Lieber Gerd
Fast alle Erzählungen über die Probleme des »Wokeismus«, wie du schreibst, beginnen mit einer Anekdote, die meist erfunden ist. Bei deinem Text über das Schulklima am Gymnasien erzählst du in dieser Anekdote, dass deine Schüler*innen Englisch mit unterschiedlichen Akzenten sprächen, was du gar nicht zulassen dürftest, wärst du nicht so herrlich politisch unkorrekt und tolerant.
Meines Wissens hat bislang niemand gefordert, Schüler*innen dürften im Englischunterricht bestimmte Dialekte nicht mehr sprechen. Von Schüler*innen höre ich aber immer wieder, dass bestimmte Wörter im Englischunterricht tabu seien: Fluchen dürften sie nicht, Englischlehrpersonen legten auch Wert auf Standardgrammatik und ließen es nicht zu, dass jemand »she don’t care« sagt, was in vielen Dialekten durchaus korrekt wäre, aber halt nicht der Norm entspricht. Könnte ich mit Sara sprechen, würde ich sie gerne fragen, wie das in deinem Unterricht ist. Gibt es da auch Wörter, die du nicht zulässt, oder grammatikalische Formulierungen, die du korrigierst?
Wenn ja, dann gehört das doch einfach zu den fachlichen und sozialen Aushandlungsprozessen, die es Schulen gibt. Ob es hilft, das als »totalitäre, eifernde, intolerante und humorlose Ideologie« zu bezeichnen, wie du das in Bezug auf Fragen machst, die du als »woke« abtust? Ich bezweifle es. (Wenn ich, als etwas jüngerer und urbanerer Lehrer, deinen Text lese, dann habe ich nie den Eindruck, du wärst ein humorvoller, entspannter oder toleranter Kollege.)
Die Schüler*innen und Kolleg*innen, die du als »woke« bezeichnen würdest, sind aus meiner Sicht die, welche Gymnasien am Leben erhalten. Sie erlauben es sich, Bedürfnisse auszudrücken und glauben daran, dass Schulen sich wandeln können. Deine Frage, ob Gymnasien »Athen oder Sparta« oder »USA oder China/Russland« sein sollen, stellt sich nämlich nicht. Wir müssen uns nicht zwischen Polen entscheiden, sondern können vor Ort Lösungen finden, die den Bedürfnissen der Personen entsprechen, jenseits von schematischen oder antiken Vorstellungen. Und wenn Schüler*innen mir sagen, sie möchten nicht mit bestimmten Wörtern, Themen oder Praktiken konfrontiert werden, weil sie das belaste und verletze, dann ist Humor keine adäquate Reaktion auf dieses Anliegen. Über etwas zu lachen, was andere stört, ist ein Verhalten, das mich irritiert. Dasselbe gilt dafür, wenn Schüler*innen und Kolleg*innen auf Diskriminierung und Machtstrukturen aufmerksam machen. Wir privilegierten Männer haben davon mit Sicherheit profitiert und könnten die Kritik annehmen, ohne sie mit Scherzen wegzuwischen.
Wenn wir wirklich an Toleranz glauben, an Respekt, an Kultur und an wissenschaftlichen Fortschritt, dann finden wir Wege, Gymnasien zu guten und gerechten Orten für alle zu machen. Wir müssen solchen Anliegen nicht die Legitimation absprechen, indem wir sie schematisch als Verbotskultur bezeichnen. Genauso müssen wir heute nicht so handeln, sprechen oder schreiben, wie wir das früher gelernt haben. Schüler*innen und Kolleg*innen mit Anliegen müssen wir weder mit einem Label verstehen noch als Teil einer problematischen Ideologie sehen, wir können sie einfach ernst nehmen. Sie sind ein wichtiger Teil jeder Schule, für mich der wichtigste. Sie als Problem darzustellen, ist unfair und auch feige, Gerd. Das Privileg, in der NZZ deine Ansichten ausbreiten zu können, hättest du besser nutzen können, als engagierten Menschen das Leben schwer zu machen.
Ich schließe mit einer Anekdote: In meinem Lateinunterricht an der Kantonsschule Baden haben Lehrpersonen immer wieder auf die Commentarii de bello Gallico von Caesar verwiesen. Die sprachliche und analytische Kraft dieses Werkes hat sie stark beeindruckt, sie waren bemüht, uns eine Wertschätzung dafür zu vermitteln. Was sie uns nie gesagt haben: Dass es sich dabei um Propaganda handelte, mit der Caesar einen brutalen Völkermord legitimiert und inszeniert hat. Hätte ich damals auf dieses Problem aufmerksam machen können, wäre unser Unterricht deutlich besser geworden. In diesem Sinne wünsche ich meiner und deiner Schule viel mehr »woke« Schüler*innen und Kolleg*innen. Und dir den nötigen Humor und die nötige Toleranz, dass du dich darauf einlassen kannst.
Mit kollegialen Grüssen
Philippe











