In loser Folge möchte ich als Vorbereitung auf einen Input am Weiterbildungszentrum der Fachhochschule St. Gallen über die Zukunft von Social Media nachdenken. Ein Inhaltsverzeichnis gibts hier.
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Unsere Eltern und Großeltern verstehen viel von technologischem Wandel. Sie haben erlebt, wie Radioapparate mit Hörspielen ganze Familien unterhalten haben, nur um einige Jahre später von Fernsehern abgelöst zu werden, das man später auf Videokassetten aufnehmen konnte, dann auf DVDs und schließlich auf Geräte, die alles können, außer Pancakes backen. Sie haben auf teuren Geräten Schallplatten gehört, sie später auf Kassetten überspielt und dann alle Tonträger in Form von CDs noch einmal gekauft. Sie haben Telefonnummern und Zugverbindungen in dicken Büchern nachgeschlagen oder die Menschen gefragt, bei denen sie auch Fahrscheine gekauft haben, um später von Maschinen bedient zu werden, die sie seit kurzem in ihrer eigenen Tasche mit sich tragen. Sie haben lange auf Briefe gewartet, viele geschrieben. Teure und kurze Telefonate geführt, zuerst von den Apparaten der wohlhabenden Nachbarn aus, später auf eigenen, gemieteten, gekauften, kabellosen. Telegramme und Faxe auf der Post verschickt und empfangen. Fotos mit teuren Apparaten aufgenommen und lange auf die entwickelten Bilder gewartet, eigene Dunkelkammern aufgebaut, farbige Bilder gemacht und schließlich nur noch digitale, die auf Harddisks darauf warten, überhaupt einmal angesehen zu werden.
Wer 50 Jahre im 20. Jahrhundert gelebt hat, hat die Zukunft von technologischem Wandel erlebt und würde sie wie folgt beschreiben:
- Viel Neues wird selbstverständlich.
- Tätigkeiten wandeln sich wenig.
- Wie die Tätigkeiten technisch durchgeführt werden, wandelt sich stark und ständig.
- Die sozialen Implikationen von Technologie werden überschätzt.
- Die durch Technologie beanspruchten Ressourcen (Zeit, Geld) werden unterschätzt.
Stellen wir uns vor, die Technologie wäre 1963 eingefroren worden, dann könnten wir immer noch Bilder machen und sie Freunden zeigen, wir könnten schriftlich und mündlich miteinander kommunizieren und Informationen wären z.B. in Bibliotheken problemlos verfügbar. Einiges wäre im Vergleich zu heute anstrengender und viel langsamer, aber dafür hätten wir vieles gar nie lernen müssen: Keine nächtelangen Optimierungsübungen des RAM-Speichers bei den ersten PCs, keine Datenverluste durch abgestürzte Harddisks, kein Import von Kontakten auf neue Handys, keine Installationen von WLAN, kein Brennen von CDs, überspielen von VHS-Kassetten etc.
In weiteren 50 Jahren – so meine Prognose – wird der Rückblick ähnlich aussehen: Menschen werden Tools, die heute neuartig und voller Potential erscheinen, mit leichter Nostalgie belächeln; aber mit neuen Werkzeugen immer noch schriftliche, mündliche und visuelle Botschaften verschicken. Social Media wird sein wie ein Telefon: Erwachsene werden sie nutzen, als hätte es nie etwas anderes gegeben, Pubertierende werden mit ihren Eltern über die richtige Nutzung streiten und an die Möglichkeit, abgehört zu werden, werden wir uns gewöhnen. (Beeindruckend schon der Rückblick auf das Jahr 2000, das lange eine unvorstellbare Zukunft symbolisierte.)

