Lobos Fake-Rezension: Ein Nachtrag

Heute wäre der Tag, an dem auf der Frankfurter Buchmesse Cybris von Carol Felt vorgestellt werden müsste – der Roman, den Sascha Lobo Ende September im Spiegel euphorisch besprochen hat. Seine Rezension, so mein Fazit damals, sei klar als Fake erkennbar und gleichwohl ein wichtiger Netztext.

Reaktionen anderer auf den Text blieben aus. Erst gestern publizierte Radio Berlin Brandenburg einen Beitrag von Anke Fink dazu. Dort wird Detektivarbeit geleistet:

Nur sind Zweifel angebracht. Obwohl Lobo in einem Video-Interview mit dem „Spiegel“-Autor Volker Weidermann das Buch real in den Händen hält, gibt es weder eine ISBN-Nummer, die Bücher in Deutschland nun mal zwingend brauchen, noch eine englische gedruckte Vorlage, die ja die Basis für das deutsche Buch sein müsste.


Lobo mit Cybris – Screenshot RBB

Heute zog im Handelsblatt  in der Medienmacher-Kolumne nach. Lobo lasse »eine kleine Bombe platzen«, schreibt er.

Lobo will mit der Aktion zeigen, dass selbst hanebüchener Blödsinn als solcher nicht weiter auffällt, sobald er in einem etablierten seriösen Medium erscheint.

Zu dieser Absicht stellt Renner kritische Fragen:

Dennoch hat sich bisher noch kein Medium so recht getraut, Lobos Rezension als das zu benennen, was sie ist: eine Fälschung. […] Liegt die Zurückhaltung tatsächlich daran, dass man einer Publikation der Marke „Spiegel“ mehr glaubt als anderen, insbesondere dann, wenn Autoritäten wie Weidermann und der selbst längst zum Kultur-Establishment zählende Lobo für ein frei erfundenes Stück wie die „Cybris“-Rezension bürgen? Vielleicht ist dem so. Möglicherweise fand aber auch der eine oder andere Journalist die Sache mit der ausgedachten Buchkritik einfach zu läppisch, um sich darüber zu echauffieren.

Wie ich meiner Rezension geschrieben habe, bin ich der Meinung, dass Renner wie auch Fink den zentralen Punkt verpassen. Das Rätsel, ob es das Buch gibt oder nicht, war nicht schwer zu lösen. Interessanter ist die Frage, was den wirklich die Absicht war. Zu zeigen, wie Medienmarken wirken, wäre allenfalls Gegenstand einer Schülerarbeit – zu zahlreich sind die Beispiele, dass das Publikum und der Betrieb etablierten Publikationen viel Falsches abkaufen, wenn es richtig präsentiert wird. Nur fand das hier ja gar nicht statt – es gab keine weiteren Rezensionen, aus bei Turi2.de keine Verweise auf die Lobo-Rezension. Das Echo blieb im kritischen wie im positiven Sinne aus.

Entscheidender scheint mir deshalb die größere Aussage des Lobo-Texts:

Die mehrfache Cyber-Hybris. Lobo attackiert mit seiner Rezension gleichzeitig den etablierten Feuilleton-Betrieb, dessen wichtigste Textsorte er persifliert, und die selbstgefälligen Kreise der digitalen Expertise, die jedes neue Phänomen im Netz zu analysieren verstehen und doch alle Entwicklung hilflos mitvollziehen.

Nachtrag:

Lobos Fake-Rezension ist der Netztext des Jahres – eine Würdigung

Ungefähr wie jemand mit einem Hammer in allen Problemen einen Nagel sieht, möchten Buchleute unbedingt ein Buch, das ihnen die Welt erklärt. Zehntausend kluge, erkenntnissatte, sogar unterhaltsame Artikel reichen nicht, es muss ein Buch sein. Und zwar möglichst ein erzählender Roman und kein schnöde analysierendes Sachbuch. Sterne beobachtet man ja auch am besten, indem man knapp danebenschaut.

Mit dieser Bemerkung leitet Sascha Lobo eine Rezension von Carol Felts Roman »Cybris« ein. Der Titel, so Lobo, sei eine »schlichte Mischung aus ‚Cyber‘ und ‚Hybris’«. Damit ist das Thema vorgegeben: Die mehrfache Cyber-Hybris. Lobo attackiert mit seiner Rezension gleichzeitig den etablierten Feuilleton-Betrieb, dessen wichtigste Textsorte er persifliert, und die selbstgefälligen Kreise der digitalen Expertise, die jedes neue Phänomen im Netz zu analysieren verstehen und doch alle Entwicklung hilflos mitvollziehen.

Die meisten können ein paar Schlagworte zu sinnvoll scheinenden Sätzen verbinden, um sich das Nicken der restlichen Ahnungsloseria abzuholen. Aber ein tieferes Verständnis dafür, was zur Hölle eigentlich passiert, fehlt. Und zwar wahrscheinlich allen, jedenfalls allen, die sich öffentlich äußern (mir wohl auch).

Die Pointe der Rezension: Es gibt weder Carol Felt noch ihren Roman. Zwar gibt es sowohl den Twitter-Account, auf den Lobo verweist – »Sie twittert unter @carol_felt1 wie eine Gestörte, die so tut, als würde sie die Gestörte nur spielen. Wer soll das alles glauben?« -, als auch eine Webseite des Verlags (»Verlag der Illusionen«).

