Warum gerade »woke« Schüler*innen Schulen beleben – eine Antwort an einen Kollegen aus dem Wallis

Lieber Gerd

Fast alle Erzählungen über die Probleme des »Wokeismus«, wie du schreibst, beginnen mit einer Anekdote, die meist erfunden ist. Bei deinem Text über das Schulklima am Gymnasien erzählst du in dieser Anekdote, dass deine Schüler*innen Englisch mit unterschiedlichen Akzenten sprächen, was du gar nicht zulassen dürftest, wärst du nicht so herrlich politisch unkorrekt und tolerant.

Meines Wissens hat bislang niemand gefordert, Schüler*innen dürften im Englischunterricht bestimmte Dialekte nicht mehr sprechen. Von Schüler*innen höre ich aber immer wieder, dass bestimmte Wörter im Englischunterricht tabu seien: Fluchen dürften sie nicht, Englischlehrpersonen legten auch Wert auf Standardgrammatik und ließen es nicht zu, dass jemand »she don’t care« sagt, was in vielen Dialekten durchaus korrekt wäre, aber halt nicht der Norm entspricht. Könnte ich mit Sara sprechen, würde ich sie gerne fragen, wie das in deinem Unterricht ist. Gibt es da auch Wörter, die du nicht zulässt, oder grammatikalische Formulierungen, die du korrigierst?

Wenn ja, dann gehört das doch einfach zu den fachlichen und sozialen Aushandlungsprozessen, die es Schulen gibt. Ob es hilft, das als »totalitäre, eifernde, intolerante und humorlose Ideologie« zu bezeichnen, wie du das in Bezug auf Fragen machst, die du als »woke« abtust? Ich bezweifle es. (Wenn ich, als etwas jüngerer und urbanerer Lehrer, deinen Text lese, dann habe ich nie den Eindruck, du wärst ein humorvoller, entspannter oder toleranter Kollege.)

Die Schüler*innen und Kolleg*innen, die du als »woke« bezeichnen würdest, sind aus meiner Sicht die, welche Gymnasien am Leben erhalten. Sie erlauben es sich, Bedürfnisse auszudrücken und glauben daran, dass Schulen sich wandeln können. Deine Frage, ob Gymnasien »Athen oder Sparta« oder »USA oder China/Russland« sein sollen, stellt sich nämlich nicht. Wir müssen uns nicht zwischen Polen entscheiden, sondern können vor Ort Lösungen finden, die den Bedürfnissen der Personen entsprechen, jenseits von schematischen oder antiken Vorstellungen. Und wenn Schüler*innen mir sagen, sie möchten nicht mit bestimmten Wörtern, Themen oder Praktiken konfrontiert werden, weil sie das belaste und verletze, dann ist Humor keine adäquate Reaktion auf dieses Anliegen. Über etwas zu lachen, was andere stört, ist ein Verhalten, das mich irritiert. Dasselbe gilt dafür, wenn Schüler*innen und Kolleg*innen auf Diskriminierung und Machtstrukturen aufmerksam machen. Wir privilegierten Männer haben davon mit Sicherheit profitiert und könnten die Kritik annehmen, ohne sie mit Scherzen wegzuwischen.

Wenn wir wirklich an Toleranz glauben, an Respekt, an Kultur und an wissenschaftlichen Fortschritt, dann finden wir Wege, Gymnasien zu guten und gerechten Orten für alle zu machen. Wir müssen solchen Anliegen nicht die Legitimation absprechen, indem wir sie schematisch als Verbotskultur bezeichnen. Genauso müssen wir heute nicht so handeln, sprechen oder schreiben, wie wir das früher gelernt haben. Schüler*innen und Kolleg*innen mit Anliegen müssen wir weder mit einem Label verstehen noch als Teil einer problematischen Ideologie sehen, wir können sie einfach ernst nehmen. Sie sind ein wichtiger Teil jeder Schule, für mich der wichtigste. Sie als Problem darzustellen, ist unfair und auch feige, Gerd. Das Privileg, in der NZZ deine Ansichten ausbreiten zu können, hättest du besser nutzen können, als engagierten Menschen das Leben schwer zu machen.

Ich schließe mit einer Anekdote: In meinem Lateinunterricht an der Kantonsschule Baden haben Lehrpersonen immer wieder auf die Commentarii de bello Gallico von Caesar verwiesen. Die sprachliche und analytische Kraft dieses Werkes hat sie stark beeindruckt, sie waren bemüht, uns eine Wertschätzung dafür zu vermitteln. Was sie uns nie gesagt haben: Dass es sich dabei um Propaganda handelte, mit der Caesar einen brutalen Völkermord legitimiert und inszeniert hat. Hätte ich damals auf dieses Problem aufmerksam machen können, wäre unser Unterricht deutlich besser geworden. In diesem Sinne wünsche ich meiner und deiner Schule viel mehr »woke« Schüler*innen und Kolleg*innen. Und dir den nötigen Humor und die nötige Toleranz, dass du dich darauf einlassen kannst.

Mit kollegialen Grüssen

Philippe

Vertrauen in Lehr-/Lern-Settings

In den USA kämpft die Polizei mit etwas, was die Forschung »barrier of mistrust« nennt: Communities, die schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, vertrauen Polizist*innen nicht mehr. In diesen Communities fällt es der Polizei schwerer, Verbrechen aufzuklären, weil sie kaum Aussagen von Zeug*innen erhalten und teilweise gar nicht gerufen werden, wenn Verbrechen stattfinden. Es handelt sich um eine Spirale: Negative Erfahrungen mit Polizeiarbeit (Gewalt, schlechte Qualität) führt zu Misstrauen, Misstrauen verschlechtert die Arbeit. (Eine anschauliche Erklärung gibt es in diesem Podcast.)

Denselben Zusammenhang gibt es in der Schule: Lehrpersonen und Schulen, welche Schüler*innen herabsetzen, im negativen Sinn überraschen, nicht ernst nehmen, verspielen sich mögliches Vertrauen. Das erschwert ihre Arbeit und steigert die Wahrscheinlichkeit, dass ein Lernklima der Angst, der Fehlervermeidung und auch des Mobbings entsteht. Auch hier entsteht eine Spirale: Eine problematische Schul- und Unterrichtskultur erzeugt Misstrauen, Misstrauen verschlechtert das Lern- und Arbeitsklima.

Wie entsteht aber Vertrauen? In der Reflexion meines Unterrichts habe ich folgende fünf Elemente ausgemacht, die mir dabei helfen, die Beziehung zu Lerneden und zu Klassen vertrauensvoll zu gestalten.

