Studenting – ein wichtiger Begriff

In seinem »Thinking Classroom«-Buch erwähnt Peter Liljedahl einen Begriff, der für mich ein zentrales Problem der Schule auf den Punkt bringt: Studenting.

In einem Aufsatz von 2013 hat er den Begriff (zusammen mit Darien Allan) ausführlicher entwickelt. Dort schreibt er zur Definition:

Taken together, the understanding of studenting as what students do while in a learning situation expands our ability to talk about student behaviour in classroom settings.

Liljedahl & Allan (2013): Studenting, S. 1

Liljedahl erwähnt eine exemplarische Anekdote: Ein Schüler schreibt die Hausaufgaben ab, weil er weiß, dass sie benotet werden. Die Lehrerin hat den Eindruck, der Schüler habe aufgepasst und zuhause gearbeitet. Der Schüler hat den Eindruck, er habe eine gute Note verdient, schließlich sind seine Hausaufgaben vollständig und richtig gelöst.

Sein Studenting ist eine Reaktion auf die Schule als System. Der Schüler verhält sich systemkonform, er erfüllt die Anforderungen. Aber: Er lernt nicht das, was er lernen sollte. Er denkt nicht, er setzt sich nicht mit Lerngegenständen auseinander, sondern er schreibt ab.

Studenting, so betonen Liljedahl und Allan, ist vernünftiges Verhalten. Es ist rational, Anforderungen effizient zu erfüllen. Doch es führt zu Problemen, weil es vom Lernen ablenkt. Die Autoren haben in einer Klasse eine Übungsphase untersucht, in der Lernende ähnliche Aufgaben lösen sollen, welche die Lehrperson vorher mit der Klasse gelöst hat (»now you try one«). Dabei haben sie fünf zentrale Verhaltensweisen herausgearbeitet, die zu Studenting gehören. Vier davon sind problematisch, eine nicht:

  1. Fehlende Motivation.
    Lernende passen nicht auf, arbeiten nicht, wenn sie dafür Zeit erhalten, beschreiben sich als müde oder gelangweilt, prokrastinieren.
  2. Zeitvertrieb.
    Lernende tun etwas, damit die Zeit rumgeht: Sie gehen zur Toilette, spitzen einen Bleistift, füllen die Wasserflasche auf etc.
  3. Faken.
    Schüler*innen tun so, als ob sie arbeiten würden, tun es aber nicht.
  4. Rezepte befolgen.
    Lernende arbeiten Schritte ab, die sie ihren Notizen entnehmen. Sie verstehen nicht, was sie tun, sondern ahmen nach, was die Lehrperson gemacht hat.
  5. Schlüsse ziehen.
    Diese Lernenden denken über die Probleme nach, arbeiten sie aus verschiedenen Perspektiven durch und vergleichen ihre Lösungen mit anderen Beispielen. Dabei repetieren sie nicht vorgegebene Lösungsschritte, sondern arbeiten an ihrem Verständnis.

Liljedahl und Allan analysieren diese Verhaltensweisen in einer konkreten Klasse wie folgt:

23 out of 29 (79%) students were subverting the intentions of the teacher, and doing so in ways that the teacher was not aware of. […] From the perspective of the students, they were not trying to test their understanding. They were copying and following the rules – neither of which is what Ms. Duo [die Lehrerin] intended.

These findings are consistent with our research in other contexts as well. Across the board students are finding ways to game the expectations of the teacher in ways that the teacher is not aware of. In many cases these behaviours are centred on proxies for learning and understanding, such as mimicking, that are not actually conducive to learning – but appear to be in alignment with the teacher’s goals.

Liljedahl & Allan (2013): Studenting, S. 7

Kurz gesagt sieht Studenting für Lehrende oft so aus, als würden die Lernenden die angestrebten Ziele erreichen – obwohl das gerade nicht der Fall ist. Gleichzeitig ist es aus der Sicht der Schüler*innen vernünftig, nicht wirklich zu lernen, sondern nur so zu tun.

Das bedeutet, dass Unterricht so gestaltet werden muss, dass Studenting lernwirksam erfolgt. Es sollte für Lernende wenig bringen, wenn sie Dinge tun, die nicht direkt mit ihrem Lernen verbunden sind. Ein schlagendes Beispiel aus Liljedahls Buch sind Hausaufgaben. Er beschreibt eine Untersuchung von 200 Schüler*innen. Werden die Hausaufgaben bewertet, zeigen die Lernenden vier Formen von Studenting, die fast gleichmäßig verteilt sind:

  1. Sie erledigen die Hausaufgaben selbständig. (erwünscht)
  2. Sie holen Hilfe. (erwünscht)
  3. Sie schreiben ab. (nicht erwünscht)
  4. Sie machen die Hausaufgaben nicht. (nicht erwünscht)

Was passiert, wenn die Hausaufgaben nicht bewertet werden?

  • Der Anteil der Schüler*innen, welche die Hausaufgaben nicht machen, steigt leicht an,
  • gleichzeitig reduziert sich der Anteil der Schüler*innen, welche abschreiben, sehr deutlich
  • dadurch steigt der Anteil der Schüler*innen, die erwünschte Verhaltensweisen zeigen.

Studenting ist eine Falle für Lehrpersonen: Verhaltensweisen von Schüler*innen erwecken bei Lehrenden den Eindruck, der Unterricht funktioniere, auch wenn das nicht der Fall ist. Sinnvolle Maßnahmen können im ersten Schritt den Eindruck erzeugen, die Schüler*innen würden weniger lernen, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Gleichzeitig handelt es sich oft um eine Balance: Im Sommer arbeiten viele Schüler*innen von mir draußen. Einige erledigen dabei nicht meine Aufträge, sondern bereiten sich auf Prüfungen in anderen Fächern vor oder vertreiben sich die Zeit. Sobald ich strenger werde, beginnen Schüler*innen so zu tun, als würden sie für mein Fach arbeiten. Das bringt nichts. Lasse ich aber offen zu, dass sie nicht arbeiten, lenken sie sich gegenseitig ab.