – die schockierende Wirkung von Gewalt abschwächen.

Das möge alles interessant sein, wandte eine Schülerin ein, aber letztlich würden sich durch die Auseinandersetzung mit solchen Filmen Grenzen verschieben, von denen sie nicht möchte, dass sie verschoben werden. Würde sie sich den Maggot-Film noch zwei oder drei Mal ansehen, dann stieße er sie nicht mehr ab.

Schnell entstand eine Diskussion über verschiedene Grenzen:

  • Computerspiele und Gewaltausübung
  • Palliativpflege und Verletzbarkeit durch Todesfälle
  • Pornographie und sexuelle Präferenzen
  • Konsum von virtueller Gewalt und das Ertragen von Gewalt
  • Erleben von häuslicher Gewalt und das Ertragen von Gewalt

Selbstverständlich gibt es in zu diesen Fragen eine Reihe wissenschaftlicher Ergebnisse. Interessant war hier die differenzierte Haltung der Klasse: Es wurde weder angenommen, dass die Grenzen sich automatisch und schnell verschieben würden, noch wurde bestritten, dass eine Verschiebung denkbar ist. Vielmehr verwiesen einige darauf, dass die Reaktion auch eine Verdrängungs- und Bewältigungskomponente enthalte. Grenzen seien aber auch nichts Selbstverständliches und natürlich Gesundes, sondern können und sollen diskutiert werden. Wer gehemmt ist, kann sich wünschen, dass sich diese Grenze verschiebt.

Für mich ein Beispiel von erfolgreichem Unterricht: Eine Auseinandersetzung anstoßen und begleiten. Ein ermunterndes Zeichen für alle, die denken, Jugendliche seien abgestumpft und würden blind konsumieren.

http://fantoche.ch/de/programm/girls-run

Die Jugend Japans als Beispiel

Japan ist sowohl demografisch wie auch in Bezug auf die digitale Kommunikation ein extremes Beispiel – aber auch ein lehrreiches. Es zeigt eine junge Generation, die in schwierigen Bedingungen aufwächst, von Medien und älteren Menschen aber gleichzeitig wenig Respekt erfährt, sondern als moralisch verkommen und faul abgewertet wird.

Neben so genannten NEETs (Not in Education, Employment or Training), also Jugendlichen, die sich nicht in die Arbeits- oder Bildungswelt integrieren, geben besonders Hikikomori Anlass zur Sorge. Dabei handelt es sich um Jugendliche, die ihr eigenes Zimmer nicht mehr verlassen und sich dabei oft auch in medialen Welten verlieren oder orientieren.

Die Kluft zwischen einer immer größer werdenden Generation von Senioren und einer schrumpfenden Generation Jugendlicher, kann in Japan an der erstaunlichen Tatsache festgemacht werden, dass 2012 erstmals mehr Windeln für inkontinente Erwachsene verkauft wurden als für Babys. Die Geburtenrate von 1.4 Kindern pro Frau steigt zwar in Japan leicht an, reicht aber bei weitem nicht aus, um die Bevölkerung von 120 Millionen zu halten. Prognosen gehen davon aus, dass sie sich bis 2060 um einen Drittel reduzieren wird.

Anteil der Digital Natives 18-34 an der Gesamtbevölkerung, Quelle
Anteil der Digital Natives 18-34 an der Gesamtbevölkerung, Quelle

Der große Abstand zwischen den Generationen schlägt sich auch digital nieder: Während in Japan 99.5 Prozent der Jugendlichen als »Digital Natives« bezeichnet werden können, womit das Land weltweit die Spitzenposition einnimmt, ist der Anteil dieser Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung mit 9.6 Prozent vergleichsweise klein, was durch die Demografie Japans zu erklären ist.