Element 1: Vertrauensvorschuss

Vertrauen hat die Struktur eines Gefangenendilemmas: Alle würden profitieren, wäre es da – aber bevor es da ist, ist es vorteilhaft, Vertrauen zu verweigern. Lehrpersonen müssen hier in Bezug auf Schüler*innen ins Risiko gehen. Missbrauchen die Schüler*innen das Vertrauen einer Lehrperson, kann sie damit leben. Das gehört zum Beruf. In den meisten Fällen wird das gerade nicht geschehen: Wenn Jugendliche echtes Vertrauen erleben, geben sie es zurück. Also nicht abwarten, bis Vertrauen auf der Gegenseite da ist: Sondern aktiv das tun, was Menschen tun, die anderen vertrauen.

Element 2: Verlässlichkeit

Schüler*innen müssen sich auf Lehrpersonen verlassen können. Das bedeutet nicht, dass Lehrpersonen keine Fehler machen, sondern dass sie sich dafür entschuldigen, wenn das geschieht. Fast wichtiger aber: In den Grundwerten sind Lehrpersonen berechenbar und konstant. Ich zwinge zum Beispiel Schüler*innen nie, etwas zu tun, was sie nicht tun wollen. Auch in Gesprächen akzeptiere ich ihre Privatsphäre, wenn sie mir etwas nicht sagen wollen oder eine Frage nicht beantworten können, respektiere ich das. Ich akzeptiere ohne Nachfragen, wenn sie den Raum verlassen, weil ich annehme, dass es einen wichtigen Grund dafür gibt. Ich vermeide jede Art von Gewalt Schüler*innen gegenüber, also auch verbale, psychische etc. – ich werde nicht wütend, ich stelle niemanden bloß. (Mal abgesehen von der strukturellen Gewalt, die im System Schule steckt). Ich führe keine unerwarteten Leistungskontrollen durch, ich bestrafe Schüler*innen nicht. Kurz: In meiner Präsenz gibt es für Lernende keine unangenehmen Überraschungen, ich verhalte mich berechenbar.

Element 3: Ehrlichkeit

Ich sage Schüler*innen, wie die Dinge sind. Ich spiele ihnen nichts vor, sondern sage ihnen, was ich weiß, wenn es sie interessiert. Ich verzichte auf jede Form von Bullshit. Ich teile, wenn das passt, meine Meinungen und mache klar, dass es meine Meinungen sind und die Schüler*innen sich eigene Meinungen bilden sollen.

Element 4: Klare Erwartungen

Auch meine Schüler*innen betreiben immer wieder mal Studenting (sie tun also Dinge, die vernünftige Menschen nicht machen, Schüler*innen aber leider schon). Ich sage ihnen dann immer, dass ich das weder schätze noch erwarte. Generell stütze ich meine Erwartungen auf die Vorstellung ab, dass ich es mit jungen Menschen zu tun habe, die in die Schule kommen müssen, aber das möglichst so tun möchten, dass das für sie eine positive Lernerfahrung ist. Ich wünsche mir, dass sie wie ich ehrlich sind, kritisch sind und ihre Meinung sagen.

Gleichzeitig respektiere ich aber, dass Schüler*innen meine Erwartungen manchmal nicht erfüllen wollen oder erfüllen können. Das ändert meine Erwartungen nicht und führt nicht zu Vorwürfen, sondern ist eine Gelegenheit für eine Reflexion, warum das in einer Situation so ist oder war.

Element 5: So wenig und so gute Beurteilung wie möglich

Wir können Personen, die uns beurteilen, schlecht vertrauen, weil es wichtig ist, in einem guten Licht zu erscheinen und eine starke Abhängigkeit besteht. Das bedeutet für mich als Lehrer, dass ich so wenig Noten wie möglich gebe und sie aus einem Setting ableite, in dem für Schüler*innen nichts Unerwartetes oder Negatives entstehen kann.

* * *

Das sind selbstverständlich sehr subjektive Zugänge zum Thema. Für mich meine Rolle als Lehrperson stimmt das so.

Vertrauen braucht Zeit – erster Schultag mit einer Klasse

Teams als einheitliches internes Kommunikationsmittel

Seit etwas mehr als drei Wochen arbeite ich an einer Schule, bei der die interne Kommunikation komplett über Teams läuft. Schulleitung, Lehrpersonen, Schüler*innen, Sekretariat, Technik, Hausdienst – alle benutzen für schriftliche Anliegen, Dokumentation und Zusammenarbeit Teams.

Da dies etwas ist, was ich an meiner letzten Schule (vergebens) gefordert habe, möchte ich kurz reflektieren, wie sich das anfühlt – und auch dokumentieren, welche Voraussetzungen Schulen erfüllen müssen.

Grosse Transparenz und Filtersouveränität

Teams macht sichtbar, was an einer Schule läuft. Formell und informell. Alle haben Einblick und können sich bei Bedarf informieren. Alte Diskussionen sind archiviert und verfügbar.

Wer Teams nutzt, muss und darf selber filtern. Das erfordert einen Lernprozess (was ist für mich wichtig und was nicht), ist aber auch eine große Freiheit, weil niemand vorschreibt, was ich sehen darf und was nicht.

Threads & Suche > Ordner-Denken

Teams funktioniert für Menschen, die Informationen in Threads und über die Suche wahrnehmen können. Wer ein Ordner-System erwartet, in dem alles immer am richtigen Ort abgelegt ist, wird damit nicht warm werden. Nur: Auf Ordner verzichten ist eine große Befreiung. Ordner sind ein Relikt aus einer Offline-Bürokratie, auf Teams braucht es sie nicht (oder nur selten). [Habe schon vor einer Weile darüber geschrieben.]

Das Ende von CC-/Reply-(All)-Mails

Formuliert jemand über Mail ein Anliegen, dann gibt es meist Empfänger*innen, die das direkt betrifft, solche, die es indirekt betrifft (also nur, wenn bestimmte Reaktionen erfolgen) – und solche, die es gar nicht betrifft. Diese Komplexität wiederholt sich bei allen Antworten.

Das führt dazu, dass wir Mails erhalten, bei denen wir entweder auf weitere Reaktionen warten müssen oder die uns gar nicht betreffen. Dieses Problem löst Teams elegant. Bin ich direkt betroffen, werde ich erwähnt oder direkt angeschrieben, betrifft mich etwas nur indirekt oder gar nicht, kann ich entsprechende Posts ignorieren.

Teams ist genauer, effizienter als Mails. Das zeigt sich auch in der Kultur, Interesse oder Teilnahme per Like abzuhaken: Missverständnisse sind ausgeschlossen, Reaktionen erfordern minimalen Aufwand.