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Liest man dort weiter, geht einem schnell ein Licht auf: Felt hat im September mit ihren Twitter-Aktivitäten begonnen, der Verlag gibt gerade das erste Buch heraus. Er sucht im Netz nach »Rohdiamanten«, veröffentlicht sie aber nur als »Buchwerke«:

Amazon ist böse und zerstört die Buchkultur. Autoren, deren Werke über Amazon vertrieben werden, interessieren uns nicht.

Twitter, Homepage und die Print-Rezension ergeben ein performatives Gesamtkunstwerk. Es stellt den Leser oder die Leserin – Felts »icherzählende Person« kann keinem Geschlecht zugeordnet werden – vor einen Kompetenztest, lässt ihn ein Rätsel lösen. Wenn Lobo schreibt, Felt töte »ausnahmslos jedes einzelne Zitat« und das im Detail beschreibt, dann tut er das nicht nur selbst, sondern tötet den ohnehin toten Roman, die tote Rezension und den toten Hyperlink gleich auch noch einmal mit.

Beinahe hätte ich mich zu der Dummheit hinreißen lassen, die ich erst jetzt als Dummheit erkannt habe, nämlich öffentlich zu behaupten, dass man den großen Digitalroman gar nicht schreiben könne. Jedenfalls nicht als Roman. Um ein Haar hätte ich behauptet, dass irgendwann sicherlich ein Computerspiel herauskäme, „GTA 12 Detroit“ oder so, das irgendwie alles begreifbar machen könne – aber doch kein Roman.

Man könnte leicht denken, dass es im Kern nur um diese Aussage gehe: Zu zeigen, dass die Zeit der Romans abgelaufen und die Zeit der digitalen Kunst gekommen sei. Aber so wenig es etwas nützt, »ein Jahr in einem Google-Server zu wohnen«, so leer ist auch die Hoffnung, das Problem werde begreifbar. Leere Verweise wie die Lobo-Rezension werden noch Jahre hinter Paywalls gepackt und über Blendle und andere Heilsbringer wieder ins Netz überführt (wenn jemand eine Privatkopie der Rezension möchte, kann ich die per Mail verschicken). Dort werden dann Debatten in »kluge, erkenntnissatte, sogar unterhaltsame Artikel[n]« geführt, die allerdings nur sagen werden, dass alles »ganz anders [ist] als man denkt. Natürlich ganz anders.« Es spielt keine Rolle mehr, ob es die Bücher, die man bespricht, überhaupt gibt, ob Verlage Bücher übersetzen, lektorieren, oder nur so tun (»Keine_r unserer Autor_innen spricht auch nur eine Silbe deutsch, was die Ausübung der Texthoheit durch uns enorm vereinfacht.«).

Lobos Text ist großartig, weil mit uns das macht, was die digitale und analoge Debatte tun – und uns doch rauslocken möchte, im Wissen darum, dass es da draußen gar nichts gibt. Er überschreitet die Grenzen, indem er einen Netz-Text im Print-Spiegel platziert, der erst im Netz seine Wirkung entfalten könnte (und damit sofort verlieren würde.) Wie der Verlag der Illusionen bedarf jede heute von digitalisierten Prozessen unabhängige Position der Finanzierung durch eine »nicht genannt werden wollende, private Stiftung im Hintergrund«. Und wie Lobo als Marke unverwechselbar auftritt, aber von einem Netzwerk kluger Personen getragen wird, stecken wohl auch hinter seinem Projekt ganz viele schlaue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Digitalisierung zerstört den Wert von Arbeit. Wie leistet man Widerstand?

Selber schuld, wer sich dem Heil verweigert, das der Geldautomat aus Silicon Valley verspricht. Aus der »Ökonomie des Teilens« auszuscheren, wird früher oder später als Wirtschaftssabotage und Verschwendung kostbarer Ressourcen angesehen werden, die, nutzbar gemacht, das Wirtschaftswachstum beschleunigen können. Am Ende wird die Weigerung, zu »teilen«, ebenso viele Schuldgefühle auslösen wie die Weigerung, zu sparen oder zu arbeiten oder seine Schulden zu bezahlen, und wieder einmal wird der dünne Firnis der Moral dazu dienen, die Ausbeutung zu verschleiern. So ist es nur folgerichtig, dass die weniger Glücklichen, die bereits unter der Last der Sparpolitik ächzen, ihre Küchen in Restaurants, ihre Autos in Taxis und ihre persönlichen Daten in Vermögenswerte umwandeln.

Evgeny Morozov weist wie viele andere Intellektuelle auf das Problem hin, das direkt mit der Digitalisierung verbunden ist: Die Effizienz digitaler Werkzeuge führt zu einer prinzipiellen Verfügbarkeit von allen Gütern und Dienstleistungen. Bislang erschien das denen, die davon profitieren konnten, als Verheißung: Für 5 Dollar kann man bei Fivver erstaunliche Dienstleistungen einkaufen, auf Plattformen wie Ricardo oder eBay kann man jederzeit Flohmarkt abhalten, bei dem Käufer und Verkäufer optimal miteinander in Verbindung gebracht werden, Amazons Mechanical Turk macht sogar Intelligenz zur verkaufbaren Ressource.

