»Wohin geht die Reise?«

Morgen nehme ich an einem Hearing der Expertengruppe »Zukunft der Datenbearbeitung und Datensicherheit« in Bern teil.

Die vorgängig an mich gestellten Fragen zum »Analysefeld Bildung, Sensibilisierung und Befähigung der Bevölkerung im digitalen Zeitalter« beantworte ich hier als Vorbereitung schriftlich. Die Antworten stammen von mir, die Fragen von der Gruppe der Expertinnen und Experten.

Block 1: Ist-Zustand und die weitere Entwicklung

Zuerst geht es um den Einfluss des digitalen Wandels auf die Bildung.

Frage 1: Wo stehen wir?
Frage 2: Was sind die Kernthemen, was gilt es zu beachten?

Die Alltags- und Berufskommunikation erfolgen weitgehend mit digitalen Medien – sowohl auf einer technischen Ebene (VoIP für Telefongespräche) wie auch hinsichtlich der verwendeten Werkzeuge (e.g. Chats).

Das hat einen großen Einfluss auf die Bildung – die ebenfalls eine bestimmte Form von Kommunikation darstellt. Grundsätzlich stellen sich drei Fragen:

  1. Welche psychologischen Veränderungen ergeben sich bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch die Verwendung digitaler Kommunikationswerkzeuge? Welchen Einfluss hat das auf die Wahrnehmung von Bildungsangeboten?
    Aktueller Stand: Aufmerksamkeit und Konzentration ändern sich, psychische Probleme werden verstärkt, Bildungskluft vergrößert sich, d.h. Bildungsgerechtigkeit wird schwieriger umzusetzen (»Bildungsparadox«).
  2. Welche digitalen Formen von Didaktik wirken wie? Wie müssen Schulen und Schulzimmer ausgestattet sein?
    Aktueller Stand: Anbieter von Software und Verlage entwickeln laufend Produkte, gleichzeitig großer Druck durch Silicon Valley auf dem Bildungsmarkt spürbar. In Konkurrenz zu dieser digitalen Makro-Bildung steht digitale Mikro-Bildung, bei der Lernende selbst Teile des Netzes bauen. In der Schweiz sind Schulen und Schulzimmer im Vergleich mit den umliegenden Ländern sehr gut ausgestattet, viel Geld ist vorhanden, aber eine Vision fehlt. LP21 füllt hier eine Lücke, aber nur zu einem Teil.
  3. Welche Kompetenzen müssen Lernende für die Gesellschaft und die Arbeitswelt der Zukunft erwerben?
    Aktueller Stand: Viele Prognosen, viele Phrasen, aber wenig Konkretes. LP21 in dieser Hinsicht recht konservativ (schreibt nicht einmal Tastaturschreiben klar vor), OECD mit Kompetenzbeschreibungen viel weiter.

OECD

Frage 3: Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Primär bei der Didaktik und bei der Vorstellung, wie Lernen in Zukunft aussehen wird. Im Moment laufen viele Debatten über juristische Fragen, über Normen und über Schulausstattung, die sich leicht werden lösen lassen. Dabei werden viele didaktische Überlegungen übersehen: Entweder fällt man in eine konservative Position zurück und denkt, die Schule wisse irgendwie schon, wie (und welche) Kompetenzen zu vermitteln seien, wenn man sie in Ruhe lasse – oder man lässt sich von einem technisch beeindruckend umgesetzten Behaviorismus verführen, der lerntheoretisch überholt ist, aber viele Lerntools prägt (Stichwort »Quizifizierung«).

Wenn Sie nun an die gesamte Bevölkerung denken (losgelöst von der Bildung):

Frage 4: Wo steht die Bevölkerung?
Frage 5: Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Im Moment nehme ich Bezug auf die Normen eine gewisse Entspannung wahr: Es wird deutlich, dass die Gesellschaft Wege finden wird, um mit den offensichtlichen Schwierigkeiten der Digitalisierung umzugehen. Viele Menschen bewegen sich in einem Bereich zwischen Nostalgie und Euphorie, was grundsätzlich konstruktiv ist.

Die Disruption der Berufswelt führt jedoch zu einer latenten Verunsicherung. Heute habe ich ein Interview mit einer Ausbildungsverantwortlichen in der Berufsbildung gemacht. Sie drückte ihre Zweifel aus, ob es die Berufe, für die sie heute Jugendliche ausbildet, überhaupt noch geben werde. Hier Wege zu zeigen, wie existenzielle wirtschaftliche Verfahren bzw. konkreter Arbeit in Zukunft funktionieren werden, scheint mir sehr wichtig zu sein. Was können Menschen in Zukunft mit ihren Fähigkeiten bewirken?