Aktives Zuhören

Gerade in Teams-Chats ist es sehr einfach, Gesprächspartner*innen zu signalisieren, das wir mitbekommen, was läuft. Aktives Zuhören ist viel leichter als bei anderen Formen schriftlicher Kommunikation, weil mit dem Reaktions-Feature niederschwellige Aktionen verfügbar sind.

Auch als Nicht-Beteiligter kann ich mir ein gutes Bild machen, wer etwas mitbekommen hat. Anders als eine Mail an 50 Personen wird bei einer Teams-Nachricht deutlich, wie viele sie gelesen und verstanden haben.

Reaktions- und Arbeitszeiten

An meiner neuen Schule arbeiten viele Lehrpersonen sehr viel. Das wird auf Teams sichtbar, wo teilweise auch spätabends und am Wochenende kurze Reaktionszeiten vorhanden sind. Teams läuft bei mir auch auf dem Handy, die Arbeit ist immer nah. Einerseits ist es angenehm, sehr schnell Rückmeldungen zu erhalten – andererseits besteht die Gefahr, sich schlecht von der Arbeit abgrenzen zu können.

Voraussetzungen

Aus meiner Sicht braucht es folgende Bedingungen, damit sich der konsequente Einsatz von Teams für interne Kommunikation lohnt:

  1. Commitment der Schulleitung
    Die Schulleitung nutzt Teams nicht nur konsequent, sondern auch elegant und schnell. Dadurch zeigt sich eine klare Erwartung an alle Beteiligten, das auch zu machen.
  2. Flache Hierarchie, Offenheit, Zusammenarbeit
    Nur wenn es keine Geheimnisse gibt und Zusammenarbeit unkompliziert gesucht wird, lohnt sich Teams. Ansonsten suchen Menschen nach Tricks, um das auszuhebeln, was Teams lohnenswert macht.
  3. Vertrautheit mit einer Kultur der Digitalität
    Das junge Team an meiner neuen Schule kann gut chatten und kennt die Normen und Verhaltensweisen, die digitale Zusammenarbeit effizient machen.
  4. Keine »Reply-Guys«
    Reply-Guys auf Twitter sind Konten, die Posts so kommentieren müssen, dass deutlich wird, dass sie nichts Gehaltvolles zu sagen haben, aber dennoch andere korrigieren möchten. Dieses Verhalten würde Teams zu einem problematischen Kommunikationskanal machen.
  5. Digitale Infrastruktur und Support
    Wer Teams nutzt, braucht stabiles WLAN und genügend Geräte. Es darf kein Hindernis darstellen, auf die Plattform zu kommen. Bei technischen Problemen müssen Angestellte und Schüler*innen unkompliziert Hilfe holen können.
  6. Externe Links
    Für Teams gibt es schlechte Backup-Möglichkeiten für einzelne User. Deshalb lege ich alles in Craft ab und verlinke es in Teams.

Die Automatisierung und doppelte Sinnlosigkeit von Korrekturen

Heute habe ich an einer Weiterbildungsveranstaltung gezeigt, wie DeepL Write Texte korrigiert. Dabei werden orthografische, grammatische und stilistische Korrekturen vorgenommen und mit Formulierungsvarianten dargestellt.

Wer Texte schreibt, kann sie also von einer Maschine korrigieren lassen. Von Menschen vorgenommene Korrekturen sind im Vergleich dazu ungenau. KI-Tools haben Korrekturen automatisiert.

Das ist ein Grund, weshalb es zunehmend sinnlos wird, Texte zu korrigieren – auch in der Schule. Gleichwohl ist die Fleiß- und Pflichtübung für viele Lehrpersonen nicht verhandelbar. Sie verwenden enorm viel Arbeitszeit darauf, Texte von Lernenden akribisch zu korrigieren.

Am Abend habe ich dann mitbekommen, dass Björn Nölte in einem Vortrag darauf hingewiesen hat, dass Korrekturen für den Aufbau von Kompetenzen wenig bringen. Er hat dabei auf eine Studie (Meta-Analyse) von John Truscott verwiesen, in deren Kurzversion Folgendes steht:

Correction has a small harmful effect on students’ ability to write accurately, and we can be 95% confident that if it actually has any benefits, they are very small.

John Truscott (2007): The effect of error correction on learners’ ability to write accurately

Lehrpersonen können also Korrekturen nicht nur Maschinen überlassen – sie können auch davon ausgehen, dass ihre Korrekturarbeit wenig Nutzen bringt und eventuell den Schreibfähigkeiten von Schüler*innen sogar schadet.

Was sind die Alternativen? Aktuell arbeite ich mit zwei Methoden:

  1. Ich weise Schüler*innen auf Fehlerquellen hin. Genauer: Ich gebe ihnen Hinweise, wie man bestimmte Wörter oder Formulierungen richtig schreibt. Dabei fordere ich sie auf, das in Zukunft so umzusetzen – und überprüfe, ob sie das auch können.
  2. Ich bitte Schüler*innen, ihre Texte mit Tools wie DeepL Write so zu überarbeiten, dass sie keine Fehler mehr enthalten.

Das hilft mir, mehr Zeit für wirksames Feedback einzusetzen – und hilft den Schüler*innen, korrekte Texte zu produzieren.

Klar: Lehrer*innen werden weiter korrigieren – wenn sie Fehler brauchen, um Bewertungen zu begründen. Nur ist das halt nicht sinnvoll.

Was kommt nach dem Ende von Twitter?

Twitter gibt es nicht mehr. Zwar führt Elon Musk die Plattform, die er als Twitter gekauft hat, unter dem Namen X weiter – der Namenswechsel drückt aber eine so radikale Veränderung aus, dass es sich schlicht nicht mehr um denselben Dienst handelt. Was bedeutet das – allgemein und für mich?

Twitter war während seiner Blüte der schnellste und reinste Weg zu Informationen. Wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert ist, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass jemand vor Ort auf Twitter darüber berichtet. Das war der Grund, weshalb es das bevorzugte Netzwerk für Journalist*innen war und weshalb offizielle Institutionen es genutzt haben, um die Bevölkerung direkt mit Informationen zu versorgen. Auch Wissenschaftler*innen haben etwas verzögert entdeckt, dass Twitter eine ideale Plattform für Wissenschaftskommunikation war. Es war möglich, fast in jedem Wissensbereich mitzulesen, was Fachpersonen dazu denken.