Diese Effizienz bedroht – das sieht Morozov ganz richtig – direkt die Privatsphäre, die nach heutigen Vorstellungen immer mit der Möglichkeit zusammenhängt, über Räume und Gegenstände exklusiv verfügen zu können. Aber sie bedroht noch stärker den Wert von Arbeit. Um das zu verstehen, muss man sich einige Prozesse vor Augen halten:

  1. Business Process Reengineering, Qualitätsmanagement und der Siegeszug von SAP haben in den 1990er-Jahren dazu geführt, dass jeder Arbeitsschritt in einem Unternehmen definiert und letztlich segmentiert wird. Die Arbeitskraft wird austauschbar – weil klar ist, was ihr Ersatz leisten muss.
  2. Die Kompetenzorientierung (in Lehrplänen, Ausbildungsgängen etc.) hat dazu geführt, dass auch Bildung in ähnliche Segmente zerfällt und Menschen an Arbeitsprozesse anpassbar werden.
  3. Das Modell der großräumigen Auktion führt zu einer permanenten Konkurrenzsituation.
  4. Digitale Kommunikation erlaubt es, soziale und wirtschaftliche Kontexte auszublenden.

Das Resultat: Wenn ich eine Arbeit weiterverkaufen kann, kann ich sie in Teilschritte aufteilen, entsprechende Kompetenzen definieren und diese digital zur Auktion ausschreiben, ohne berücksichtigen zu müssen, unter welchen Umständen die Arbeit erbracht wird. So finde ich die günstigsten Arbeitskräfte und verdiene am meisten.

Der Prozess beißt sich aber in den Schwanz, wie wir gleich sehen werden. Momentan sind die, welche von digitaler Arbeitsbewältigung profitieren, gut gebildete Mittelstandsmenschen aus westlichen Ländern. Habe ich eine tolle App-Idee, finde ich – per Auktion – ein paar Pakistani, welche mir die App programmieren, mit der ich dann möglicherweise ein Vermögen verdiene. Und ohne tolle App-Idee kann ich per Renovero jemanden finden, der meine Wohnung für ein paar Franken putzt. So jammern jetzt viele innovative digitale Menschen darüber, dass in Deutschland Uber verboten worden ist. Die Firma steht in Konkurrenz zu etablierten Taxi-Betreibern, indem sie mit großen Investitionen eine App vermarktet, mit der private Autobesitzer Taxiaufträge erhalten können. Das bietet Kundinnen und Kunden einige Vorteile: Sie kommen kommen oft günstiger zu einer besseren Dienstleistung.

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Flickr/Doerky, CC-BY-ND.

Wer bezahlt den Preis? Es wäre zu schön, ginge es nur um eine Ineffizienz im System. Selbstverständlich bringt es wenig, wenn Taxis sich in Großstädten an wenigen Orten versammeln, statt flexibel Routen zu planen. Aber letztlich geht es um mehr: Das Prinzip-Uber führt dazu, dass der Preis für die Dienstleistung fast beliebig gedrückt werden kann. Die Diagnose von Torsten Larbig in Bezug auf die Hilflosigkeit der etablierten Branchen ist sicher korrekt:

[Der] Versuch der Interessenvertretung der Taxi-Zentralen [Uber verbieten zu lassen] ist nur einer mehr, der zeigt, dass längst nicht jeder verstanden hat, dass wir es mit einem grundlegenden digitalen Strukturwandel zu tun haben, dessen Auswirkungen sicherlich so gravierend sein werden, wie der Wandel des Ruhrgebietes in den vergangenen Jahrzehnten, aber nicht nur eine Region, sondern die gesamte Gesellschaft betreffen werden.

Besitzstandswahrer haben im Kontext dieses Strukturwandels keine Ideen. Sie sehen nur, dass da etwas Neues am Entstehen ist und reagieren reflexartig mit Versuchen, die als Indizien der Veränderung zu verstehenden Entwicklungen zu verbieten – und fallen absehbar auf die Nase.

Denken wir den Strukturwandel weiter, so bleibt keine Arbeit davon verschont. Auch wenn wir alle im Glauben leben, eine einzigartige Tätigkeit zu verrichten, welcher die Digitalisierung nichts anhaben kann: Irgendwo gibt es jemanden, der oder die große Teile unserer Arbeit schneller, besser und günstiger erledigen kann und will.

Wir stehen in Konkurrenz zu allen, die Segmente unserer Arbeit verrichten können. Bezahlt werden sie nur, wenn das Resultat stimmt, ihre Eignung für die Aufgabe ist dank Kompetenzmodellen sicher gestellt. Sascha Lobo spricht von einer Dumpinghölle. Zurecht.


 

Was können wir tun? »Es ist gerade diese gefühlte Freiheit, die Proteste unmöglich macht«, schreibt Byung-Chul Han in einem lesenswerten Essay. Wir wollen ja hochwertige Dienstleistungen zu tiefen Preisen, weil die unsere Lebensqualität steigern. Gleichzeitig schaffen wir damit die Bedingungen, selbst auch Teil dieser Dumpinghölle zu werden und unseren Vorteil einzubüssen.

