Mit der »Flarf«-Methode kreative SMS oder Tweets schreiben

In seinem Buch »Schreiben unter Strom« stellt Stephan Porombka unter anderem die Flarf-Methode vor, um mit Google-Ergebnissen Lyrik zu erstellen. Er präsentiert ein mögliches Ergebnis (S.  28):

Doc - 19.02.2013 16-16

Ein FAZ-Artikel beleuchtet den Hintergrund der Flarf-Bewegung:

Von nun an ging es [Gary Sullivan] darum, möglichst lustige, politisch inkorrekte, subversive, unflätige, anzügliche – irgendwie jedenfalls unpassende Gedichte zu schreiben. Die Clique seiner Dichterkollegen in New York hielt das für eine zeitgemäße Idee (es war die Bush-Ära) und schloss sich an. Wer von ihnen auf den Namen „Flarf“ kam, weiß Sullivan nicht mehr, aber er definiert es folgendermaßen: „Flarf besitzt die Eigenschaft des Flarfigen.“ Im März 2001 richten sich die Flarfisten eine Mailingliste ein und beginnen, Gedichte hin und her zu schicken, die aus Versatzstücken von Google-Suchergebnissen bestehen.

„Ich google zwei disparate Suchbegriffe, beispielsweise ,Latex‘ und ,Michael Jackson’“, sagt Sharon Mesmer, ebenfalls Flarf-Dichterin, studierte Philologin, Anfang vierzig, die hauptberuflich Kreatives Schreiben an der New School in New York unterrichtet. „Dann kopiere ich einige Textstücke aus der Ergebnisliste von Google in ein Word-Dokument und bearbeite sie, arrangiere um, denke mir Sätze aus. Das fertige Gedicht schicke ich an die Flarf-Mailingliste.“

Dort wird es dann von den anderen Dichtern weiterbearbeitet, wieder gegoogelt und so fort. Das Gedicht ist also nie fertig. Insofern hat der Werkbegriff der Flarf-Leute etwas Vorneuzeitliches. Sie sind wie im Mittelalter eher Redakteure und Kopisten denn Autoren, ihre Texte durchlaufen viele verschiedene Stadien. Es existieren gleichwertige Varianten, aber kein Original. Denn man stützt sich ja immer schon auf kopierte Bruchstücke aus Ergebnislisten – und deren Autoren sind sowieso unauffindbar.

Ich habe daraus ein Anleitung für den Unterricht gemacht, die man hier als pdf runterladen kann.

Gewählt habe ich – aus aktuellem Anlass – die Begriffe »Wien«, »Februar« und »Schreiben«; diese gegooglet und dann eine der hinteren Ergebnisseiten gewählt. Daraus habe ich dann je drei interessante Sätze rauskopiert, aus denen sich dann ein Gedicht erstellen lässt.

Die Aufgabenstellung lautet konkret wie folgt:

  1. Schreiben Sie ein Gedicht, das sich als SMS oder Tweet versenden lässt, d.h. es darf inkl. Leerzeichen nicht länger als 160 oder 140 Zeichen sein.
  2. Gehen Sie wie folgt vor:
    a) wählen Sie interessante Wörter oder Sätze aus
    b) arrangieren Sie sie
    c) schleifen Sie (Satzeichen, Einfügen von Partikeln etc.)
  3. (freiwillig)
    Publizieren Sie das Gedicht, indem Sie es jemandem schicken oder es auf Facebook oder Twitter veröffentlichen.

Interessanter wird das Ganze, wenn als Vorlage nicht Google-Ergebnisse, sondern die SMS, Tweets oder Facebook-Statusnachrichten von anderen Personen genommen werden, die dann – als eine Art Rückmeldung – ein Gedicht erhalten.

Kreative Bearbeitung von Werther – »Schreiben unter Strom« 

Ich habe Stephan Porombkas »Schreiben unter Strom« schon vorgestellt. In Anlehnung an seine Vorschläge habe ich nun eine Unterrichtseinheit zu Werter konzipiert, die sich auf diesem Arbeitsblatt findet (pdf). Dazu gehört auch die Aufforderung an die Lernenden, ihr Projekt sinnvoll zu dokumentieren und eigene Bewertungskriterien in der Zusammenarbeit mit mir zu erstellen. Entsprechende Materialien dazu werde ich nachliefern.