Demografie und die starke Präsenz digitaler Medien im Leben Jugendlicher führt nun nach Ansicht von Expertinnen und Experten dazu, dass diese immer stärker darauf verzichten, romantische und sexuelle Beziehungen einzugehen. 50 Prozent der erwachsenen Frauen und 60 Prozent der erwachsenen Männer unter 34 befinden sich nicht in einer Beziehung – ein Wert, der sich in den letzten fünf Jahren um 10 Prozent erhöht hat. 45 Prozent der jungen Frauen und 25 Prozent der jungen Männer geben an, kein Interesse an Sex zu haben.

Eri Tomita ist eine 32-jährige Japanerin, die in der Personalabteilung einer Bank arbeitet. Sie sagt:

»Mein Leben ist großartig. Ich gehe mit Freundinnen aus, alles Karrierefrauen wie ich. Wir essen in französischen und italienischen Restaurants. Ich kaufe stilvolle Kleider und kann mir schöne Ferien leisten. Ich liebe meine Unabhängigkeit. […] Oft werde ich von verheirateten Männern im Büro angesprochen, die gerne eine Affäre hätten. Sie nehmen an, ich sei verzweifelt, weil ich Single bin. Mendokusai

Quelle

Mendokusai heißt übersetzt, dass etwas zu anstrengend oder mühsam für einen sei. Es ist ein Ausdruck, den die Gesprächspartnerinnen und –partner von Abigail Haworth, welche die sexuelle Enthaltsamkeit der jungen Erwachsenen in Japan untersucht hat, immer wieder bemühen, um zu erklären, weshalb sie weder erotische noch romantische Kontakte besuchen. Die Gründe dafür sind in verschiedenen Bereichen zu suchen: Obwohl die japanische Kultur praktisch keine religiösen gesellschaftlichen Normen kennt, ist es für Frauen praktisch unmöglich, eine anspruchsvolle Arbeit mit dem Leben als Mutter zu verbinden. Viele Berufe sind so anspruchsvoll, dass sie sich nicht  mit einem Privatleben kombinieren lassen. Digitale Welten, die oft in mobilen Computerspielen erkundet werden, enthalten oft breite Möglichkeiten für soziale Kontakte. Eine 22-jährige Studentin erklärte Haworth, sie habe nun zwei Jahre damit verbracht, ein virtuelles Süssigkeitengeschäft zu betreiben, ohne dass sie das als Verlust empfindet.

Auf Jugendlichen lastet ein großer wirtschaftlicher Druck, der von Eltern oft auch digital ausgeübt wird:

Die Angst um die Kinder und vor ihnen erfasst vor allem die Eltern. Dies kann mitunter zu grotesken Reaktionen führen, etwa wenn sich Mütter die Überwachungstechnik zunutze machen, um ihren Kindern auf dem Schulweg virtuell zu folgen. Dafür kann zum Beispiel die elektronische Bahnkarte so aufgerüstet werden, dass sie bei der Entwertung ein Signal auf Mamas Handy sendet und ihr dadurch den Standort ihres Kindes verrät.

Die Krise der japanischen Jugend, deren Symptome die Hikikomori sind, hat wirtschaftliche und soziale Ursachen. Dass Eskapismus verbreitet ist, wenn es keine klare gesellschaftliche Orientierung an Werten gibt und auch harte Arbeit keinen wirtschaftlichen Erfolg garantiert, erstaunt nicht.

Die japanische Gesellschaft unterscheidet sich in vielen Belangen von denen in Europa. Und doch sind einige Tendenzen vergleichbar: Immer mehr ältere Menschen setzen jüngere unter Druck, ohne ihnen aber eine klare Vision von einem erfüllten Leben anbieten zu können. Gleichzeitig beurteilen und verurteilen sie Jugendliche aber recht schnell, wenn sie versuchen, eigene Wege zu finden um mit den Schwierigkeiten in ihrem Leben umgehen zu können.

Zusatz: Hier noch der humoristische Kommentar von Bill Maher und seinen Gästen (FB-Link).