»Warum die Zukunft uns noch braucht«, lautet der deutsche Untertitel von Jaron Laniers Buch »Gadget« – auf englisch trägt es den Befehl »You are not a Gadget!« als Titel. Wir, die Lanier mit »uns« meint, oder eben seine Leserinnen und Leser (»you«) – das sind Menschen. Das Buch ist eine Verteidigung des Menschen, der Person – gegenüber der Zumutungen der Ideen, die hinter Social Media stehen. Lanier rechnet mit dieser Kritik – das merkt man dem Buch deutlich an – mit einer Kultur ab, in der er sich auch bewegt: Dem Denken der Menschen im Silicon Valley, das in einem Widerspruch gefangen ist: Einem Widerspruch zwischen den Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die entwicklungsfreudigen und technologiegläubigen Menschen ein komfortables Leben ermöglichen – und dem Anspruch, Menschen aus den Zwängen des Geldes zu befreien, Informationen frei zugänglich zu machen.
Seine Ideen beschreibt Lanier mit farbigen philosophischen Fachbegriffen, die er aufbläst wie Ballone, um damit ganz vieles zu meinen – Spirituelles, Wirtschaftliches, Moralisches. Von diesen drei Sphären aus geht eine Gefahr für die Menschen aus, wie Lanier in den ersten Teilen seines Essays darlegt. Im letzten Teil entwickelt er dann seine Vision, was die virtuelle Realität, der Begriff, als dessen Erfinder Lanier bekannt geworden ist, im positiven Sinne leisten könne.
Ich werde zuerst die interessanten Aspekte von Laniers Kritik zusammenfassen und dann kurz auf seine Vision eingehen. Ich beziehe mich ausnahmsweise auf die deutsche Übersetzung von Michael Bischoff.
Lanier wendet sich gegen eine Ideologie, die er »digitalen Maoismus« oder »kybernetischen Totalitarismus« nennt (30). Sie misst Netzwerken einen großen Wert zu und organisiert Individuen zu Schwärmen, die Leistungen erbringen. Dabei wird der Mensch als Person vernachlässigt – dabei, so Lanier, »haben nur Menschen Sinn und Bedeutung« (30). Seine Belege: Menschen verhalten sich online rücksichtslos, weil sie nicht als Personen wahrgenommen würden – die Finanzwirtschaft basiert nicht auf echter Wertschöpfung, sondern auf Manipulationen von Netzwerken und Informationen – die Musikkultur ist verarmt – es gibt keine lebendige Spiritualität mehr.
Lanier fordert die Menschen auf, ihre Persönlichkeit mit digitalen Mitteln auszudrücken: Auf Pseudonyme und Nicknamen zu verzichten, als Person aufzutreten und seine Persönlichkeit auszudrücken – hier Laniers eigene Webseite, aufwändige Inhalte erstellen, in die man viel Zeit investiert (Blogposts, Videos) und die das Innere zum Ausdruck bringen.
Eine der interessantesten Passagen von Laniers Buch ist seine Interpretation des Turing-Tests. Der Test fordert eine Person aus, mit zwei »Personen« zu chatten oder ein Gespräch zu führen. Eine der »Personen«, im Bild A, ist ein Computer/Algorithmus, der sich als Mensch ausgibt, die andere eine echte Person.
Turing stellte die These auf, dass Computer dann menschliches Bewusstsein erlangt hätten, wenn nicht mehr zu beurteilen ist, wer Mensch und wer Computer ist. Lanier bettet den Text zunächst historisch ein und hält fest, dass er auf einem viktorianischen Gesellschaftsspiel beruhte, bei dem sich die Frage stellte, wer Mann und wer Frau ist (47). Zudem habe Turing aufgrund der Einnahme weiblicher Hormone (eine verordnete Behandlung »gegen« seine Homosexualität) weibliche Geschlechtsmerkmale entwickelt – so dass er eigentlich die Person war, von der nicht mehr zu sagen gewesen wäre, ob sie Mann oder Frau (oder eben: Mann oder Computer) gewesen sei.
Laniers clevere Bemerkung ist aber die, dass der Turing Test zwei Dinge gleichzeitig misst: Das Verhalten von A und B – aber auch die Anforderung, die C an menschliches Verhalten stellt. Wenn z.B. schulische Leistungen nur noch in Bezug auf standardisierte Tests, also Algorithmen, gemessen werden, dann wird menschliches Verhalten bald so beurteilt, wie man die Leistung von Computern einschätzt.
Lanier besteht aber auf der Einzigartigkeit des menschlichen Denkens und der menschlichen Kreativität: Beides könne weder durch eine Masse von Menschen ersetzt noch durch Computer geleistet werden. Das bleibt während des ganzen Buches eine diffuse Behauptung, eine Art Glaubenssatz Laniers (»Wenn sich herausstellen sollte, daß der individuell menschliche Verstand über Eigenschaften verfügt…«, S. 73).