Wir müssen lernen, Arbeit einen Wert zuzumessen und sie nicht als Produkt, sondern als menschliche Handlung zu verstehen. Hinter der Arbeit steckt ein Mensch, der davon ein gutes Leben führen soll. Diese Maxime muss uns auch dann leiten, wenn die globalen Produktions- und Kommunkationsmechanismen die Arbeit immer weniger sichtbar machen.

Üben kann man im Restaurant. In der Gastronomie verdienen alle Angestellten gerade mal so viel, dass sie die Suppe nicht vergiften. Jede zusätzliche Einnahme resultiert aus Trinkgeldern. Was ist ein faires Trinkgeld? Ganz einfach: Die Differenz zwischen dem bezahlten Minimallohn und einem angemessenen Stundenlohn. (Durch die Anzahl Tische teilen muss man nicht, weil das Trinkgeld ja nicht einer Person, sondern mehreren bezahlt wird.) In der Schweiz wäre ein angemessenes Trinkgeld also 15 Franken pro Stunde Anwesenheit im Lokal.

Es sind weitere Übungen denkbar: Dem Putzpersonal einen fairen Lohn zahlen. Echte ausgebildete Handwerkerinnen und Handwerker beauftragen, etwas für einen zu erledigen.

Wer Preise drückt, schafft nämlich Freundlichkeit ab, wie Han treffend schreibt:

Es ist keine zweckfreie Freundlichkeit mehr möglich. In einer Gesellschaft wechselseitiger Bewertung wird auch die Freundlichkeit kommerzialisiert. Man wird freundlich, um bessere Bewertungen zu erhalten.

#filtertipps 2: Algorithmen

Orientierung und Konzentration erfordern bei digitalen Informationen eine Reihe von Kompetenzen, die man englisch »digital literacy« nennt. Filterkompetenz ist ein wichtiger Bestandteil: Die Fähigkeit, nicht relevante Informationen und Inhalte mit Filtern unsichtbar zu machen. Die analoge Welt nutzt viele Filter: Inhaltsverzeichnisse bei Büchern, Kataloge in Bibliotheken, Register, Redaktionen von Zeitungen etc. haben neben vielen anderen Funktionen auch die Aufgabe zu filtern. 

In einer losen Serie möchte ich hier Techniken und Werkzeuge vorstellen, mit denen digitale Informationen gefiltert werden können. Das ist der zweite Teil, im ersten ging es um Zeit als Filtermethode

* * *

[Mir war vor allem zuwider, dass] Facebook für mich die Entscheidung traf, wie die Welt für mich aussieht. Denn Facebook tut viel mehr als nur eine Blase aus Gleichgeschalteten zu bilden. Facebook verstümmelt. Es verstümmelt meine Wahrnehmung von der Welt, es verstümmelt die Charaktere meiner Kontakte, es verstümmelt meine eigene Vielseitigkeit.

Diese Feststellung von Meike Lobo, mit der sie begründet, weshalb sie auf Facebook verzichtet, ist Menschen in letzter Zeit stärker ins Bewusstsein gerückt. Die Ankündigungen von Twitter, Inhalte ebenfalls mittels Algorithmen auszuwählen, haben zu starken Protesten geführt. An Twitter schätzen viele User, dass sie (neben wenig Werbung) alles – und nur das – sehen, was ihre Kontakte teilen (und zwar in chronologischer Reihenfolge). Bei Facebook zeigt der Stream die Inhalte an, von denen schlaue Programme denken, sie könnten für mich interessant sein: Weil ich auf solche Inhalte reagiere, weil sie von Menschen stammen, mit denen ich viel kommuniziere oder weil andere User damit etwas anfangen konnten.

Wer sich das bewusst machen möchte, sollte sich einmal statt den »Hauptmeldungen« die »Neuesten Meldungen« anzeigen lassen. Dann erscheinen viele Beiträge, die in der Regel verborgen sind – und zwar auch wieder in chronologischer Reihenfolge.

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Die Algorithmen filtern. Sie machen Informationen unsichtbar und gewichten die verbleibenden für uns. In einem FB-Kommentar zum Post seiner Frau schrieb Sascha Lobo:

Hier in den Kommentaren erwarte ich bitte mindestens ein Dutzend altkluge Kommentare, die erklären, wie man ihr Grundproblem mit Facebook mithilfe von Listen, Gruppen, einer kanadischen App und fünf Tagen Sortierarbeiten supersimpel lösen kann.

Damit wies er darauf hin, dass algorithmische Filter zwar auch selbstbestimmt genutzt werden könnten, damit aber

  1. viel technisches Know-How
  2. eine große Zeitinvestition
  3. weitere Algorithmen von Dritten

verbunden sind. Tatsächlich gibt es schon bei Facebook die Möglichkeit, den maßgebenden Algorithmen mitzuteilen, wie sie funktionieren sollten. Nur ein Beispiel dafür: Der Pfeil auf der rechten Seite von FB-Beiträgen. Er erlaubt mir, dem Filteralgorithmus konkrete Regeln zu diktieren.