Um das Arbeitsblatt sinnvoll weiterverwenden zu können – wie alle Texte auf dem Blog CC-BY-lizenziert – hier der Text mit Links:

Werther: Kreative Bearbeitung
Vorschläge für eine Gruppenarbeit

Parallel zur Einführung in die Epoche des Sturm und Drangs und zur Lektüre von Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« erarbeiten Sie in Gruppen ein kreatives Projekt, in dem Sie die Lektüreerfahrung verarbeiten und ein neues Kunstwerk gestalten.

(1) Regiekonzept zu einem Stück

Sie arbeiten den Text zu einem Stück um. Im Regiekonzept handeln Sie folgende Themen ab:

  1. Auswahl und Gewichtung des Textes (welche Passagen heben Sie hervor, wiederholen Sie, welche streichen Sie?) Originalfassung oder Umschreibung (z.B. auf Dialekt etc.)?
  2. Wie gestalten Sie die Figuren? Welche wählen Sie aus (und warum)? Kostüme? Sprechweise?
  3. Gestaltung der Bühne, Requisiten etc.
  4. Dramaturgie: Wie ist das Stück aufgebaut und warum?
  5. Wirkung auf die heutigen Zuschauerinnen und Zuschauer: Was wollen Sie ihnen zeigen?
  6. Weitere Eigenschaften des Stücks: Licht, Musik …

Ein Beispiel für den Hintergrund einer Inszenierung eines Theaterschaffenden finden Sie unter: phwa.ch/wertherinszenierung

(2) Vom Briefroman zum Email/Twitter/WhatsApp-Roman

Wählen Sie einen geeigneten Ausschnitt aus dem Briefroman und stellen Sie sich vor, Werther würde per Email kommunizieren. Schreiben Sie dann den Ausschnitt neu als eine Folge von Email-Wechseln (zwischen 20 und 30 teilweise kurzen Mails).

Sie können das Medium beliebig wählen: Es ist auch möglich, verschiedene Twitter-User zu erfinden und die interagieren zu lassen, oder dasselbe auf Facebook etc. zu tun.

Ebenfalls frei sind Sie darin, ob Sie die Originalgeschichte in einem neuen Medium erzählen wollen oder ob sie die Handlung gleichzeitig modernisieren wollen und Werther zu einem tragisch Verliebten im 21. Jahrhundert wird.

Diese Idee ist nicht neu. Sie können sich hier inspieren lassen: phwa.ch/wertheremail               

(3) Eine eigene Idee

Der Text inspiriert Sie vielleicht zu etwas ganz anderem. Dann sollen Sie das tun. Wichtig ist, dass Sie das Projekt vorgängig skizzieren können, es hauptsächlich um eine Arbeit mit dem Text geht und Ihr Projekt mit dem Fach Deutsch zu tun hat (aktive und passive Verwendung der deutschen Sprache).

Einige Idee haben ich von Stephan Porombka: Schreiben unter Strom. Duden Verlag, 2012. 

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Rezension: Stephan Porombka – Schreiben unter Strom

Viele der Bücher, die Social Media thematisieren, wählen einen kritischen oder pädagogischen Zugang, in dem es hauptsächlich um die Bedeutung des Medienwandels gibt. Stephan Porombkas Schreiben unter Strom zeigt die Möglichkeiten auf, die entstehen, wenn man kreatives, literarisches Schreiben mit der Kraft digitaler Kommunikation ausstattet:

Wer unter Strom schreibt, schließt automatisch alle Möglichkeiten ein und bringt sie ins Spiel, um sie immer wieder mit etwas anderem zu kombinieren und dadurch neue Impulse zu bekommen und sie gleichzeitig an andere weiterzugeben. (153f.)

Das Buch ist auf zwei Arten bemerkenswert: Es ist bis auf eine kurze Einleitung fast nur eine kurze Darstellung konkreter Schreibaufgaben und Projektarbeiten, in der die spezifische Charakteristik des Schreibens in sozialen Netzwerken aber klar präsentiert wird. Und es ist so klug und gleichzeitig stilistisch eingängig geschrieben, dass man sich nicht wundert, dass der Spiegel Porombka zu den besten Professoren Deutschlands zählt.

