In einem Beitrag für Public Culture analysiert Zeynep Tufekci die medial laufend wiederholten Beteuerungen, das digitale Kommunikation mache Menschen einsamer. Im folgenden fasse ich die wichtigsten Aussagen ihres Beitrag The Social Internet: Frustrating, Enrichting, but Not Lonely zusammen. Der Artikel kann online nicht frei gelesen werden, eine Privatkopie verschicke ich gerne per Email.
1998 prangte die Schlagzeile »Sad, Lonely World Discovered in Cyberspace« auf der Titelseite der New York Times, den entsprechenden Artikel schrieb Amy Harmon basierend auf wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Tatsache, dass weitere Studien zeigten, dass sich die negativen Effekte mit der Zeit auflösten, wenn es sie überhaupt je gab, wurde medial wenig beachtet. Das Thema blieb ein Dauerbrenner, obwohl es keine Belege dafür gibt, dass Internetkommunikation entweder die ganze Gesellschaft oder einzelne Menschen einsamer gemacht hat.
Tufekci weist nach, dass die Vorstellung der Bedrohung sozialer Verbindungen durch das Web auf eine Zeit zurückgeht, in der eine ganz andere Vorstellung vom Cyberspace vorherrschend war. Der Zugang zum Internet war privilegierten Akademikern (und wenigen Frauen) vorbehalten, die mit den Möglichkeiten anonymer Profile und dem kreativen Gestalten von Identitäten experimentierten. Einsamkeit war völlig akzeptiert, auch weil on- und offline Identitäten kaum verbunden waren miteinander. Der klassische New-Yorker-Cartoon vom Hund, der erzählt, im Internet wisse niemand, dass er ein Hund sei, ist für Tufekci das Sinnbild dieser Phase des Cyberspace: Ein Raum, der von den Einschränkungen des Körpers, des Geschlechts, der Rasse und der Nationalität befreite.
Danach aber explodierte die Teilnahme an der Netzkommunikation: Im Web bildete sich die Gesellschaft ab und damit waren Menschen, Körper, Unternehmen und Regierungen auch präsent – wenn sie denn jemals wirklich abwesend waren. In der sozialen Phase des Netzes wurde Interaktion mit Menschen, von denen viele auch offline Bekannte waren, die wichtigste Nutzungsart für viele Menschen. Damit verbunden war eine Deanonymisierungsbewegung.
Eine der wichtigsten Thesen des Textes lautet, dass Technologie nicht den Menschen verändert, sondern bestimmte Verhaltensweisen mit veränderten Konsequenzen verbindet. Der Fachbegriff dafür lautet affordance, ein Begriff, der sich kaum übersetzen lässt, aber besagt, dass Technologie gewisse Anreize für bestimmte Verhaltensweisen schafft, weil sie einfacher oder attraktiver werden, oder eben mit negativen Konsequenzen versehen sind. Social Media verändert so nicht unbedingt das, was Menschen tun, sondern welche Auswirkungen soziale Interaktionen haben.
Ein Beispiel dafür ist, dass der Cyberspace heute Identität eher normiert und transparent macht. Nicht nur das: Verschiedene soziale Rollen, die wir in unterschiedlichen Kontexten einnehmen, werden für das jeweils »falsche« Publikum sichtbar und erschweren es, sich so zu präsentieren, wie man das gerne möchte – eine Einsicht, die Kathrin Passig in ihrem hervorragenden Text über »Die Konsensillusion« ausformuliert hat. Heute, so Tufekci, weiß jeder im Internet, wer ein Hund ist.
Social Media ist mit hohem sozialen Druck verbunden, der aber deshalb in Kauf genommen wird, weil der Verzicht auf digitale Kommunikation einen noch höheren Preis hat. »Auf Social Media zu verzichten ist gleichbedeutend mit der Isolation in wichtigen Bereichen des Soziallebens«, schreibt die Forscherin in Bezeug auf ihre Untersuchungen an amerikanischen Colleges.
Eine »soziale Atomisierung« werde seit längerem beobachtet – Tufekci verweist auf Putnams Bowling Alone. Forschungsergebnisse legen nahe, dass die relevanten Ursachen Fernsehen, Pendeln, Arbeitszeiten, Doppelverdienerfamilien sowie die zunehmende Isolation Jugendlicher seien – das Internet die Effekte bei seinen Nutzerinnen und Nutzern aber abschwäche und keinesfalls verstärke.
Das Internet macht uns nicht einsamer, sondern hat verschiedene systemische Effekte auf die Größe, Zusammensetzung und Struktur unserer sozialen Netzwerke. Das ist ein Grund, weshalb die neue Technologie so viel Unwohlsein verursacht.
Tufekci sieht vier Hauptaspekte:
- Das Internet betont erworbene soziale Netzwerke und schwächt zugeschriebene; es gewichtet also Zuneigung und Interessen stärker als Familie und Nachbarschaft. Deshalb sei es auch falsch zu sagen, Social Media helfe nur bei der Aufrechterhaltung von so genannten weak ties, also schwachen Beziehungen zwischen Bekannten.
- Das Internet verändert Interaktionsmuster. Wer miteinander kommuniziert, kommt sich näher. Verlagern sich Gespräche ins Netz, verlieren gewisse Menschen den Bezug zueinander und neue finden sich.
