Rezension: Schüll – Addiction by Design

Das Slotmachine-Buches von Natasha Dow Schüll, »Addiction by Design«, habe ich aus zwei Gründen in zwei Nächten gelesen: Erstens bin ich selbst anfällig für das Spiel an scheinbar stumpfsinnigen Maschinen und kann mich gut in die Menschen einfühlen, die im Buch zur Sprache kommen. Zweitens zeigt das Buch, welche Bedeutung die Interaktion von Menschen mit Maschinen hat. Damit ist nicht gemeint, dass technologische Hilfsmittel Kommunikation oder Interaktion zwischen Menschen ermöglichen oder erleichtern, sondern dass sie an ihre Stelle treten. Am Beispiel von Glücksspielen kann so viel über die Faszination von Social-Media-Plattformen gelernt werden.  

Das Buch erschien 2012 bei der Princeton University Press, ich habe es als Kindle-E-Book gelesen. Wer das Buch nicht lesen mag, kann sich mit einem ausführlichen Blogpost von Schüll einlesen.
Ebenfalls empfehlenswert zum Thema: Blackjack, Folge 466 von This American Life. 

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»Guns don’t kill people, people kill people.« Dieses Standardargument der NRA, der Waffenlobby in den USA, wird häufig auch auf Technologie übertragen: Sie sei neutral, weil Menschen mit ihrer Hilfe lediglich tun, was sie ohnehin täten. Der Gedanke ist ähnlich naiv wie sein Gegenteil, der Technikdeterminismus: Menschen werden dabei auf ihre Reaktionen gegenüber technischen Möglichkeiten reduziert. Sie töten, weil sie ein Gewehr in der Hand halten. Schüll lehnt beide ab. Sie verwendet ein Interaktionsmodell: Die Spielsucht, die sie beschreibt, interpretiert sie weder als Resultat von menschlichen Eigenschaften oder Anfälligkeiten noch als reinen Effekt der Präsenz von Slotmachines (Pos. 500ff.) . Sie entsteht durch das Zusammenspiel entsprechend veranlagter Menschen mit entsprechend konstruierten Maschinen.

Gambling-Ecke im Luckys Supermarkt, Las Vegas. Bild: N. D. Schüll
Gambling-Ecke im Lucky’s Supermarkt, Las Vegas. Bild: N. D. Schüll

Schüll hat in Las Vegas geforscht. Die Spielindustrie hat die Bevölkerung der Stadt längst als Einnahmequelle entdeckt: Zwei Drittel der Ansässigen spielen regelmäßig, wiederum zwei Drittel davon können als abhängig bezeichnet werden. Die Menschen, die Schüll zu Wort kommen lässt und deren Sucht sie interessiert, spielen nicht in den protzigen Casinos. Das Spiel ist fest in ihren Alltag integriert, wie die Karte zeigt, die Mollie für die Autorin gezeichnet hat. Die Spielsüchtige arbeitet im Hotel des MGM-Casinos. Auf der Heimfahrt tankt sie oft bei 7-Eleven – und spielt dort gleichzeitig. Beim oben abgebildeten Supermarkt »Lucky’s« kauft sie ein, am Wochenende spielt sie im Palace-Station-Casino. Die unteren beiden Station zeigen die Hilfe, die sie bezieht: Die Medikamente, die sie in der Apotheke holt, sowie das »Gamblers Anonymous«-Meeting, wo sie ihre Sucht zu therapieren versucht.

Abbildung i.5, Pos. 633
Abbildung i.5: Karte von Mollie, Pos. 633

In der Mitte sehen wir Mollie. Auf die Frage von Schüll, wo sie sich denn befinde, antwortet sie: »That’s nowhere, that’s the zone« (Pos. 642). Diese Zone ist das Leitmotiv des Buches. Die Zone macht die Attraktivität der Slotmachine aus. In ihr ist alles andere ausgeblendet. »Their aim is not to win but simply to continue«, schreibt Schüll über die Abhängigen (Pos. 359): Ihre Sucht richtet sich nicht auf den möglichen Gewinn, sondern auf die Zeit am Automaten, in der die Zone erreicht werden kann. Sie ist ein fragiles Flow-Erlebnis. Jede Störung wird vermieden: Die Spielsüchtigen nehmen Getränkeflaschen mit an den Automaten, damit ihnen Casinoangestellte keine Gratisgetränke anbieten. Sie vermeiden es, große Gewinne auszuzahlen, damit sie ihren Spielfluss nicht unterbrechen müssen. Schüll beschreibt Fälle, in denen Slotmachines zu drastischen körperlichen Entbehrungen geführt haben: Eine Spielerin spielt vor und nach einer Geburt – mit gelähmten Beinen vom langen Sitzen und nassen Brüsten, aus denen die Milch für den Säugling rinnt. Eine ältere Frau zieht sich mehrere Hosen übereinander an, damit sie während ihren über 70-stündigen Spieltouren nicht zur Toilette muss, ein Diabetiker bricht wegen Unterzuckerung am Automaten zusammen (Pos. 3400ff.). Wird bei Herzinfarkten Sanitätspersonal alarmiert, ist seine Arbeit äußerst schwierig – vor allem, weil die anderen Spielerinnen und Spieler sich weigern, ihre Maschinen zu verlassen, obwohl in ihrer Nähe ein Mensch medizinische Hilfe benötigt (Pos. 680ff.).