Überzeugend ist aber seine Kritik am Design von Social Media: Viele seiner negativen Eigenschaften (z.B. Vereinfachung von Mobbing-Prozessen und Übergriffen, Preisgabe der der Privatsphäre, Verlust der Individualität) seien nicht einfach kleine Fehler, die sich mit der Zeit beheben ließen, sondern fundamentale Eigenschaften eines Designs, das kaum mehr sichtbar sei. Menschen passten sich den Vorgaben an und verhielten sich so, wie es die »Gadgets« von ihnen verlangten: »[D]iese neue Woge eines Gadget-Fetisischmus ist eher von Angst als von Liebe getrieben. […] der reduzierte Inhalt dieser Kommunikation wird am Ende zur Wahrheit des betreffenden Menschen.« (99f.)
Auch die wirtschaftliche Kritik an den neuen Medien und ihren Folgen basiert auf einer Kritik eines wichtigen Konzept: Der Bedürfnispyramide Maslows.

Lanier zitiert Maos Vorstellung, nur diejenigen Arbeitsleistungen verdienten einen Lohn, die Bedürfnisse befriedigten, die auf der Pyramide unten stünden: Also Menschen ernährten oder ihnen Sicherheit gewährten. Alle anderen Tätigkeiten, welche aufgrund der wirtschaftlichen Verbesserungen im 19. und 20. Jahrhunderts vielen Menschen ermöglichten, damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sollten Mao zufolge nicht entschädigt werden. Die »Open-Culture-Bewegung«, so Lanier (109f.), führe dazu, dass diese Vorstellung eine neue Bedeutung erhalte: Wenn kulturelle Produkte nur noch gratis geteilt würden, dann könnte man damit kein Geld verdienen und Menschen wären auf andere Aktivitäten angewiesen, um sich Lebensnotwendiges leisten zu können. Die Entwertung der Kultur führe zu einer Entwertung all dessen, was »menschlich« sei – worauf die Menschheit in einem »dunkles Zeitalter« (113) zurückfiele.
Lanier zeigt das mit einer ausführlichen Analyse des Musikmarktes und mit der Beobachtung, dass der zentrale Widerspruch der Social Media-Ideologie an der Werbung sichtbar wird: Social Media macht Werbung eigentlich obsolet.
Ein funktionierendes, aufrichtiges, auf der Weisheit der Vielen basierendes System sollte bezahlte Überredung eigentlich ächten. Wenn die Vielen so weise sind, sollte eigentlich jeder einzelne in der Lage sein, bei der Hausfinanzierung, bei der Wahl der Zahnpasta und auf der Suche nach einem Partner optimale Entscheidungen zu treffen. Diese ganze bezahlte Überredung sollte irrelevant sein. Jeder Penny, den Google verdient, beweist, daß die Vielen gescheitert sind – und Google verdient eine Menge Pennies. (115)
Der Ausweg, den Lanier weist, ist recht einfach: Er fordert eine Kostenpflicht fürs Internet. Der Bezug von Informationen müsse etwas kosten – ganz, ganz wenig. Das Geld erhielten die, welche Informationen anbieten, am besten über eine staatlich finanzierte Infrastruktur. Wer diesen Blogpost liest, würde mir einen Cent, vielleicht weniger überweisen. Mit dieser an etablierte Mechanismen in der Kulturindustrie angelehnten Idee wäre es weiterhin möglich, mit Ideen, Kreativität, menschlichen Tätigkeiten Geld zu verdienen – was letztlich dazu führt, dass Menschen dies weiterhin tun würden.
Gerade in Bezug auf Schule hat Lanier durchaus Recht: Das Privileg, Schülerinnen und Schüler entschädigt unterrichten zu dürfen, ist ein Auslaufmodell. Individuelle Bildung ist über angepasste Netzwerke und mit Video-Tutorials (z.B. von der Kahn Academy) problemlos möglich, Lehrpersonen und Peers bieten ihre Leistungen kostenlos an. Warum müsste man sie also weiterhin bezahlen?
Daran sieht man, wie stark Lanier in die Zukunft denkt. Auch wenn einige seiner Beobachtungen der heutigen Funktionsweise von Social Media polemisch oder falsch sein mögen, seine Analyse der zugrunde liegenden Ideologien zumindest begrifflich äußerst blumig ist und seine Vorstellungen von Spiritualität und dem Wesen einer »Person« diffus: Er zeigt die Fluchtpunkte der Entwicklungen auf, die wir erst als beginnende wahrnehmen.
Das sieht man auch an seinen Interessen und Projektvorschlägen, die von einer Mathematisierung der Finanzinstrumente bis zur Entwicklung einer post-symbolischen Kommunikation reichen – also der Möglichkeit, sich zu verwandeln, um kommunizieren zu können, ohne dass mithilfe von Symbolenetwas gesagt oder geschrieben werden muss. Diese Idee soll nicht mehr beschrieben, sondern mit einem wunderschönen Video unterlegt werden, auf das sich Lanier bezieht:
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