Am 13. September trage ich vor der SMAK einen kurzen Input zur Bedeutung der Digitalisierung für die Bildung von Lehrkräften vor. Im Folgenden meine ausformulierten Gedanken dazu. (Slides als pdf)

Einstieg:
Vorbereitung auf die Unterrichtsrealität an Gymnasien –
und die »7 Säulen des Digitalen Lernens«
Wer in der Schweiz eine Anstellung an einem Gymnasium erhalten will, muss seine oder ihre Kompetenz unter Beweis stellen: Meist ein vorgegebenes Thema mit einer Klasse in einer Schulstunde bearbeiten. Die Präsenz der Lehrkraft ist dabei von herausragender Bedeutung – sie soll das ausstrahlen, was oft »natürliche Autorität« genannt wird, aber gleichzeitig auch Empathie, Strukturiertheit, Lockerheit, Fachkompetenz und die Fähigkeit, die Perspektive von Lernenden einzunehmen. Die Lektion selbst soll – so eines der Big10-Items von Meyer – einen hohen Anteil an »echter Lernzeit« enthalten: Das führt zu stark getakteten und geführten Lektionen.
Mit anderen Worten: Vorstellungs- oder Prüfungslektionen können angehende Lehrkräfte wie Zirkuskünstler*innen wirken lassen, die vor Publikum mit einem Käfig von Tigern eine neue Nummer einstudieren. Dass Lernprozesse so ablaufen können, wie das die »7 Säulen des digitalen Lernens« umreißen, ist dabei höchstens ein Hintergedanke. So könnte lernen eigentlich ablaufen, wenn es nicht die Bedingungen des Systems gäbe, das über Zertifikate und Anstellungen entscheidet.
Kurz: An Schweizer Gymnasien gibt es eine Spannung zwischen den herrschenden Unterrichtsstrukturen und dem Lernen von Jugendlichen. In entscheidenden Momenten – Probelektionen sind dafür nur ein Beispiel, auch Maturprüfungen zeigen das sehr schön – setzen sich dabei die Strukturen durch. Die folgenden Ausführungen zeigen Schauplätze und Aspekte dieser Spannung auf, von denen aus unter Umständen Ansätze zu ihrer Auflösung denkbar sind.
»Mechanical Turk«-Bildung als Dystopie
Amazons »Mechanical Turk«-Plattform erlaubt es, so genannte »Human Intelligence Tasks«, also Aufgaben, zu denen menschliche Intelligenz nötig ist, gegen Bezahlung von Interessierten erledigen zu lassen. Wer eine Aufgabe anbietet, kann dafür auch Qualifikationen einfordern – um etwa sicherzustellen, dass die Untertitel von jemandem auf Russisch übersetzt werden, der/die auch tatsächlich korrekte Russisch-Übersetzungen vornehmen kann.
Daraus lassen sich einige Merkmale einer »Mechanical Turk«-Bildung ableiten:
Auch wenn Gymnasien vom Anspruch her sich gegen diese Formen von Bildung vehement zur Wehr setzen, so gibt es in Bezug auf die Digitalisierung und ihre Auswirkungen doch Grund zur Befürchtung, dass sich diese Form von Bildung breit machen könnte. Erkennbar ist das etwa an der zunehmenden Quizifizierung aber auch an der Vorstellung, basale Kompetenzen fürs Studium könnten in standardisierten Tests nachgewiesen werden.
Entscheidend ist aus meiner Sicht hier, digitale Bildung als eine Auseinandersetzung zu konzipieren: Eine Auseinandersetzung mit Stoff, aber auch mit anderen Menschen, Perspektiven und nicht zuletzt mit sich selbst. Die »Mechanical Turk«-Plattform ist das Gegenteil einer Auseinandersetzung, sie verhindert sie unter allen Umständen.
Agile Didaktik und der starre Stundenplan
Agile Didaktik bezeichnet im Anschluss an Christof Arns Buch eine Unterrichtsmethodik, die sich am Gespräch unter Interessierten orientiert: Wie spricht man mit jemandem über ein Thema, bei dem man sich auskennt? So sollte, so Arns überzeugendes Argument, guter Unterricht funktionieren.
In Bezug auf die zeitliche Struktur ergeben sich so zwei Konsequenzen: Ein solches Gespräch wird nicht durch künstliche Unterbrüche strukturiert, sondern bezieht seinen Rhythmus aus der Auseinandersetzung. Es ist auch nicht bis ins Detail geplant, vielmehr bestimmt sich sein Verlauf durch die Interaktion der Beteiligten, ihr Interesse, ihre Fragen und ihre Differenzen.
