Rezension: Christof Arn – Agile Hochschuldidaktik

Hoffentlich haben Sie nicht alles gelesen, oder wenigstens nicht in der vorgesehenen Reihenfolge. Hoffentlich haben Sie Widerspruchsgeist und sind deutlich anderer Meinung. Hoffentlich entwickeln Sie ganz eigene Wege, Ihre eigensinnige Didaktik, Dinge, an die vielleicht noch nie jemand gedacht hat […] Hoffentlich sind Sie mit von der Partie bei der kleinen oder eben vielleicht doch großen Revolution, die stattfindet, wenn sich Lernende und Lehrende nicht nur auf Augenhöhe treffen, sondern offen begegnen. (S. 230)

Dieses Zitat aus dem Schlussabschnitt von Christof Arns Buch zur agilen Didaktik (Webseite, Verlagslink) passt gut zu meiner Lektüreerfahrung: Gelesen aus der Perspektive des digital interessierten Gymnasiallehrers und Fachdidaktikers hat mich die Faszination für diese Revolution zwar schon vor der Lektüre ergriffen, das Buch hat aber mit vielen Beispielen Zusammenhänge konkretisiert, mit Beispielen unterfüttert und Entwicklungsperspektiven angeregt. Gleichwohl habe ich einige hochschulspezifische Passagen nur überflogen.

Die Idee der agilen Didaktik ist einfach: Man stelle sich vor – so Arns Beispiel ab S. 52 -, man treffe auf der Straße einen Nachbarn, der sich an dem interessiert zeigt, was man unterrichtet. Nach dem Nachtessen kommt er vorbei, um mehr darüber zu erfahren. Wie verhält man sich?

Während Sie nun erklären, um was es geht, werden Sie immer Kontakt halten. Auf keinen Fall werden Sie weiterreden, wenn Sie wahrnehmen, dass er sich nicht mehr interessieren würde! […]
Sie würden stets offen sein für Fragen. Sobald sie denken, er könnte etwas fragen, erwidern, ergänzen wollen, würden Sie innehalten und dafür Raum geben.
Je mehr sich das Ganze zu einem Gespräch entwickelt, je dialogischer es wird, vor allem dann, wenn dabei viel von der Thematik besprochen und geklärt werden kann, umso glücklicher werden Sie mit dem Abend sein. (S. 53)

Die agile Didaktik umreißt also das, was erfahrene Lehrkräfte schon länger als »Schwellenpädagogik« oder »Türklinkendidaktik« (Hilbert Meyer) beschreiben: Lehrende müssten sich »Speck anfressen« (S. 73), indem sie zu Expertinnen und Experten in ihren Gebieten werden. Mit Interessierten sprechen sie darüber und überlegen sich, welche Hilfsmittel (z.B. Visualisierungen, Geschichten, Beispiele etc.) dabei helfen, Zusammenhänge zu verstehen. So bereiten sie letztlich sich selbst auf den Unterricht vor – nicht den Unterricht. Die Entscheidungen für das Lehrhandeln erfolgen während des Unterrichts, nicht bei seiner Planung.

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Diese überzeugende Idee, die sich in der Lehrpraxis teilweise von selbst ergibt, oft aber auch viel Mut braucht, wird von Arn mit einer Reihe von Rezepten gestützt, wie das Inhaltsverzeichnis deutlich macht. Grundsätzlich formuliert er drei Anstöße:

  1. Die Haltung gegenüber dem Unterricht.
    Lernende werden konsequent als Ressourcen verstanden, Lehrende übernehmen nicht primär die Verantwortung für Wissensinhalte, sondern für die Zusammenarbeit, Lehrende verstehen sich als Lernende und distanzieren sich von Hierarchiedenken.
  2. Das Geschehen im Unterricht.
    Lehrende distanzieren sich radikal vom »schüelerlen« (S. 63f.) und fordern das auch von Lernenden. In diesem Sinne orientieren sie sich an Kompetenzen, die in eine Praxis situiert sind: Welche Situationen können Lernende im Anschluss an den Unterricht (wie) meistern? Durch die Lösung von inhaltsbezogenen Zielen entsteht ein Freiraum für Lehrkräfte, den sie für die agile Didaktik nutzen können. Arn beschreibt oft, wie entlastend es ist, nicht Stoff abzuarbeiten, sondern mit einer Gruppe Lernenden Ziele anzustreben.
  3. Interaktion.
    Lernende müssen als Konsequenz von 2. Verantwortung für ihr Lernen übernehmen und in ein Gespräch eintreten. Dafür analysiert Arn beispielsweise einen sinnvollen Umgang mit Fragen (S. 137ff.), der für ihn im Mittelpunkt steht. Entscheidend scheint, Lernende ganz offen nach ihren Bedürfnissen und Interessen zu fragen, auch vor und währendem dem Unterricht, um methodische Entscheidungen interaktiv fällen zu können.