Das zeigt der Rückblick nämlich auch: Der Briefträger hat Postkarten schon immer gelesen, Telefonleitungen konnten schon immer abgehört werden, Briefe abgefangen und gelesen. Diese Möglichkeiten mögen über Social Media neue Dimensionen annehmen, aber die Gefahr wird wie die damit verbundenen Chancen ständig überschätzt, wie das Beispiel von David Bunnell zeigt:
Ob Google Brumm, ob Internet oder Facebook: Wie kein zweites Mal in der IT-Technologie war die Entstehung des Personal Computers mit der Hoffnung verknüpft, ein Gegenstück zu den totalitären Großcomputern der Konzerne sei gefunden. Er sollte die Menschheit befreien, Gleichheit für alle Rassen, Glaubensrichtungen, Minoritäten und Klassen bringen. Diese erhabenen Sätze schrieb David Bunnell in das Benutzerhandbuch eines der ersten PC, des Altairs der Firma MITS im Jahre 1974. Schon knapp zehn Jahre später zog Bunnell eine pessimistische Bilanz: „Anstelle die Standesunterschiede zu zerstören, hat der PC ein neues Kasten-System geschaffen, basierend auf dem privilegierten Datenzugriff. Er hat eine Art Berliner Mauer aus Drähten geschaffen, die die informationstechnisch Verarmten ausgrenzt.“
Menschen gewöhnen sich an Technologie und die Unsicherheiten, die sie mit sich bringt. Sie können vieles ausblenden. So werden sie – das meine Prognose – auch mit Algorithmen und Robotern leben können. Einige werden sie wie Mitmenschen behandeln und es letztlich nicht so relevant finden, ob sie im Krankenhaus von einem Menschen oder einem Roboter gepflegt werden, andere werden sie als störend empfinden und weitere einfach benutzen.
Die Zukunft wird auch zeigen, dass »Social Media« ein Euphemismus ist. Social bedeutet nicht, dass diese Medien auf die Gesellschaft und ihre Organisation bezogen sind, sondern einfach, dass Beziehungen messbar und verarbeitbar werden. Das gilt selbstverständlich auch für die negativen Seiten von Social Media, wie Passig und Lobo festhalten:
Wenn wir im negativsten Fall annehmen, dass gar nicht zu unterscheiden ist, ob im Netz echte Empathie wirkt oder nur aus narzisstischen Gründen vorgetäuschte Empathie: Das gilt außerhalb genauso. Wenn das Netz schlecht und unsozial sein soll, ist es die Welt auch.
Du warst im Wald. Du hast alle Bäume gesehen, beschrieben und manche schön gefunden. Die schönsten möchtest du gerne mit nach Hause nehmen und dort aufstellen. Es wird nicht möglich sein. Du hast vergessen, dass die Bäume nicht einzeln vor sich hinleben, sondern in ihrem (öko-)System Wald, du hast nur ihre jeweilige Besonderheit gesehen, nicht den Wald. Du könntest die einzelnen Bäume (Elemente des Systems) nur in Form von Möbeln zuhause aufstellen. (Aber das ist wieder ein anderes Thema …) 😉
Jetzt bin ich gerade etwas verunsichert: Meinst du mit »du« mich oder oder ein lyrisches Du?
Wenn mich, dann wäre die Kritik, dass ich mit einem zu groben Raster operiere, das viele relevante Bezüge ausblendet. Darüber denke ich gerne nach.
sorry, ja, ich meine schon deine (heutige hier geäußerte) Sichtweise, die – so meine ich – die einzelnen Geräte (Elemente) ausgekoppelt aus ihrem systemischen und ihrem historischen Zusammenhang betrachtet. Unabhängig von der Tätigkeit und den Sozialbeziehungen, und unabhängig von den historisch konkreten Verhältnissen usw. Ich war 1963 schon öffentlich lernend unterwegs. Meine Tätigkeiten, Lerngelegenheiten und Kommunikationen waren damals limitiert durch die damalige Medienkonstellation und das, was die damalige Gesellschaft draus machen konnte. Auch heute gibt es Limitierung durch die heutige Konstellation. Aber es ist eine ganz andere Limitierung. Und so habe ich auch andere Tätigkeiten, andere Art und Weise von Tätigkeiten, andere Art und Weise der Kommunikation, andere Inhalte, andere Reichweiten etc.
So habe ich das auch verstanden. Meine These wäre gerade, dass Tätigkeiten, Beziehungen und historische Verhältnisse sich weniger stark ändern, als der sichtbare technologische Wandel suggerieren könnte. Aber natürlich ist meine Sicht eine stark limitierte – wie gesagt denke ich gerne darüber nach.