Das schuf Anschlüsse für alle Menschen, die ihre Informationen und Meinungen einschleusen wollten. Da Twitter für viele vor der Informationsplattform eine Humorplattform war, geschah das oft auch mit einer gewissen ironischen Distanz, mit Memes und Lockerheit. Und da sich Menschen über Twitter informierten, konnten auch politische Aktivist*innen Anliegen einbringen und auf Probleme aufmerksam machen.

Twitter verschränkte Lokales mit globaler Reichweite, machte das Private politisch, demokratisierte Expertise und schuf die Möglichkeit, über private Chats eine Hinterbühne zu betreiben, auf der sich Menschen vernetzen konnte. Selbstverständlich mussten dabei schwache Menschen geschützt werden – was nicht immer gelang und ein hohes Maß an bewusster, ethisch reflektierter Moderation erfordern würde.

Ich selber habe Twitter als Wissensnetzwerk genutzt, habe mich mit Menschen verbunden, die Gehaltvolles zu Themenbereichen mitzuteilen hatten, die mich interessieren – und ich habe meine Meinungen und mein Wissen geteilt, so dass eine Datenbank entstand, die ich oft auch als Archiv benutzt habe: Wenn ich einen Link gesucht habe, so wusste ich, dass ich ihn sehr wahrscheinlich mal auf Twitter geteilt habe. Wenn ich in einem Aufsatz auf eine kritische Position eingehen wollte, so war klar, dass jemand wohl auf einen Tweet von mir reagiert hatte.

Diese Qualitäten von Twitter habe ich ideal beschrieben, auch weil ich sie aus einer privilegierten Position wahrgenommen habe. Ich konnte alle Vorteile von Twitter nutzen, hatte ein großes, recht früh verifiziertes Profil und eine entsprechende Reichweite. Das ist mir bewusst. Andere haben in viel stärkerem Ausmaß Ausgrenzung und Gewalt erfahren, wurden durch die Moderation nicht geschützt. In der Phase vor Musk hat Twitter Konten schneller gesperrt und User*innen bessere Mittel gegeben, um sich zu schützen (z.B. Replys oder DMs einschränken).

Zwei Entwicklungen haben dazu geführt, dass Twitter das Ideal nicht erreichen konnte: Erstens die professionellen Desinformationskampagnen von rechtsnationalistischen politischen Akteur*innen, zweitens die systematische Zerstörung der Moderation und unterstützender Aspekte (wie Verifizierung) durch Musk und sein Team. Heute ist Twitter eine Bühne für rechte Politik, auf der es unmöglich ist, Menschen vor Belästigung zu schützen.

Das hat Konsequenzen: Selbstverständlich ziehen sich Menschen zurück und suchen neue Räume. Politischer Aktivismus findet stärker auf Instagram statt, Berichterstattung auf TikTok. Wer einen Ersatz für Twitter sucht, nutzt Mastodon oder macht erste Schritte auf Bluesky, viele haben große Netzwerke auf LinkedIn oder Facebook und nutzen diese. Alle diese Plattformen haben Vor- und Nachteile, keine erreicht aber das Ideal, das Twitter während seiner besten Jahre erreicht hat: Reine Informationen und Expertise so direkt wie möglich zugänglich zu machen. Das hat mit zwei Gründen zu tun:

  1. Die erwähnten Plattformen wurden anders designt, sie sollen andere Erfahrungen ermöglichen sollen. Selbstverständlich können sie umgenutzt werden, das wirkt aber nie so stark wie eine Plattform, die ursprünglich gemacht wurde, um genau einen Satz zu teilen und bei der viele Menschen während Jahren wussten, dass sie direkt an vertrauenswürdige Informationen gelangen können.
  2. Die Plattformen sprechen fragmentierte Teile des Twitter-Netzwerks an. Niemand kann von Twitter weggehen und findet auf Mastodon, TikTok oder Facebook alle Kontakte, die bei Twitter vorher verfügbar waren. Das betrifft insbesondere auch offizielle Konten von NGOs, Regierungsorganisationen, Medien etc. – die haben oft Twitter genutzt, um gerade auch in Krisen verlässlich informieren zu können. Im Moment organisieren sie sich gerade neu.

Elon Musk hat ein historisches Projekt zerstört – ähnlich wie die deutschen Bibliotheken (und die Wechselhaftigkeit von Google) das bei Google Books getan haben. (Musk hat das wohl sehr bewusst und im Auftrag seiner saudi-arabischen Geldgeber getan.) Was Twitter z.B. als politisches Kommunikationsmittel war, war nie unkompliziert, wie etwa Zeynep Tufekci dokumentiert hat. Aber es gab ein Ideal, an das immer wieder Annäherungen stattfanden. Dieses Ideal ist mit Twitter gestorben – es steht auch hinter keiner anderen Plattform.

Mastodon verkörpert viele Ideale – die Plattform basiert auf offener Software, wird in dezentralen, autonomen Communities verwaltet und monetarisiert den Content von User*innen nicht. Weil aber übergreifende Algorithmen fehlen, die Spielregeln kompliziert sein müssen und das Geld fehlt, um Moderation und Entwicklung großen Teams von Fachpersonen zu übergeben, kann Mastodon nicht das umsetzen, was Twitter hätte sein können oder mal fast war. Mastodon steht für andere Ideale, wie die deutschen Bibliotheken: Sie sie nicht darum bemüht, alle je erschienenen Bücher global kostenlos zugänglich zu machen. Aber sie kümmern sich um ihre Communities, wie das Mastodon-Server auch machen.

Dasselbe gilt für alle anderen Anschlusslösungen an Twitter: Sie bedienen einzelne Bedürfnisse von Twitter-User*innen, aber nicht alle. So werden sich andere Konzepte ergeben, andere Verhältnisse von Fakten, Unterhaltung, politischem Aktivismus, Humor und Vernetzung. Die Twitter-Nische ist aktuell zu stark besetzt (Threads, die Plattform von Facebook/Meta, habe ich noch gar nicht erwähnt). Für User*innen ist unklar, welches der konkrete Nachfolger ist, weshalb es kein umfassendes Netzwerk mehr geben wird.

Das ist der Grund, weshalb ich im Moment mehr oder weniger offen Content parallel verteile. Ich poste mal einen Gedanken bei Mastodon, nutze X recht lustlos, scrolle Bluesky und schaue mir in der S-Bahn die Insta-Stories an. Mein Archiv bei Twitter/X brauche ich weiterhin und werde es noch einen Moment weiterführen. Nicht aus Überzeugung, sondern weil ich sonst für mich wichtige Informationen nicht mehr finden würde. Mein Konto bei X hat immer noch eine gewisse Reichweite, die ich ab und zu auch nutzen werde – aber die starken Communities und guten Diskussionen sind nur noch fragmentiert vorhanden. Und immer sind destruktive Profile sehr präsent.