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In einem lesenswerten Beitrag erklärt Zeynep Tufekci, warum ihrer Meinung nach Twitter beim heutigen System blieben sollte. Sie bringt drei Schlüsselargumente an:

  1. Das menschliche Urteil ist oft besser und wichtiger als das von Algorithmen.
    Bsp.: Als amerikanische Soldaten Osama Bin Laden getötet hatten, bereite das Weiße Haus eine Pressekonferenz vor – ohne dass jemand wusste, worum es dabei gehen sollte. Der brisante Inhalt wurde schon vorher durch einen unauffälligen Mitarbeiter über Twitter kommuniziert – worauf ein findiger Journalist der Nachricht das nötige Gewicht gab. Ein Algorithmus hätte diesen Tweet nie prominent eingeblendet. 
  2. Algorithmen führen zu einer Stärkung des Matthäus-Effekts: »Wer hat, dem wird gegeben.« Algorithmen geben den Usern mehr Platz, die ohnehin schon gut wahrnehmbar sind. Das geht auf Kosten aller anderen.
  3. Algorithmen provozieren eine Verhaltensanpassung: Menschen versuchen Inhalte so zu präsentieren, dass Facebook sie anderen auch anzeigt. Dadurch kommunizieren sie aber schlechter und ineffizienter.
    Bsp.: FB zeigt zumindest im englischen Sprachraum Meldungen mit »Congratulations« viel prominenter an als andere. Diese Eigenschaft lässt sich gut ausnutzen

Mir scheint da wesentliche Problem die Allgemeinheit von Algorithmen zu sein. Wir alle nutzen dieselben – nämlich die, welche uns Facebook anbietet. Algorithmische Filter sind dann kein Problem, wenn es meine Filter sind, die meine Urteile und meine Erfahrung enthalten. Dann sind es letztlich nur Abwicklungen von Routinearbeiten, die wir bei der Sortierung unserer Briefpost oder bei der Lektüre der Tageszeitung täglich erledigen. Man darf nicht vergessen, dass es der Einsatz von Algorithmen Unternehmen schwerer macht, ein Zielpublikum umstandslos zu erleichtern – weil Algorithmen Spam recht zuverlässig unsichtbar machen.

Meine Anleitung wäre also folgende:

  1. Auf den genutzten Plattformen die Möglichkeiten nutzen, um Filter zu personalisieren.
  2. Programme einsetzen, die algorithmisches Filtern erlauben. Anfangen kann man gut mit E-Mail-Apps: Hier lassen sich mit Filtern Postfächer einrichten, die komplexen Regeln gehorchen. Die einfachste Übung: Sich zu fragen, welche Mail ich immer lesen will – sie stammen von einer bestimmten Person, enthalten bestimmte Begriffe, treffen zu bestimmten Zeiten ein etc. Oder welche ich sicher nie lesen würde.
  3. Sich allgemeinen Algorithmen nicht unterwerfen, sondern sie hintergehen und manipulieren, um sie zu persönlichen zu machen.

»Wir haben uns geirrt«, meint Sascha Lobo.

Ich spüre eine Kränkung. Sie hängt mit meinem Irrtum zusammen, der Spähskandal zwang mich zu erkennen: Das Internet ist nicht das, wofür ich es gehalten habe. Nicht das, wofür ich es halten wollte.

Mit diesen Worten leitet Sascha Lobo seinen Feuilleton-Text in der FAZ am Sonntag ein, der gestern erschienen ist. Der Internetexperte streut Asche auf sein Haupt. Einzugestehen, man habe sich geirrt – größere rhetorische Gestern sind kaum zu finden. Lobo überbietet sie aber noch, indem er sich in eine Reihe mit Kopernikus, Darwin und Freud stellt: Sie alle haben mit nüchternem Verstand erklären können, warum die Welt nicht so ist, wie der Mensch sich wünscht, sie wäre. Nach der Aufklärung über das Universum, die biologische Abstammung und unsere Psyche geht es nun um das »Internet«. Lobo: »Was so viele für ein Instrument der Freiheit hielten, wird aufs Effektivste für das exakte Gegenteil benutzt.«

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Was meint Lobo mit dem, was er »Internet« nennt? Meint er eine Infrastruktur? Meint er eine Art zu kommunizieren? Meint er Computer, mit denen Menschen sich vernetzen?

Nehmen wir zu David Weinberges Verständnis von Web aus seinem Vorwort zu Small Pieces Loosley Joined, das Martin Lindner verdankenswerterweise übersetzt hat:

Jede unserer sozialen Handlungen passt sich unterschwellig den geographischen und materiellen Fakten der wirklichen Welt an. Aber das Web ist eben eine unnatürliche Welt. Eine Welt, die wir für uns selbst gebaut haben. Die Gegebenheiten der Natur sind hier ausgeklammert. Deshalb können wir gerade erst im Spiegel des Web erkennen, wie viel von unserem sozialen Wesen gar nicht von der Natur der wirklichen Welt abhängt, sondern nur von uns selbst. Das Web konfrontiert uns einem unhintergehbarem Fakt anderer Art: Wir sind Kreaturen, die sich um sich selbst sorgen, und um die Welt, die wir mit den anderen teilen. Wir leben in einem größeren, bedeutungsvollen Kontext, und unsere Welt ist viel reicher an solchen Bedeutungen, als wir uns vorstellen können.