Block 2: Möglichkeiten und Grenzen (Soll-Zustand)

Wieder zurück zur Bildung:
Frage 6: Wohin geht die Reise?

Die Reise geht zu Amazons »Mechanical Turk«: Menschen werden Maschinen bei den Aufgaben helfen, die sie selbst nicht gleichwertig lösen können. Lernen bedeutet in diesem System, standardisierte Kompetenzen nachzuweisen, die sich anwenden lassen.

Daneben wird es die humanistischen Bildungsvorstellungen weiterhin noch geben, aber sie werden nur für eine (globale) Elite von Bedeutung sein. Wenn sich Bildung so entwickelt, wie sich das heute abzeichnet, wird es ausgezeichnete Software geben, die Menschen effizient trainiert – und daneben Foren mit hochstehenden Debatten und den Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung.

Frage 7: Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen langfristig  (für die nächsten 10-20 Jahre)?
Frage 8: Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen mittel- und kurzfristig (für die nächsten 5 Jahre)?

Langfristig besteht die Herausforderung, Menschen auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten. Berufliches und privates Lernen werden dabei verschmelzen, standardisierbare Kompetenzen an Bedeutung einbüssen, Fächer eine geringere Rolle spielen, Projektarbeit und Kooperationsfähigkeiten eine wichtigere Rolle spielen. Medienkompetenz wird nicht eine überfachliche Kompetenz sein, die an Fächer angehängt wird oder in ihnen erarbeitet wird, sondern eine vorfachliche Kompetenz, ohne Medienkompetenz gibt es gar kein fachliches Wissen.

Kurzfristig muss Digitalisierung auf allen Schulstufen mehr sein, als in Lernmanagementsystemen vordefinierte Aufgaben zu erfüllen. Das lebendige Netz muss erhalten bleiben, also eher eine Website für alle Lernenden als eine nationale Bildungscloud.

Bei der Sensibilisierung und Befähigung der Bevölkerung:
Frage 9: Wie sieht der Soll-Zustand aus?

Digitale Informationsverbreitung erfordert generell eine hohe Medienkompetenz. Das zeigt die ganze Debatte um »Fake News«: Die Einordnung von Informationen wird immer mehr den Menschen selbst überlassen, ähnlich wie andere Arbeitsschritte im Dienstleistungsgewerbe. Zentral wird also die Fähigkeit sein, sich über Vorgänge in der Welt informieren zu können, die Voraussetzungen für demokratische Teilhabe zu erhalten.

Teilhabe generell erfordert digitale Kompetenzen: Hier braucht es besonders für Menschen ohne solides Bildungsfundament Unterstützung.

Frage 10: Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen langfristig  (für die nächsten 10-20 Jahre)?
Frage 11: Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen mittel- und kurzfristig (für die nächsten 5 Jahre)?

Vermischt sich: Fähigkeit, digitale Tools kompetent und selbstbestimmt einzusetzen (Billetkauf, Steuererklärung etc.). Entwicklungen im Medienbereich mit eigenen Filterfähigkeiten aufzufangen und zu begleiten.

Hinzu kommt, dass viele Unternehmen sich als »lernend« verstehen, also nicht genau wissen, womit sie in 10 Jahren ihr Geld verdienen, sondern von Mitarbeitenden erwarten, Innovation während ihrer Arbeit zu entwickeln. Das verändert die Anforderungen an produktive Arbeit.

Block 3: Kurz- und langfristiger Handlungsbedarf (Massnahmen, Lösungen)

Frage 12: Welche Massnahmen und Lösungen sehen Sie in Bezug auf die Bildung?

Entscheidend ist für mich, über den Lehrplan 21 hinauszudenken und an Lernorten der Zukunft zu arbeiten. Ideal wären Musterschulen, die einen experimentellen Betrieb aufnehmen und eine Orientierung für Bildungsverwaltungen, Verlage, Schulverantwortliche und die Bildungspolitik bilden.

Weiter ist die Ausbildung von Lehrkräften ganz entscheidend: Es braucht Personal, das digital souverän ist, eigene Lösungen entwickeln kann und genügend Freiräume erhält, ansonsten steht eine »Mechanical-Turk«-Bildung vor der Tür.

Losgelöst von der Bildung, bei der Sensibilisierung und Befähigung der Bevölkerung:

Frage 13: Wie kann die Bevölkerung (ausserhalb des typischen Bildungsbereiches) mit auf den Weg der Digitalisierung genommen werden (digitale Aufklärung)? Welche Massnahmen und Lösungen sehen Sie da?
Frage 14: Wie kann die Bevölkerung zum einen sensibilisiert und zum anderen befähigt werden in dieser Entwicklung gestaltend mitzuwirken?