(Nach dem Schreiben habe ich gemerkt, dass ich zu diesem Titel schon mal gebloggt habe. Aber halt anders.)

Illustration Midjourney (Twitter Bird crossed out by the black letter x, illustration)

Was ich an der Kantonsschule Enge gelernt habe

Vor sechs Jahren habe ich die Kantonsschule Wettingen verlassen, wo ich zwölf Jahre als Lehrer gearbeitet hatte. Zum Abschied hatte ich aufgeschrieben, was ich in Wettingen gelernt habe. Nun wechsle ich die Schule wieder, ab dem August arbeite ich an der Kantonsschule Uetikon. Das ist ein guter Zeitpunkt, einige Ergänzungen vorzunehmen.

Die 10 Punkte von 2017

  1. Gymnasien sind Schulen für privilegierte Schüler*innen und privilegierte Lehrpersonen
  2. Wirkungsvolles Lernen entsteht in Freiräumen, nicht in Bootcamps
  3. Wer etwas bewirken will, findet Freiräume
  4. Wer am Gymnasium arbeitet, muss sich immer wieder überflüssig machen
  5. Schulen können zu groß sein
  6. Persönliche und lokale Probleme können nicht durch Systemänderungen gelöst werden
  7. Lehrpersonen müssen sich auch als Vertreter*innen des Systems verstehen
  8. Teamteaching ist die beste Weiterbildung
  9. Eine Schule erhält ihr Profil in den Interaktionen mit den Lernenden
  10. Den Schüler*innen vertrauen

5 weitere Punkte von 2023

Die besten Stunden entstehen spontan und erfordern Agilität.

An der Enge habe ich mich völlig davon gelöst, Abläufe von Lektionen zu planen. Ich bereite Material vor und überlege mir, welche Lernziele ich mit Klassen bearbeiten möchte. Gleichzeitig rechne ich aber mit Abschweifungen und spontanen Ideen, denen ich Raum geben kann. So gebe ich der Situation und den Klassen Priorität vor meinen Vorbereitungen, der Unterricht ist abgestimmt auf das, was in einem Schulzimmer passiert – und versucht nicht, das Geschehen an die Vorstellungen der Lehrperson anzupassen.

Es ist schwer, als Lehrer die Früchte der eigenen Arbeit wahrzunehmen.

Den Schwerpunkt beim Schreiben auf den Lesefluss, das Einfache zu legen, das haben Sie uns definitiv gut vermittelt. Oder zumindest denen, die sich dafür interessieren.

Reflexion einer Schülerin

Immer wieder merkt man als Lehrer, dass bei Schüler*innen etwas hängen bleibt. Viel öfter sind keine Veränderungen zu sehen: Die Jugendlichen versuchen, die Tage zu überstehen, Prüfungen zu bewältigen, wieder nach Hause zu gehen. Wir Lehrer*innen investieren viel Arbeit, von der aber wenig sichtbar ist. Das ist mir an der Enge sehr bewusst geworden. Gleichzeitig aber auch: Es bleibt immer etwas hängen. Die große Entwicklung, die Jugendliche zwischen 14 und 19 durchlaufen, erfolgt auch an der Schule, auch in meinem Unterricht.

Beziehungen und Vertrauen stehen über allem.

In der Pandemie-Krise wurde für mich deutlich, dass Unterricht nur dann im Fernsetting funktioniert hat, wenn das Vertrauen zu Klassen und zwischen Lehrpersonen gegeben war. Die Bedeutung von Beziehungen und Vertrauen gilt für alles, was an Schulen läuft. Als ich neu an der Enge war, war ich in meiner Wahrnehmung ein Senior-Lehrer, wurde aber von vielen Kolleg*innen als Junior angesehen. Entsprechend wurden Voten in Konferenzen mit wenig Verständnis aufgenommen. Ich war nicht in der Position, Argumente vorzubringen – weil ich die entsprechenden Beziehungen nicht hatte, das Vertrauen fehlte. Hier spielte keine Rolle, was meine Rechte waren – ich konnte sie nicht wahrnehmen, mich nicht einbringen, weil das soziale Gefüge gefehlt hat. Später war das anders, ich hatte Freund*innen an der Schule gefunden und ein Gefühl dafür, wo ich mich wie äußern konnte und was Wirkung entfalten könnte.

Umgekehrt lief das bei Klassen: Weil dort schnell Vertrauensverhältnisse bestanden, musste ich mich immer mal wieder über Regeln hinwegsetzen, die an der Schule gelten sollten. Ich konnte aufgrund von Beziehungen nicht auf Regeln verweisen, sondern musste als verlässliche Bezugsperson der Jugendlichen handeln.

Als erwachsener Lehrer kann ich mich nur bedingt verändern.

In meiner Zeit an der Enge habe ich eine depressive Phase erlebt, in deren Verlauf ich eine Therapie in Anspruch nahm. Dabei ist mir bewusst geworden, dass ich vieles an mir nicht ändern kann: Wer ich als Mensch und Pädagoge bin, ist bestimmt. Natürlich kann ich Vegetarier werden, was ich vor einigen Jahren gemacht habe, oder ich kann täglich joggen gehen, womit ich vor zwei Jahren begonnen habe. Aber ich kann nicht mit Jugendlichen streng sein, wenn ich sie verstehe. Meine pädagogischen Haltungen sind fixiert, wie auch meine Sicht auf die Welt. Daran wird sich so schnell nichts ändern.

»Don’t ask for permission«.

Irgendwann während meiner Zeit an der Enge habe ich »Disobedient Teaching« von Welby Ings gelesen. Er schreibt in der Einleitung:

Disobedient teaching is what happens when you close the door on your classroom or office and try unconventional things because your professional compass tells you that it is right. It doesn’t wait for permission.

Disobedient Teaching, p. 14

Der Slogan hat einen zweiten Teil: »Don’t ask for permission, ask for forgiveness.« Nur: Wer etwas Richtiges und Wichtiges tut, braucht keine Vergebung. Ich habe mich an der Enge über Vorgaben bezüglich Absenzenentschuldigung hinweggesetzt und von Schüler*innen verlangt, sich vor, nicht nach gefehlten Lektionen direkt bei den unterrichtenden Lehrpersonen abzumelden. Ich habe an Abschlussprüfungen nicht nur Belletristik geprüft, sondern auch Filme und Computerspiele. In beiden Fällen habe ich niemanden gefragt, sondern es einfach gemacht – weil ich gute Gründe angeben kann, weshalb das so, wie ich es mache, im Sinne der Schüler*innen, der Schulkultur und des Lernens ist.