Damit ist nur gesagt, dass das Web einen Raum für uns bereit hält, in dem wir sozial handeln können, ohne die Bedingungen natürlicher Voraussetzungen akzeptieren zu müssen. Muss dieses Verständnis um die Angabe ergänzt werden, dass es sich dabei auch um »ein perfektes Instrument« handelt, »um einen Sog privatester Informationen ins Internet zu erzeugen« und uns so zu überwachen? Überwachen, abrufen von privaten Informationen, Ausüben von Macht und Kontrolle – das sind doch alles soziale Handlungen, die Menschen auch oder gerade in den Welten vornehmen, die sie konstruieren können.

Edward Snowden, Held des Internets, bringt die Botschaft, dass mit dem geliebten Internet die gesamte Welt überwacht wird.

Zu denken, ein »Held des Internets« würde die Botschaft bringen, dass »der Streit ums Urheberrecht im Internet  2013 zur allerseitigen Zufriedenheit aufgelöst« werden wird – was Lobo offenbar wirklich gedacht hat – wäre doch eher naiv. Menschen brauchen Technologie und sie missbrauchen sie.

Die »Netzgemeinde«, deren Kränkung Lobo vordringlich zu beschreiben sucht, weiß das. Wer reflektiert mitdiskutiert, weiß, dass nur eine schmale Elite von den Vorzügen des Webs profitiert hat, dass die Nachteile die Vorteile des Wandels schnell einholen und dass die Propheten des Netz stets ein Potential beschrieben haben, das die mediale und technische Realität selten gedeckt hat.

Es gibt drei Möglichkeiten:

  1. Lobo gibt das genaue Denken und Formulieren zugunsten der Inszenierung auf.
  2. Er biedert sich beim Feuilleton-Publikum mit einem Text an, der ganz nach seinem Geschmack sein dürfte.
  3. Er will mal sehen, ob die Netzgemeinde sämtliche Reflexe bedient, mit denen er rechnet – und trollt sie, und damit auch mich.

Wie dem auch sei – zum Schluss Hans Blumenberg über die drei Kränkungen Freuds (und auch die Lobos) in Drei Grad über dem Nichts. Zur Symbolik theoretischer Kränkungen und Tröstungen: 

Der Mensch ist ein trostbedürftiges Wesen. Unter den Titel des Trostes fallen viel mehr und größere Anstrengungen als jemals damit belegt worden sind. Mit Recht sind Trostbedürftigkeit und Trostfähigkeit unter den Schutz einer gewissen Verschämtheit gestellt, wie die Armut oder die Dummheit. Freud hat von den Kränkungen gesprochen, die dem Menschen angetan worden sind: durch Kopernikus, durch Darwin und durch ihn selbst. Vielleicht ist der Ausdruck »Kränkung« schon eine Ausflucht; tatsächlich sind neue Trostbedürftigkeiten entstanden.

Wenn Social Media selbstverständlich werden

In loser Folge möchte ich als Vorbereitung auf einen Input am Weiterbildungszentrum der Fachhochschule St. Gallen über die Zukunft von Social Media nachdenken. Ein Inhaltsverzeichnis gibts hier

* * *

Unsere Eltern und Großeltern verstehen viel von technologischem Wandel. Sie haben erlebt, wie Radioapparate mit Hörspielen ganze Familien unterhalten haben, nur um einige Jahre später von Fernsehern abgelöst zu werden, das man später auf Videokassetten aufnehmen konnte, dann auf DVDs und schließlich auf Geräte, die alles können, außer Pancakes backen. Sie haben auf teuren Geräten Schallplatten gehört, sie später auf Kassetten überspielt und dann alle Tonträger in Form von CDs noch einmal gekauft. Sie haben Telefonnummern und Zugverbindungen in dicken Büchern nachgeschlagen oder die Menschen gefragt, bei denen sie auch Fahrscheine gekauft haben, um später von Maschinen bedient zu werden, die sie seit kurzem in ihrer eigenen Tasche mit sich tragen. Sie haben lange auf Briefe gewartet, viele geschrieben. Teure und kurze Telefonate geführt, zuerst von den Apparaten der wohlhabenden Nachbarn aus, später auf eigenen, gemieteten, gekauften, kabellosen. Telegramme und Faxe auf der Post verschickt und empfangen. Fotos mit teuren Apparaten aufgenommen und lange auf die entwickelten Bilder gewartet, eigene Dunkelkammern aufgebaut, farbige Bilder gemacht und schließlich nur noch digitale, die auf Harddisks darauf warten, überhaupt einmal angesehen zu werden.

Wer 50 Jahre im 20. Jahrhundert gelebt hat, hat die Zukunft von technologischem Wandel erlebt und würde sie wie folgt beschreiben:

  1. Viel Neues wird selbstverständlich. 
  2. Tätigkeiten wandeln sich wenig.
  3. Wie die Tätigkeiten technisch durchgeführt werden, wandelt sich stark und ständig.
  4. Die sozialen Implikationen von Technologie werden überschätzt.
  5. Die durch Technologie beanspruchten Ressourcen (Zeit, Geld) werden unterschätzt.