Das Spiel an der Maschine löst den Wert von Zeit und Geld komplett auf. Das hängt mit der differenzierten Mechanismen zusammen, welche die Gambling-Industrie einsetzt, um die Menschen an die Maschinen zu fesseln. Ein Game-Designer gesteht im Buch gar, dass er zu den Meetings der Spielsüchtigen ging, um an Informationen zu gelangen (Pos. 5600ff.).

When we put 50 slot machines in, I always consider them 50 more mousetraps. You have to do something to catch a mouse. It’s our duty to extract as much money as we can from customers. – Bob Stupak, CEO Las Vegas Stratosphere, 1995 (Pos. 679)

Dadurch löst sich der Alltag der Betroffenen auf. Sie richten ihr Leben um das Spiel herum ein und beginnen, in ihren Autos vor den Casinos zu schlafen. Besonders paradox ist ihr Umgang mit Geld: Sie sparen ständig mit den ausgefallensten Systemen – um dann ihr ganzes Geld in Automaten zu stecken, wo es in Credits und damit in Zeit in der Zone umgewandelt wird. Diese Paradoxie ist aber beabsichtigt: Die Flucht aus dem Alltag ist es gerade, was Süchtige antreibt. Anders als bei den klassischen Gambling-Analysen von Goffman und anderen, der das Spiel als eine Art zivilisatorischen Agon, also Wettkampf, ansieht, geht es bei der inhaltslosen Interaktion mit der Maschine um einen Rückzug. Spielen wollen sich an Slotmachines nicht mit anderen zu messen oder Erfolg anstreben, sondern den Misserfolg kalkulieren. Die Maschine ersetzt die entweder zermürbende zwischenmenschliche Interaktion der Dienstleistungsbetriebe oder die fehlende der Einsamen durch einen Zufallsgenerator, bei dem das Risiko absolut berechenbar ist. Sie präsentiert Wahlmöglichkeiten, die bedeutungslos sind – im Gegensatz zum zwanghaft freien Leben, bei dem jede Entscheidung Konsequenzen hat (Pos. 3630ff.). Wer an Slotmaschines spielt, weiß, dass er oder sie nur verlieren kann und verlieren wird. Die Slotmaschines lösen den Alltag auf. Deshalb funktionieren sie nur als kostenpflichtige Angebote: Ihr Reiz besteht gerade darin, dass sie Geld vernichten oder eben in Zone-Erfahrung umwandeln.

Spielecke in einer Tankstelle in Las Vegas. Bild: N.D. Schüll
Spielecke in einer Tankstelle in Las Vegas. Bild: N.D. Schüll

Die Industrie entwickelt eine Technologie, die von Süchtigen nachgefragt wird. Die Spielerfahrung wird durch das Design ermöglicht. Dadurch entsteht eine massive Asymmetrie von Kontrolle und Sucht, von Gewinn und Verlust und Risiko und Belohnung (Pos. 5890ff.). Slotmachines, so zitiert Schüll einen Vergleich (Pos. 475ff.), sind das Crack des Glückspiels: Die Möglichkeit, Kokain als Crack zu rauchen, hat die Suchterfahrung komplett verändert, weil es sie beschleunigt hat. Wenn Technologie Menschen so stark manipuliert, dass sich ihr Alltag auflöst und sie kein sinnvolles Leben mehr führen können, dann handelt es sich um einen Alptraum, gegen den so viel wie möglich unternommen werden muss. Schülls Buch lässt Zweifel aufkommen, ob Widerstand überhaupt möglich ist: So stark greifen die Bedürfnisse der Spielenden und die Angebote der Spielindustrie ineinander.

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