Wells schreibt am Schluss des ersten Kapitels:

If you want to alter the conditions around you, you have to learn to work with people, and you need to have people who love you.

Das ist die Kehrseite dieses Vorgehens: Nur, wenn es von anderen gestützt und geteilt wird, hat es eine Wirkung. Auch das ist mir in den letzten Jahren bewusst geworden.

Schulzimmer der Kantonsschule Enge, 2020

KI und das problematische Versprechen der Individualisierung

Individualisierung ist aus zwei Gründen in der Fokus der Schulentwicklung und der Bildungspolitik geraten: Erstens wird deutlich, dass jede Klasse heterogen ist und Lernangebote nicht auf Gruppen, sondern auf einzelne Schüler*innen zugeschnitten werden müssen. Unterricht wird besser, wenn er auf persönliche Voraussetzungen abgestimmt ist, weil Lernen ein individueller Prozess ist. Zweitens hat die Ausstattung der Schulen die mediale Möglichkeit geschaffen, jedem Schüler und jeder Schülerin ihre eigene Lernumgebung zur Verfügung zu stellen. Sollten 1:1- oder BYOD-Settings sinnvoll genutzt werden, dann muss eine individualisierte Nutzung stattfinden.

Digitalisierung war immer schon an das Versprechen der Individualisierung gebunden. Mit KI-Möglichkeiten steigert sich dieses Versprechen. Ein Informatik-Kurs in Harvard bietet neu einen Bot, der in der Rolle eine Professorin agieren soll:

Unsere Hoffnung ist, dass wir dank KI ein Eins-zu-Eins-Lehrer-Schüler-Verhältnis im Kurs CS50 schaffen können, indem wir den Studierenden softwarebasierte Tools zur Verfügung stellen, die sie 24/7 beim Lernen unterstützen, ganz individuell auf ihre Art und Geschwindigkeit des Lernens zugeschnitten.

David Malan, zitiert nach Weindl 2023

Die Individualisierung geht über die Modulzeiten hinaus, sie wird umfassend. Ihre Begründung ist eine pädagogische: Der Einsatz von KI schafft ein optimales Betreuungsverhältnis. Alle Lernenden werden von einem KI-Bot betreut.

Philip Stade hat in einer Kritik dieses Arguments darauf hingewiesen, dass »Individualisierung« in diesem technischen Verständnis die Kehrseite eines Bildungssystems ist, das individuelle Beziehungen verunmöglicht. Er schreibt:

Im Sog der digitalen Transformation wollen in letzter Zeit immer mehr Schulen die 1:1-Ausstattung einführen. KI wird dadurch als Scheinlösung für die Probleme der Individualisierung „natürlich“ auf dem Präsentierteller dargeboten. Sowohl die 1:1-Ausstattung als auch KI werden von vielen als alternativlos für Schulen geframt.

Stade 2023

Was Stadt mit Scheinlösung meint: Individualisierung bedeutet ursprünglich, dass sich eine Lehrperson kümmert, die Bedürfnisse von Lernenden wahrnimmt, sich darauf einlässt, für Lernende ein Gegenüber darstellt. Die KI hingegen ist eine technische Erweiterung unserer eigenen Person, sie bietet keine andere Perspektive, keine Reibung, keine Reaktion.

KI-Individualisierung ist deshalb eine Scheinlösung, weil es an Möglichkeiten fehlt, im System auf Schüler*innen individuell einzugehen. Ich habe vor ein paar Jahren schon darauf hingewiesen, dass technische Lösungen oft personalisierte Bildung an die Stelle persönlicher Bildung setzen. Damit meine ich: Bildungsprozesse werden aus einem sozialen und demokratischen Rahmen gelöst. Die Frage nach dem Sinn des Lernens, dem Ziel wird entfernt, die technische Lösung garantiert, dass Lernen geglättet und optimiert wird. Wer mit einem KI-Bot lernt, kommt voran und erhält Lernaufgaben, die auf das eigene können abgestimmt sind. Aber weshalb diese Lernaufgaben gelöst werden müssen, wie Entscheidungen gefällt werden – das kann die KI nicht besprechen. Sie ist programmiert. Sie entscheidet nicht, sie funktioniert. Sie hat keine Erfahrungen, sondern greift auf Daten zu.

Individualisierung muss im Rahmen persönlicher Bildung erfolgen. Sie muss Menschen in ihren Entscheidungskompetenzen stärken, sie in die Frage nach dem Sinn des Lernens einbeziehen. Wenn KI dabei hilft, kann sie Individualisierung unterstützen. Sobald sie aber eine Verlegenheitslösung ist, weil echte Individualisierung nicht möglich ist, wird sie zu einem Machtapparat, die Menschen den Zugang zu Entscheidungen erschwert und es verhindert, Sinnfragen zu stellen.

Educating – der Gegenbegriff zu Studenting

Studenting ist ein Begriff, der Verhaltensweisen von Schüler*innen beschreibt, die sie als Reaktion auf Unterrichtssituationen zeigen. Analysiert man Studenting, bemerkt man, dass Lernende viele Dinge tun, die nicht direkt mit Lernen verbunden sind. Sie tun diese aber aus rationalen Gründen: Oft ist es für sie effizienter, Hausaufgaben abzuschreiben, Arbeitseinsatz oder Aufmerksamkeit nur vorzugeben oder einfach die Lehrperson nachzuahmen, als Aktivitäten, die (stärkere) Lerneffekte hätten. Auch negative Aspekte von Studenting sind rational. Sie erzeugen bei Lehrenden den Eindruck, alle laufe so, wie es sollte – obwohl das nicht der Fall ist.

Lehrpersonen tun etwas Ähnliches. Antoinette Weibel hat vorgeschlagen, diese Verhaltensweisen unter dem Begriff Educating zu subsumieren. Gemeint wäre also das, was Lehrpersonen an Schulen und im Unterricht tun, unabhängig davon, ob es Lernprozesse bei Schüler*innen auslöst oder nicht. Analysiert man diese Verhaltensweisen (was in wissenschaftlichen Arbeiten passiert, ein Beispiel findet sich hier), dann dürfte sich zeigen, dass einige davon direkt aufs Lernen von Schüler*innen bezogen sind, andere nicht. Lehrpersonen handeln auch mit anderen Zielen, z.B:

  • sie wollen Schüler*innen dazu bringen, sich ruhig oder anständig zu verhalten
  • sie wollen sich zusätzlichen Aufwand ersparen
  • sie wollen sich keine Blöße geben und von den Schüler*innen als kompetent wahrgenommen werden
  • sie wollen den Eindruck erzeugen, eine kompetente Lehrperson zu sein
  • sie wollen sozial erwünschte Verhaltensweisen zeigen (in Bezug auf Klassen oder in Bezug auf Kolleg*innen)
  • sie ahmen Handlungsmuster nach, die sie in der Ausbildung oder von Kolleg*innen gelernt haben.