- Nicht alle Menschen sind in der Lage, medialisierte Kommunikation als echte Begegnung wahrzunehmen. Freundschaften auf Texten zu basieren ist eine komplexe Fähigkeit, die einige Menschen erlernen können und mit denselben Gefühlen verbinden, wie wenn sie face-to-face mit anderen sprechen. Tufekci unterscheidet »cybersoziale« von »cyberasozialen« Menschen: Bei ersteren ist die textbasierte Kommunikation auf einem ganz tiefen emotionalen Level verankert, bei letzteren nicht.
- Nicht-medialisierte Kommunikation ist ein Privileg. Sherry Turkle, eine Verfechterin der Einsamkeitsthese, beschreibt in einem Text, wie sie ihren Sommer ohne Smartphone in Cape Cod verbringe – und zeigt damit, wie privilegiert man sein muss, um sich das leisten zu können. Viele Arbeitnehmenden oder Eltern können es sich nicht leisten, in ihrer Freizeit oder ihrer Zeit mit der Familie auf digitale Kommunikation zu verzichten – nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie sonst die verschiedenen an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllen können. Die Kritik müsste sich also nicht auf die Verwendung von Technologie richten, sondern auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Menschen nicht erlauben, die Zeit so zu nutzen, wie sie das gerne tun würden.

Tufekcis Fazit:
Kommunikationstechnologie wirkt weder entmenschlichend noch isolieren, wenn sie für soziale Verbindungen verwendet werden. […] Das Internet ist nicht eine Welt voller körperloser und oberflächlicher Beziehungen, es ist eine Technologie die soziale Verbindungen zwischen echten Menschen medialisiert und strukturiert.
Vielen Dank für diesen sehr erhellenden und interessanten Artikel!
Ich denke die zitierten Studien haben wichtige Punkte angesprochen, die m.E. leider oft zu kurz in Diskussionen um soziale Medien kommen.
Spannend finde ich in diesem Zusammenhang einen Punkt aus Ihrem Kommentar: nämlich die Belastbarkeit der Stichproben. Leider ist v.a. die Gruppe der Studierenden eine sehr intensiv untersuchte Gruppe. Wenn man es genau betrachtet, handelt es sich hier jedoch um eine recht eigenwillige Stichprobe (auch wenn ich die ökonomischen Gründe gut nachvollziehen kann). Es ist für mich nicht völlig einleuchtend, die Ergebnisse aus diesen Gruppen einfach auch die gesamte Bevölkerung zu übertragen. Und da spielt sicher nicht nur die oft unterstellte „nativeness“ im digitalen Raum eine Rolle 😉 Spannend fände ich, ob es auch belastbare andere Studien zu anderen Gruppen hinsichtlich dieses Aspektes gibt.
Auf Twitter hat Andreas Gossweiler den Artikel kommentiert und kritisiert. Ich zitiere zunächst die wichtigsten Punkte, reagiere dann darauf.
Die Kritik weist auf einen Punkt hin, den ich zu erwähnen vergessen habe. Tufekci – und mit ihr fast alle Wissenschaftlerinnnen und Wissenschaftler, die solche Fragen untersuchen – arbeiten meist mit Befragungen von Studierenden in den USA. Dabei handelt es sich um eine Generation, die seit ihrer Jugend Social Media verwendet. Ihre Aussage ist dabei nicht, dass Menschen ohne Social Media einsam wären, sondern dass der Verzicht auf Social Media – der aufgrund des großen Druckes, der dort herrscht, nahe liegend wäre – für diese Menschen einen hohen Preis hat. Das korrekte Beispiel wäre WhatsApp unter deutschsprachigen Jugendlichen: Es gibt solche, die darauf verzichten (an Gymnasien 1-2%), aber die müssen damit rechnen, wichtige Interaktionen zu verpassen und müssen so »Isolation in wichtigen Bereichen des Soziallebens« in Kauf nehmen.
Tufekcis Argument, dass medialisierte soziale Beziehungen für einige Menschen den gleichen Wert haben wie nicht-medialisierte kann man natürlich zurückweisen. Die Daten, die das belegen, präsentierte Tufekci hier: http://technosociology.org/wp-content/uploads/2012/04/cyberasocial-zeynep-asa-2011.pdf und hier: http://citation.allacademic.com/meta/p_mla_apa_research_citation/6/5/2/5/5/p652554_index.html?phpsessid=e6n60v4jfi9kr6afekr65rr0e7 (wiederum: Privatkopien auf Anfrage).
Für diese Menschen entfällt das Argument, dass die Social-Media-Zeit auf Kosten »echter Beziehungen« gehe. Zudem ist das nur scheinbar ein logischer Zusammenhang: Die Zeit könnte auch auf Kosten von Unterhaltung gehen, also die sozial verwendete Zeit gar vergrößern. Da bräuchte man Daten für schlaue Aussagen – die hat Tufekci.
Die Studie von Kross et al., der ich hier einen Blogpost gewidmet habe – https://schulesocialmedia.com/2013/10/11/wer-facebook-oft-nutzt-fuhlt-sich-schlechter/ – legt nahe, dass Einsamkeit zu intensiverer Social-Media-Nutzung führe, die den Zustand aber nicht bessere, sondern verschlechtere. Diese Daten zeigen für mich, dass Social Media keine Therapie für Einsamkeit ist, aber nicht, dass die Nutzung Menschen individuell oder gesamtheitlich einsamer macht. Dabei handelt es sich auch um ein methodisches Problem, weil Einsamkeit kaum zu messen ist und es kaum Gruppen gibt, die von der Struktur her identisch sind und sich nur durch die Nutzung von sozialen Netzwerken unterscheiden.