Schulentwicklung wird oft verstanden als »thinking outside the box«: Was wäre in einer idealen Schule möglich? Wie sähe sie aus? Diese Fragen können zwar zu kreativen Antworten führen, die dann aber immer wieder durch den Stundenplan gebremst werden. Der Stundenplan ist die Box, die an Schulen alles bestimmt. Für Lehrende wie Lernende regelt er Schul- und Freizeit, einen »guten Stundenplan« zu haben ist ganz entscheidend.
Doch der Stundenplan verhindert so agile Didaktik praktisch gänzlich. Das Läuten unterbricht ständig Lernprozesse oder führt zu Leerläufen. Er führt zu Gefäßen von 45-Minuten, die dann gefüllt werden. So wird eine Planung erzwungen, welche digitales Lernen erschwert oder verhindert.
Kompetenzen und Prüfungskultur
Diese Darstellung der OECD zeigt für mich schlüssig, wie Lernen im 21. Jahrhundert funktioniert: Handeln ist Ziel des Lernens. Handeln kann nur, wer Kompetenzen hat, diese wiederum ergeben sich aus einer Kombination von Fähigkeiten, Wissen und Einstellungen.
Wer prüfen will, welche Qualität Lernprozesse oder der Aufbau von Kompetenzen hat, muss sich an diesem Modell orientieren. Das bedeutet dann, Lernende nach Kompetenznachweisen zu fragen, sie dazu anzuregen, über das eigene Lernen nachzudenken, zu sprechen und dafür Verantwortung zu übernehmen.
Doch die an Gymnasien herrschende Prüfungskultur verhindert das geradezu. Sie simuliert den Nachweis von Kompetenzen mit einem untauglichen Modell, das falschen Anreize setzt und Verantwortung und Bewusstsein für das eigene Lernen verhindert.
Es führt zu Rollenkonflikten bei Lernenden wie Lehrenden: Lernende können sich nicht mit anderen wirksam vernetzen, weil sie letztlich immer auf sich selbst zurückgeworfen werden, weil die Prüfungskultur voraussetzt, dass nur Individuen alleine Leistungen erbringen können. Unterricht besteht oft im Austausch, der dann aber kaum »prüfungsrelevant« ist.
Lehrende begleiten einen Kompetenzaufbau, müssen aber auch die »Leistung« von Lernenden nach ganz bestimmten Vorgaben bewerten und Lernende oft auch selektionieren. Dieser Konflikt führt zu enormen Reibungsverlusten und Schwierigkeiten, welche sich immer negativ auf die Lernqualität auswirken.
Offene oder geschlossene Schulen
Lange war die Frage, ob man in Schulzimmer reinsehen sollte, ein architektonisches Problem. Wo diese Offenheit vorhanden ist, wird sie oft auch als Störung empfunden. Das Netz spitzt dieses Problem zu: Die Offenheit ist grundsätzlich da, weil alles, was Menschen tun, im Netz Spuren hinterlässt oder hinterlassen kann. Wer digital arbeitet, erlebt Offenheit oft als Chance, weil so Auseinandersetzungen erfolgen und Anschlüsse möglich werden. Doch Gymnasien beurteilen sie gleichzeitig auch als Gefahr: Angefangen bei Portalen, auf denen Lernende Lehrende bewerten, bis zur Publikation von Arbeitsmaterialien im Netz: Schule wird so als Schonraum konzipiert, dass auch Lehrende und die Organisation vor Anschlüssen geschont werden müssen – nicht nur Lernende, die davor geschützt werden, für Fehler bestraft zu werden. Das ist aber ein Missverständnis: Profis müssen nicht geschont werden. Ihnen kann eine Auseinandersetzung zugemutet werden, ihre Arbeit kann und soll gezeigt und diskutiert werden.
Fazit: Das Gymnasium der Zukunft als Ort der Auseinandersetzung
Gelingt es, an Gymnasien weiterhin relevante Prozesse der Auseinandersetzung zu gestalten, hat die Schule eine Zukunft. Dafür muss sie sich entwickeln und Freiräume erhalten.
Verkommt sie zum Ort, wo standardisierte Kompetenzen beurteilt werden, wird sie in einer plötzlichen Disruption vom Netz ersetzt. Eine »digitale Matur« oder ein »digitales Abitur« – wie lange dauert es, bis eine Plattform das anbietet und vermarktet? Gesucht sind Antworten, weshalb gymnasialer Unterricht davon nicht bedroht ist.
Daraus ergibt sich ein Dilemma für die Lehrer*innenbildung: Woran orientiert sie sich? Vermittelt sie Kompetenzen, die es erlauben, den Anforderungen eines geplanten Unterrichts »inside the box« effizient zu begegnen und sich in der bestehenden Prüfungskultur zu etablieren? Oder ermöglicht sie eine Auseinandersetzung und bereitet sie so auf die Zusammenarbeit mit Jugendlichen vor?
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