Für all diese Ziele gilt, dass die damit verbundenen Handlungen, also das Educating, aus nachvollziehbaren Gründen erfolgt. Nur bringt es halt auch Verhaltensweisen hervor, die nicht lernförderlich sind. Ein Beispiel: Zu lange Lehrvorträge. Sie fühlen sich für Lehrende nicht nur so an, als machten sie ihren Job gut, sondern erzeugen auch den Eindruck, der Stoff würde »durchgenommen«, »behandelt« – obwohl die Lehrperson einfach vorträgt.

Kantonschule Enge, Zürich, Unterricht Halbklasse, Lehrer: Philippe Wampfler, Februar 2021.

Studenting – ein wichtiger Begriff

In seinem »Thinking Classroom«-Buch erwähnt Peter Liljedahl einen Begriff, der für mich ein zentrales Problem der Schule auf den Punkt bringt: Studenting.

In einem Aufsatz von 2013 hat er den Begriff (zusammen mit Darien Allan) ausführlicher entwickelt. Dort schreibt er zur Definition:

Taken together, the understanding of studenting as what students do while in a learning situation expands our ability to talk about student behaviour in classroom settings.

Liljedahl & Allan (2013): Studenting, S. 1

Liljedahl erwähnt eine exemplarische Anekdote: Ein Schüler schreibt die Hausaufgaben ab, weil er weiß, dass sie benotet werden. Die Lehrerin hat den Eindruck, der Schüler habe aufgepasst und zuhause gearbeitet. Der Schüler hat den Eindruck, er habe eine gute Note verdient, schließlich sind seine Hausaufgaben vollständig und richtig gelöst.

Sein Studenting ist eine Reaktion auf die Schule als System. Der Schüler verhält sich systemkonform, er erfüllt die Anforderungen. Aber: Er lernt nicht das, was er lernen sollte. Er denkt nicht, er setzt sich nicht mit Lerngegenständen auseinander, sondern er schreibt ab.

Studenting, so betonen Liljedahl und Allan, ist vernünftiges Verhalten. Es ist rational, Anforderungen effizient zu erfüllen. Doch es führt zu Problemen, weil es vom Lernen ablenkt. Die Autoren haben in einer Klasse eine Übungsphase untersucht, in der Lernende ähnliche Aufgaben lösen sollen, welche die Lehrperson vorher mit der Klasse gelöst hat (»now you try one«). Dabei haben sie fünf zentrale Verhaltensweisen herausgearbeitet, die zu Studenting gehören. Vier davon sind problematisch, eine nicht:

  1. Fehlende Motivation.
    Lernende passen nicht auf, arbeiten nicht, wenn sie dafür Zeit erhalten, beschreiben sich als müde oder gelangweilt, prokrastinieren.
  2. Zeitvertrieb.
    Lernende tun etwas, damit die Zeit rumgeht: Sie gehen zur Toilette, spitzen einen Bleistift, füllen die Wasserflasche auf etc.
  3. Faken.
    Schüler*innen tun so, als ob sie arbeiten würden, tun es aber nicht.
  4. Rezepte befolgen.
    Lernende arbeiten Schritte ab, die sie ihren Notizen entnehmen. Sie verstehen nicht, was sie tun, sondern ahmen nach, was die Lehrperson gemacht hat.
  5. Schlüsse ziehen.
    Diese Lernenden denken über die Probleme nach, arbeiten sie aus verschiedenen Perspektiven durch und vergleichen ihre Lösungen mit anderen Beispielen. Dabei repetieren sie nicht vorgegebene Lösungsschritte, sondern arbeiten an ihrem Verständnis.

Liljedahl und Allan analysieren diese Verhaltensweisen in einer konkreten Klasse wie folgt:

23 out of 29 (79%) students were subverting the intentions of the teacher, and doing so in ways that the teacher was not aware of. […] From the perspective of the students, they were not trying to test their understanding. They were copying and following the rules – neither of which is what Ms. Duo [die Lehrerin] intended.

These findings are consistent with our research in other contexts as well. Across the board students are finding ways to game the expectations of the teacher in ways that the teacher is not aware of. In many cases these behaviours are centred on proxies for learning and understanding, such as mimicking, that are not actually conducive to learning – but appear to be in alignment with the teacher’s goals.

Liljedahl & Allan (2013): Studenting, S. 7

Kurz gesagt sieht Studenting für Lehrende oft so aus, als würden die Lernenden die angestrebten Ziele erreichen – obwohl das gerade nicht der Fall ist. Gleichzeitig ist es aus der Sicht der Schüler*innen vernünftig, nicht wirklich zu lernen, sondern nur so zu tun.

Das bedeutet, dass Unterricht so gestaltet werden muss, dass Studenting lernwirksam erfolgt. Es sollte für Lernende wenig bringen, wenn sie Dinge tun, die nicht direkt mit ihrem Lernen verbunden sind. Ein schlagendes Beispiel aus Liljedahls Buch sind Hausaufgaben. Er beschreibt eine Untersuchung von 200 Schüler*innen. Werden die Hausaufgaben bewertet, zeigen die Lernenden vier Formen von Studenting, die fast gleichmäßig verteilt sind:

  1. Sie erledigen die Hausaufgaben selbständig. (erwünscht)
  2. Sie holen Hilfe. (erwünscht)
  3. Sie schreiben ab. (nicht erwünscht)
  4. Sie machen die Hausaufgaben nicht. (nicht erwünscht)

Was passiert, wenn die Hausaufgaben nicht bewertet werden?

  • Der Anteil der Schüler*innen, welche die Hausaufgaben nicht machen, steigt leicht an,
  • gleichzeitig reduziert sich der Anteil der Schüler*innen, welche abschreiben, sehr deutlich
  • dadurch steigt der Anteil der Schüler*innen, die erwünschte Verhaltensweisen zeigen.

