Rezension: Passig/Lobo – Internet. Segen oder Fluch

Das Autorenteam Kathrin Passig und Sascha Lobo unternimmt mir ihrem neuesten Buch den Versuch, die Debatte ums Internet zu verflüssigen und in konstruktive Bahnen zu lenken.

Der dringend notwendige Diskurs um das Internet, seine Bedeutung für unser Leben und seine Folgen ist ritualisiert und erstarrt. (7)

Passig und Lobo. Flickr: simsullen. CC NC-BY-NC 2.0

Es handle sich um einen »dauerhafteren, komplexeren Konflikt, mit dem wir einen Umgang finden müssen« (9). Das tun sie, indem sie die »zentralen Eckpunkte« der Debatte – das kleine Wortspiel stammt aus diesem Vortrag von Sascha Lobo – humorvoll aufrollen, zeigen, welche Argumente sich erschöpft haben und die Diskussion nicht vorwärtsbringen und was eigentlich – das das unterliegende Hauptthema des Buches – denn wirklich spezifisch mit dem Internet zusammenhängt und was allgemeine Probleme der Menschheit, ihres Umganges mit Technologie und mit Informationen sind:

Die Digitalisierung färbt die Welt nicht schwarz-weiß, nur weil sie mit Nullen und Einsen zu tun hat, ebenso wenig wie Geigen den Konzertsaal in einen Schafstall verwandeln, nur weil sie mit Darmsaiten bespannt sind. Technik beantwortet die einfachen Fragen […] Alle wirklich interessanten Probleme existieren nach der Erfindung neuer Techniken ungerührt weiter. Was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, dass alle angeblich durch Technik in die Welt kommenden Probleme entweder vorher schon existiert haben oder einfach nicht sehr interessant sind. (298)

Wie in einem Auszug auf SPON nachzulesen ist, zeichnen Passig und Lobo die Argumente der »Internetoptimisten« und der »Internetskeptiker« nach. Damit gelingt ihnen der »Versuch[] der Vermittlung« (14) zwischen den beiden Positionen ausgezeichnet, obwohl sie nicht verbergen, dass sie die digitale Welt mögen.

Das Buch richtet sich an ein breites Publikum: Internetaffine Menschen finden darin unterhaltsame Vergleiche, Gedankenexperimente und Zusammenfassungen wichtiger Inputs und Debatten, die nicht alle bekannt sind. Aber Internetaffinität ist keine Voraussetzung, es wird erklärt, wie digitale Phänomene zu verstehen sind – und zwar so, dass sich niemand langweilt. (Wenn man den beiden Schreibenden einen Vorwurf machen könnte, dann den, dass sie ihre erste Regel im Umgang mit Metaphern, man solle sie »sparsam und risikobewusst«(48) einsetzen, offenbar beim Schreiben des Buches nicht beachtet haben.)

Ich möchte im Folgenden ein Kapitel genauer zusammenfassen – das über den sozialen Aspekt von Social Media: »Entfremdung und Nähe« (220 – 240). Es wird strukturiert durch »Frontverläufe« (222):

  • Vereinsamung und Gesellschaftsbildung.
    Fazit: »Es gibt Onlinesozialkontakte, wenn man es so empfindet.« (227)
  • Narzissmus und Empathie.
    Fazit: »[…] wenn wir im negativsten Fall annehmen, dass gar nicht zu unterscheiden ist, ob im Netz echte Empathie wirkt oder nur aus narzisstischen Gründen vorgetäuschte Empathie: Das gilt außerhalb genauso. Wenn das Netz schlecht und unsozial sein soll, ist es die Welt auch.« (232)
  • Oberflächlichkeit und Unterflächlichkeit: »Der Programmierspruch: ‚It’s not a bug, it’s a feature‘ kann eben auch für die Oberflächlichkeit gelten. [Es könnte sein, (phw)] dass schwache Verbindungen entgegen der allgemeinen Auffassung geradezu unersetzlich für den sozialen Austausch sind.« (236f.)

Es ist ein geeignetes Kapitel, um festzustellen, wie Passig und Lobo argumentieren: Sie vermeiden Komplexität nicht und sie scheuen sich auch nicht, Fragen zu stellen, Lücken offen zu lassen. Gleichzeitig sind sie äußerst belesen und bringen ihre Sachkenntnis ohne Affekt ein: Sie beschreiben beispielsweise, wie Profile auf Facebook Arbeitspsychologen zu präziseren Einschätzungen von BewerberInnen befähigen als standardisierte Eignungstests.

Wenn aber ein simples, gar nicht darauf zugeschnittenes Facebook-Profil mehr über die berufliche Eignung einer Person sagt als seit vierzig Jahren von Fachleuten für diesen Zweck entwickelte Tests – dann heißt das auch, dass soziale Netzwerke eine ungeahnte Tiefe bergen. (235)

Vergleiche bringen den Leser dazu, sich Fragen zu stellen, deren Antworten er schon zu kennen gemeint hat: So beginnt das Kapitel mit der Aufforderung, sich eine Welt vorzustellen, in der zuerst das soziale Computerspiel und dann das Buch erfunden worden wäre. Wie würden Eltern und ErzieherInnen reagieren, wenn Kinder plötzlich Bücher läsen? (220) Oder: Wurden die ersten Menschen, die sich Kleider angezogen haben, auch als Selbstdarsteller beschimpft? (230)

Fazit: Wer nicht in einer argumentativen Schlaufe in Bezug auf das Internet stecken bleiben will, sondern gewillt ist, sich neu zu orientieren, Argumente zu prüfen, sich anregen zu lassen, der oder die kann im Moment kein bessere, aktuelleres und lustigeres Buch lesen als das von Passig und Lobo. Auf dem »Beipackzettel« von Sascha Lobo kann man auch nachlesen, wann man das Buch lesen soll:

  • […]
  • man technische und gesellschaftliche Hintergründe erfahren möchte zu den meistdiskutierten Netzthemen
  • man wissen will, wo welche Argumente vermieden werden sollten und warum
  • man ernüchtert werden möchte, weil hinter manchen Bereichen der Debatte schlicht unauflösbare Gegensätze stehen (Spoiler: zum Glück nicht hinter allen)
  • man manchmal nachts unter der Bettdecke heimlich daran zweifelt, ob man wirklich überall immer richtig liegt
  • man andere Positionen und ihre Geschichte verstehen möchte
  • kurz: wenn man Teil der Lösung sein möchte und nicht Teil des Problems.