 

Das sind schwierige Fragen. Einerseits bieten Massenmedien hier viel an: Digitalisierung ist konstantes Thema, bei dem Menschen eingeladen werden, ihre Meinungen und Erfahrungen auszudrücken. Die Schweiz ist hier in meiner Wahrnehmung auf einem guten Weg, auch die Infrastruktur ist an vielen Orten so ausgebaut, das Teilhabe grundsätzlich kein Problem ist.

Gezielte Angebote für digital Abgehängte scheint mir gleich wichtig, wie die Pflege eines unabhängigen Netzes jenseits der Plattformen. Auch deutliche politische Positionen in Bezug auf Digitalisierung, Datenschutz und digitale Bildung sind erforderlich, um das Vertrauen in die Teilhabe zu erhalten und zu vergrössern. Die Bevölkerung darf keine Angst haben, sich Probleme einzuhandeln, wenn Mitwirkung erfolgt.

5 Kommentare

  1. brueedi sagt:

    „Welche Kompetenzen müssen Lernende für die Gesellschaft und die Arbeitswelt der Zukunft erwerben?
    Aktueller Stand: Viele Prognosen, viele Phrasen, aber wenig Konkretes. LP21 in dieser Hinsicht recht konservativ (schreibt nicht einmal Tastaturschreiben klar vor), OECD mit Kompetenzbeschreibungen viel weiter.“

    Betone ich seit Jahren, mit allen Mitteln, auf allen Kanälen – aber vermutlich dennoch falsch, läuft doch absolut rein gar nichts. Und wenn doch, dann eindeutig falsch.

    „Kurzfristig muss Digitalisierung auf allen Schulstufen mehr sein, als in Lernmanagementsystemen vordefinierte Aufgaben zu erfüllen. Das lebendige Netz muss erhalten bleiben, also eher eine Website für alle Lernenden als eine nationale Bildungscloud.“

    Betone ich seit Jahren, …

    „Weiter ist die Ausbildung von Lehrkräften ganz entscheidend: Es braucht Personal, das digital souverän ist, eigene Lösungen entwickeln kann und genügend Freiräume erhält, ansonsten steht eine »Mechanical-Turk«-Bildung vor der Tür.“

    Betone ich seit Jahren, …

    Hinweis an die LeserInnen dieses Artikels
    Werde „Digital souverän“ und beteilige dich an der http://rueedi.imnusshof.ch/lernenunterwegs/

  2. Anonymous sagt:

    … während dem Lesen Ihrer Ausführungen haben sich mir – interessierter Leser Ihrer Beiträge – einige Fragen gestellt, lieber Herr Wampfler:

    1. Bildung stelle eine Form von Kommunikation dar, sagen Sie. Wie ist das gemeint? Was ist Bildung?

    2. Sie schreiben mehrmals von jenen Kompetenzen, die für die Zukunft der SchülerInnen von Relevanz seien. Welche Kompetenzen sind Ihrer Meinung nach diesbezüglich die drei relevantesten?

    3. Die dritte Frage schliesst an die ersten zwei Fragen an. Was für Inhalte – was für Stoffe – sind geeignet, um Bildung hervorzubringen? Um Kompetenzen hervorzubringen?

    … es wäre schön, wenn Sie auf meine etwas umfassenden Fragen einige – wie soll ich sagen? – pointierte Antworten geben können: Nach dem, was ich von Ihnen gelesen habe, dürste ich sozusagen nach Aufklärung.

    Liebe Grüsse schickt
    Christian

    1. brueedi sagt:

      1. Bildung geht nur kommunikativ – das muss nicht weiter erklärt werden.
      2. Das Digitale wird für die absehbare Zukunft eine Schlüsselkompetenz sein.
      3. „Bildung ist, was übrig bleibt“ – Bildung + Ausbildung = relative Kompetenz

    2. Danke für die Fragen, hier meine etwas späte Antwort:
      1. Dieser Frage wollte ich ausweichen. Peter Bieri sagt etwa, Bildung sei die Orientierung in der Welt. Aber auch die geschieht ja mittels Kommunikation, die Welt »ist« genau so wenig wie die Orientierung, beide sind immer schon medialisiert.
      2. Die drei relevantesten Kompetenzen sind die Fähigkeit zur echten Zusammenarbeit, das Entwickeln von eigenen Lernstrategien, das Erfassen von komplexen Problemen.
      3. Eigentlich alle Stoffe, die komplexe Probleme enthalten, die durch Anwendungen und Abstraktion bearbeitet werden können.

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