Studenting ist eine Falle für Lehrpersonen: Verhaltensweisen von Schüler*innen erwecken bei Lehrenden den Eindruck, der Unterricht funktioniere, auch wenn das nicht der Fall ist. Sinnvolle Maßnahmen können im ersten Schritt den Eindruck erzeugen, die Schüler*innen würden weniger lernen, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Gleichzeitig handelt es sich oft um eine Balance: Im Sommer arbeiten viele Schüler*innen von mir draußen. Einige erledigen dabei nicht meine Aufträge, sondern bereiten sich auf Prüfungen in anderen Fächern vor oder vertreiben sich die Zeit. Sobald ich strenger werde, beginnen Schüler*innen so zu tun, als würden sie für mein Fach arbeiten. Das bringt nichts. Lasse ich aber offen zu, dass sie nicht arbeiten, lenken sie sich gegenseitig ab.

Das Problem an »Bauchgefühl«-Medienpädagogik

Die Diskussionen um die Mediennutzung von Jugendlichen sind emotional und moralisch aufgeladen. Erwachsene merken, dass Jugendliche viel Zeit mit digitalen Medien verbringen. Daran knüpfen sie Befürchtungen, die durch weitere Beobachtungen schnell genährt werden, weil der Confirmation Bias spielt: Wir nehmen die Welt selektiv wahr, um unsere Annahmen zu stützen. Wer also denkt, TikTok konfrontiere Jugendliche mit krassen Gewaltdarstellungen, wird alle Fälle, bei denen sowas beschrieben wird, als Bestätigung lesen, umgekehrt aber kaum wahrnehmen, wie viele Jugendliche TikTok gewaltfrei erleben.

»Bauchgefühl«-Medienpädagogik bedeutet also, dass Pädagog*innen Mediennutzung mit vorgefertigten Haltungen betrachten und diese Haltungen nicht durch Daten oder Erfahrungen korrigieren, wenn das angezeigt wäre. Oft schlagen sie aus diesem Grund untaugliche Maßnahmen vor und versuchen auch mit problematischen Mitteln, Jugendliche und andere Pädagog*innen von ihren Haltungen zu überzeugen.

»Bauchgefühl«-Medienpädagogik ist mit einer Reihe von Problemen verbunden:

  • Pauschalisierung
    Aus bestimmten, oft drastischen Fällen wird abgeleitet, dass alle Kinder und Jugendlichen ähnlichen Situationen gegenüberstehen. Das stimmt oft nicht.
    Was passiert, ist der »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«-Effekt: Die drastischen Fälle machen die medienpädagogischen Bemühungen unglaubwürdig, wie die Darstellungen der Drogenszene in Westberlin die Präventionsarbeit in den 80er-Jahren unterlaufen hat. Im schlimmsten Fall erzeugen die Pauschalisierungen eine Faszination für etwas, was die jungen Menschen vorher noch gar nicht kannten.
  • Verbote
    Aus einer einseitigen Sicht auf Probleme werden oft Verbote als Maßnahme abgeleitet. Diese erstrecken sich dann z.B. auf schulische Kontexte oder auf bestimmte Familien. Die Wirkung der Verbote ist nicht nachhaltig: Kinder und Jugendliche umgehen sie entweder oder leiden darunter, dass ihnen pauschal auch Dinge untersagt werden, die gar nicht problematisch sind (also z.B. die witzigen Comedy-Videos auf TikTok auch nicht mehr zugänglich sind, weil sie die App löschen mussten).
  • Adultismus
    Hinter Bauchgefühl-Medienpädagogik steckt ein adultistisches Verständnis des Umgangs mit Medien. Erwachsene stülpen Jugendlichen ihre eigenen Werte und Wahrnehmungen über, entscheiden für sie und manipulieren sie so, dass sie das sagen, was Erwachsene hören wollen.
  • anekdotische und biografische Evidenz
    »Bauchgefühl«-Medienpädagogik entsteht oft aus singulären Eindrücken, die in Bezug auf die eigene Medienbiografie von Erwachsenen gesetzt werden. Ein Kind erhält ein Porno-Video zugeschickt – »ich habe den ersten Porno-Film erst gesehen, als ich schon erwachsen war«.
    Dieser Mechanismus verhindert eine differenzierte Betrachtung, weil die Anekdoten und die eigene Wahrnehmung von medialen Vorgängen absolute Priorität erhält.
  • Kulturpessimismus
    Das Bauchgefühl führt oft dazu, den Eindruck zu erhalten, ein Problem sei heute so ausgeprägt wie noch nie in der Vergangenheit. In Bezug auf Kultur stimmt das praktisch nie. Oft entstehen Kompetenzen und gemeinschaftliche Praktiken, wenn Phänomene häufiger auftauchen; Menschen entwickeln Filter und Bewältigungsstrategien. Sie werden bei Belastungen im einen Bereich in anderen Bereichen entlastet.

Wie lässt sich ein besserer Zugang zu Medienpädagogik finden? Das ist eigentlich recht einfach und erfordert vier Formate bzw. Reflexionsanlässe:

  1. Mit diversen Gruppen von Kindern und Jugendlichen offen sprechen.
    Offene Gesprächsanlässe und neutrale Fragen helfen, verschiedene Perspektiven zu vergleichen.
    a) »Erzählt mal alle von etwas, was euch letzte Woche online aufgefallen ist.«
    b) »A hat kürzlich das erlebt. Wie würdet ihr in so einer Situation reagieren?« 
    c) »Was würde euch im Umgang mit X helfen? Was sollte die Schule machen, damit euch das leichter fällt?« 
  2. Massnahmen mit Betroffenen evaluieren.
    Wenn bestimmte Regeln oder Verbote eingeführt werden, sollten die periodisch mit den Betroffenen reflektiert werden. So wird ihnen erstens klar, weshalb diese Regeln gelten – und die Wirkung der Regeln wird zweitens mit dem realen Erleben abgeglichen.
  3. Daten erheben oder studieren.
    Zu vielen medienpädagogischen Fragen gibt es Ergebnisse von Umfragen. Sie können helfen, Phänomene im korrekten und allgemeinen Kontext zu sehen.
  4. Unfälle, Extremfälle und eigenes Erleben reflektieren.
    Krasse Situationen und Schicksale (Bahnhof Zoo) faszinieren Menschen. Sie sind aber Ausnahmen, extreme Pole. Genauso ist unsere eigene Vergangenheit eine Möglichkeit, wie ein Leben verlaufen kann – es gibt viele andere. Sich das immer wieder bewusst zu machen hilft dabei, die Welt nicht so zu sehen, als bestünde sie nur aus extremen Problemen und als müsste sie eigentlich so sein, wie wir unsere Vergangenheit erlebt haben.
Unsplash, Rodion Kutsaiev