In der Einleitung hält Porombka fest, dass es angesichts einer Entwicklung, in der Konzentration durch Ablenkung ersetzt wird, nur die Verweigerung oder die Zweckentfremdung gibt: »Die User sollten mit den Geräten etwas tun, wofür diese auf den ersten Blick gar nicht vorgesehen sind« (10). Es ist klar, welche Variante für kreative Schreibprozesse interessanter ist:

Mit dem Experimentieren beginnen! Hands on! Auch auf die Gefahr hin, dass man alles Bekannte über den Haufen werfen muss und dabei in Zustände gerät, in denen die alten Orientierungsmuster für Kunst uns Leben abhandenkommen, ohne durch neue ersetzt zu werden. Auch das kann man lernen, wenn man unter Strom schreibt: dass sich das Auflösen der bekannten Zusammenhänge für produktive Schübe nutzen lässt. (13)

Die konkreten Aufgaben sind dann in Grundlagen – Nächste Schritte und Radikalisierungen gegliedert. Dort werden konkrete literarische Verfahren beschrieben, die unter Zuhilfenahme von bestimmten Tools literarische Texte hervorbringen können. Ihre Darstellung basiert auf einer Beschreibung von Goethes Werkstatt. Porombka interpretiert Goethes Bestrebungen, »in […] Räumen Menschen, Gegenstände, Reflexionen, Kommunikationen und Schreihandlungen so [zu organisieren], dass sie sich gegenseitig intensivieren«, als die Schreibwerkstatt, die heute Computer heißt:

Der Computer ist die Maschine, in der wir unsere Aktivitäten immer dichter vernetzen. Dieses fein gesponnene Netz ist unsere Werkstatt. Unser Atelier. Unser Labor, in dem wir mit Materialien experimentieren. Es ist der Ort, an dem wir die Welt für uns herstellen. Und mit der Welt gleichzeitig uns selbst. (19)

In den folgenden Abschnitten werden grundlegende Verfahren wie Remix und algorithmische Kunstproduktion beschrieben, aber immer auch die nötigen Netzwerke wie Twitter oder Hypertexte für Laien anschaulich erklärt. Die einzelnen Schreibaufgaben möchte ich hier nicht detailliert aufzählen – wer sich dafür interessiert, sollte das Buch unbedingt anschaffen: Es eignet sich hervorragend für Schreibkurse und für den Einsatz auf dem Gymnasium, weil es immer auch Links zu analogen Formen der Literaturproduktion schafft (z.B. könnte es gut als Begleitprojekt zu einer Werther- oder Kafka-Lektüre genutzt werden, da gibt es jeweils passende Kapitel).

Die Radikalisierung des Schreibens unter Strom führt den Autor dazu, vier Eigenschaften festzuhalten, mit denen solche kreativen Prozesse beschrieben werden können (121):

  1. Das Schreiben unter Strom ist ein kommunikatives Schreiben. Der Autor ist immer Sender und Empfänger zugleich. 
  2. Das Schreiben unter Strom ist nicht auf ein abgeschlossenes Werk angelegt.
  3. Das Schreiben unter Strom findet im jetzt statt. D.h. es »wird dauernd gefragt, was als Nächstes passiert.«
  4. »Schreiben unter Strom heißt, die Frage nach dem Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion zurückzustellen.«

Diese Liste zeigt, dass Porombka nicht Experimente beschreibt, welche Hobbyschriftstellerinnen und -schriftsteller für Fingerübungen brauchen können, sondern sich Gedanken macht, was literarisch »als Nächstes passiert«. Er beschreibt ausführlich, wie lineares Erzählen erschwert wird und Erwartungen an Produkte und Prozesse in der Literaturproduktion unterlaufen werden. Virtuelle und reale Welt »verschalten« sich (150), Materialien werden »kombiniert, bearbeitet, varriiert, weiterentwickelt und wieder eingespeist« – »eine[] belende[] Form von Produktivität« (150).

»Locker bleiben!«, gibt Prombka als Devise mit (153). Diese Lockerheit führt dazu, dass man sich auf die Zufälligkeit und Flüchtigkeit einlässt, die das Internet auszeichnen, sich davon anstecken lässt und sich bewusst wird, dass man bald wieder was anderes tun wird. Dann steht man vielleicht auch auf und schreibt ohne Computer weiter.