Stellen wir uns vor, die Technologie wäre 1963 eingefroren worden, dann könnten wir immer noch Bilder machen und sie Freunden zeigen, wir könnten schriftlich und mündlich miteinander kommunizieren und Informationen wären z.B. in Bibliotheken problemlos verfügbar. Einiges wäre im Vergleich zu heute anstrengender und viel langsamer, aber dafür hätten wir vieles gar nie lernen müssen: Keine nächtelangen Optimierungsübungen des RAM-Speichers bei den ersten PCs, keine Datenverluste durch abgestürzte Harddisks, kein Import von Kontakten auf neue Handys, keine Installationen von WLAN, kein Brennen von CDs, überspielen von VHS-Kassetten etc.

In weiteren 50 Jahren – so meine Prognose – wird der Rückblick ähnlich aussehen: Menschen werden Tools, die heute neuartig und voller Potential erscheinen, mit leichter Nostalgie belächeln; aber mit neuen Werkzeugen immer noch schriftliche, mündliche und visuelle Botschaften verschicken. Social Media wird sein wie ein Telefon: Erwachsene werden sie nutzen, als hätte es nie etwas anderes gegeben, Pubertierende werden mit ihren Eltern über die richtige Nutzung streiten und an die Möglichkeit, abgehört zu werden, werden wir uns gewöhnen. (Beeindruckend schon der Rückblick auf das Jahr 2000, das lange eine unvorstellbare Zukunft symbolisierte.)

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Fernsehwerbung, USA 1960er-Jahre.

Das zeigt der Rückblick nämlich auch: Der Briefträger hat Postkarten schon immer gelesen, Telefonleitungen konnten schon immer abgehört werden, Briefe abgefangen und gelesen. Diese Möglichkeiten mögen über Social Media neue Dimensionen annehmen, aber die Gefahr wird wie die damit verbundenen Chancen ständig überschätzt, wie das Beispiel von David Bunnell zeigt:

Ob Google Brumm, ob Internet oder Facebook: Wie kein zweites Mal in der IT-Technologie war die Entstehung des Personal Computers mit der Hoffnung verknüpft, ein Gegenstück zu den totalitären Großcomputern der Konzerne sei gefunden. Er sollte die Menschheit befreien, Gleichheit für alle Rassen, Glaubensrichtungen, Minoritäten und Klassen bringen. Diese erhabenen Sätze schrieb David Bunnell in das Benutzerhandbuch eines der ersten PC, des Altairs der Firma MITS im Jahre 1974. Schon knapp zehn Jahre später zog Bunnell eine pessimistische Bilanz: „Anstelle die Standesunterschiede zu zerstören, hat der PC ein neues Kasten-System geschaffen, basierend auf dem privilegierten Datenzugriff. Er hat eine Art Berliner Mauer aus Drähten geschaffen, die die informationstechnisch Verarmten ausgrenzt.“

Menschen gewöhnen sich an Technologie und die Unsicherheiten, die sie mit sich bringt. Sie können vieles ausblenden. So werden sie – das meine Prognose – auch mit Algorithmen und Robotern leben können. Einige werden sie wie Mitmenschen behandeln und es letztlich nicht so relevant finden, ob sie im Krankenhaus von einem Menschen oder einem Roboter gepflegt werden, andere werden sie als störend empfinden und weitere einfach benutzen.

Die Zukunft wird auch zeigen, dass »Social Media« ein Euphemismus ist. Social bedeutet nicht, dass diese Medien auf die Gesellschaft und ihre Organisation bezogen sind, sondern einfach, dass Beziehungen messbar und verarbeitbar werden. Das gilt selbstverständlich auch für die negativen Seiten von Social Media, wie Passig und Lobo festhalten:

Wenn wir im negativsten Fall annehmen, dass gar nicht zu unterscheiden ist, ob im Netz echte Empathie wirkt oder nur aus narzisstischen Gründen vorgetäuschte Empathie: Das gilt außerhalb genauso. Wenn das Netz schlecht und unsozial sein soll, ist es die Welt auch.

Rezension: Passig/Lobo – Internet. Segen oder Fluch

Das Autorenteam Kathrin Passig und Sascha Lobo unternimmt mir ihrem neuesten Buch den Versuch, die Debatte ums Internet zu verflüssigen und in konstruktive Bahnen zu lenken.

Der dringend notwendige Diskurs um das Internet, seine Bedeutung für unser Leben und seine Folgen ist ritualisiert und erstarrt. (7)

Passig und Lobo. Flickr: simsullen. CC NC-BY-NC 2.0

Es handle sich um einen »dauerhafteren, komplexeren Konflikt, mit dem wir einen Umgang finden müssen« (9). Das tun sie, indem sie die »zentralen Eckpunkte« der Debatte – das kleine Wortspiel stammt aus diesem Vortrag von Sascha Lobo – humorvoll aufrollen, zeigen, welche Argumente sich erschöpft haben und die Diskussion nicht vorwärtsbringen und was eigentlich – das das unterliegende Hauptthema des Buches – denn wirklich spezifisch mit dem Internet zusammenhängt und was allgemeine Probleme der Menschheit, ihres Umganges mit Technologie und mit Informationen sind:

Die Digitalisierung färbt die Welt nicht schwarz-weiß, nur weil sie mit Nullen und Einsen zu tun hat, ebenso wenig wie Geigen den Konzertsaal in einen Schafstall verwandeln, nur weil sie mit Darmsaiten bespannt sind. Technik beantwortet die einfachen Fragen […] Alle wirklich interessanten Probleme existieren nach der Erfindung neuer Techniken ungerührt weiter. Was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, dass alle angeblich durch Technik in die Welt kommenden Probleme entweder vorher schon existiert haben oder einfach nicht sehr interessant sind. (298)

Wie in einem Auszug auf SPON nachzulesen ist, zeichnen Passig und Lobo die Argumente der »Internetoptimisten« und der »Internetskeptiker« nach. Damit gelingt ihnen der »Versuch[] der Vermittlung« (14) zwischen den beiden Positionen ausgezeichnet, obwohl sie nicht verbergen, dass sie die digitale Welt mögen.

Das Buch richtet sich an ein breites Publikum: Internetaffine Menschen finden darin unterhaltsame Vergleiche, Gedankenexperimente und Zusammenfassungen wichtiger Inputs und Debatten, die nicht alle bekannt sind. Aber Internetaffinität ist keine Voraussetzung, es wird erklärt, wie digitale Phänomene zu verstehen sind – und zwar so, dass sich niemand langweilt. (Wenn man den beiden Schreibenden einen Vorwurf machen könnte, dann den, dass sie ihre erste Regel im Umgang mit Metaphern, man solle sie »sparsam und risikobewusst«(48) einsetzen, offenbar beim Schreiben des Buches nicht beachtet haben.)

Ich möchte im Folgenden ein Kapitel genauer zusammenfassen – das über den sozialen Aspekt von Social Media: »Entfremdung und Nähe« (220 – 240). Es wird strukturiert durch »Frontverläufe« (222):

  • Vereinsamung und Gesellschaftsbildung.
    Fazit: »Es gibt Onlinesozialkontakte, wenn man es so empfindet.« (227)
  • Narzissmus und Empathie.
    Fazit: »[…] wenn wir im negativsten Fall annehmen, dass gar nicht zu unterscheiden ist, ob im Netz echte Empathie wirkt oder nur aus narzisstischen Gründen vorgetäuschte Empathie: Das gilt außerhalb genauso. Wenn das Netz schlecht und unsozial sein soll, ist es die Welt auch.« (232)
  • Oberflächlichkeit und Unterflächlichkeit: »Der Programmierspruch: ‚It’s not a bug, it’s a feature‘ kann eben auch für die Oberflächlichkeit gelten. [Es könnte sein, (phw)] dass schwache Verbindungen entgegen der allgemeinen Auffassung geradezu unersetzlich für den sozialen Austausch sind.« (236f.)

Es ist ein geeignetes Kapitel, um festzustellen, wie Passig und Lobo argumentieren: Sie vermeiden Komplexität nicht und sie scheuen sich auch nicht, Fragen zu stellen, Lücken offen zu lassen. Gleichzeitig sind sie äußerst belesen und bringen ihre Sachkenntnis ohne Affekt ein: Sie beschreiben beispielsweise, wie Profile auf Facebook Arbeitspsychologen zu präziseren Einschätzungen von BewerberInnen befähigen als standardisierte Eignungstests.

Wenn aber ein simples, gar nicht darauf zugeschnittenes Facebook-Profil mehr über die berufliche Eignung einer Person sagt als seit vierzig Jahren von Fachleuten für diesen Zweck entwickelte Tests – dann heißt das auch, dass soziale Netzwerke eine ungeahnte Tiefe bergen. (235)

Vergleiche bringen den Leser dazu, sich Fragen zu stellen, deren Antworten er schon zu kennen gemeint hat: So beginnt das Kapitel mit der Aufforderung, sich eine Welt vorzustellen, in der zuerst das soziale Computerspiel und dann das Buch erfunden worden wäre. Wie würden Eltern und ErzieherInnen reagieren, wenn Kinder plötzlich Bücher läsen? (220) Oder: Wurden die ersten Menschen, die sich Kleider angezogen haben, auch als Selbstdarsteller beschimpft? (230)

Fazit: Wer nicht in einer argumentativen Schlaufe in Bezug auf das Internet stecken bleiben will, sondern gewillt ist, sich neu zu orientieren, Argumente zu prüfen, sich anregen zu lassen, der oder die kann im Moment kein bessere, aktuelleres und lustigeres Buch lesen als das von Passig und Lobo. Auf dem »Beipackzettel« von Sascha Lobo kann man auch nachlesen, wann man das Buch lesen soll:

  • […]
  • man technische und gesellschaftliche Hintergründe erfahren möchte zu den meistdiskutierten Netzthemen
  • man wissen will, wo welche Argumente vermieden werden sollten und warum
  • man ernüchtert werden möchte, weil hinter manchen Bereichen der Debatte schlicht unauflösbare Gegensätze stehen (Spoiler: zum Glück nicht hinter allen)
  • man manchmal nachts unter der Bettdecke heimlich daran zweifelt, ob man wirklich überall immer richtig liegt
  • man andere Positionen und ihre Geschichte verstehen möchte
  • kurz: wenn man Teil der Lösung sein möchte und nicht Teil des Problems.