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Diese drei Anstöße ergänzen einander, bedürfen aber auch der kontinuierlichen Entwicklung in der eigenen Praxis. Selbstverständlich brauchen Lehrkräfte, die agil unterrichten, ein solides Repertoire an Methoden. Sie sollen es, geht es nach Arn, selbständig erweitern, indem sie Lehr- und Lerntechniken erfinden (S. 150ff.).

Arn packt viel in sein Konzept – von Feedback über Qualitätssicherung zu seiner Abneigung gegen PowerPoint. So überzeugend seine Beispiele und Argumente wirken, so wenig lässt sich der Eindruck verhindern, das Konzept sei im Buch etwas überfrachtet worden.

Schält man alle hochschulspezifischen Aspekte weg – dazu gehört auch ein herausragendes Kapitel zum Unterricht in großen Gruppen – und engt die Perspektive auf einen digital gestützten, gymnasialen Unterricht ein, dann nehme ich folgende Punkte besonders mit:

  1. »Lehrende müssen und dürfen daher davon ausgehen,

    dass Lernende sich eigene Wissensquellen erschließen. Denkt man das konsequent, bedeutet das flipped classroom ohne Dozierendenaktivitäten für die Wissensaneignung. Man braucht sich lediglich noch darüber zu verständigen, in welches Thema, welches Wissen, welche Inhalte sich die Lernenden bis zum nächsten Treffen vertiefen – und kann sie dann sich selbst überlassen. […] Diese Entwicklung wird in noch radikalerer Weise geradezu verlangen, dass Dozierende kaum mehr legitimerweise irgendwelche vorgefertigten Zeitpläne im Präsenzunterricht abspulen können. Vielmehr werden sie sogar zwischen den Präsenztreffen performen [ein Synonym für agile Didaktik], auf diversen elektronischen Kanälen wahrnehmen, was die Studierenden gerade tun und unterstützend und prozessmoderierende kreativ Lernen unterstützen.« (S. 44)

  2. Lehrveranstaltung im Rahmen der agilen Didaktik sollen von Wissensspeichern begleitet werden, die Lernenden diese Eigenaktivität ermöglichen. (S. 118ff.)
  3. Hinzu kommt eine flexible Dokumentation der Lernprozesse, an der Lernende stark beteiligt sind.
  4. Auch die Bewertung des Lernens muss auf situationsbezogene Kompetenzen abgestimmt sein, also eine agile Bewertung darstellen. Arn erwähnt ein Beispiel eines Dozenten, der die Studierenden die Prüfungskriterien gemeinsam erarbeiten lässt (S. 190). Das mache ich bei Aufsätzen oft auch. Prüfungen sind so kaum überraschend, sondern relevant, Lernende zeigen, was sie können.

Es ist etwas schade, dass der Beitrag des Mathematiklehrers Alfred Vogelsanger, mit dem das Buch die Perspektive des gymnasialen Unterrichts vertiefen sollte, stark auf einer pessimistischen Sicht auf die gymnasiale Bildung geprägt ist – er sieht mangelnde Freiräume für Lehrende sowie nur eine »Minderheit der Schülerinnen und Schüler«, die für gymnasiale Fächer offen sind. Entsprechend mutlos erscheinen mir seine Beispiele für agilen Unterricht, der für ihn letztlich aus Miniprojekten entsteht.

Agile Didaktik ist eine Leitvorstellung, von der Gymnasien in ihrer Entwicklung und nötigen Modernisierung stark profitieren können. Es ist zu hoffen, dass das Buch von Arn die Grundlage für eine intensive Diskussion darstellt.