Immer wieder erstaunt mich, dass der vielschichtigen Herausforderung, welche die Digitalisierung für die Schule als System darstellt, nicht auf eine naheliegende Weise begegnet wird: Durch die Betonung der »Schonraum«-Funktion der Schule.
Schonraumlernen bezeichnet die Vorstellung, dass Lernen in einem Umfeld geschehen soll, das Fehler verzeiht und Settings anbietet, die an den Kompetenzaufbau der Lernenden angepasst sind.
In Bezug auf den Einsatz digitaler Kommunikation kann eine naive von einer differenzierten Schonraum-Vorstellung unterschieden werden: Viele Schulen orientieren sich an einer naiven Schonraum-Vorstellung, indem sie sich implizit oder explizit an kulturpessimistischen Vorstellungen orientieren, wie sie etwa kürzlich Michael Furger in der NZZ am Sonntag ausgeführt hat:
Mehr Kompetenzen, weniger Wissen – das ist auch die Idee des Lehrplans 21 und somit das künftige Modell für unsere Schulen. Damit wird im Grunde der traditionelle Bildungskanon zu einem Auslaufmodell. Geschichte, Literatur, Geografie: So etwas kann man ja – wenn man es wirklich genau wissen will – aus dem Netz saugen.
Das ist natürlich Unsinn. Denn wie soll jemand einigermassen erfolgreich durchs Leben kommen mit einem Verstand, den die Internet-Suchmaschinen in die Form eines Pfannkuchens gezogen haben? Wie soll ein solcher Verstand eine gefährliche Idee oder eine perfide Lüge abwehren können? Im Kopf gespeichertes Wissen indes gibt uns einen Orientierungsrahmen, um jene Informationen einzuordnen, die uns aus dem Netz entgegensprudeln.
Kompetenzorientierung und Netzlernen werden als oberflächlich abgetan, die Smartphones der Jugendlichen zudem als eine Gefahr dargestellt, zu der Präventionsveranstaltungen als notwendig erachtet werden. Lernen wird hier als Aufbau von Wissen verstanden, als Vorbereitungen auf Prüfungen, als »büffeln« und bearbeiten von Prüfungsfragen. Es wird durch digitale Kommunikation gestört, aufgehalten, ineffizient. Die Schule schafft also einen Schonraum, um diese Vorstellung von Lernen zu bewahren.
Diese Interpretation ist nicht haltbar, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgeht. Sie orientiert sich an einem grob verzerrten Bild von digitaler Kommunikation und Kultur, überschätzt die Leistungen und Möglichkeiten der Wissensvermittlung und des traditionellen, lehrpersonenzentrierten Lernens. Anders gesagt: Es ignoriert die Erkenntnisse, welche das eigene System infrage stellen.
Eine differenzierte »Schonraum«-Konzeption orientiert sich an der Auseinandersetzung als Voraussetzung, in Lernnetzwerken teilnehmen zu können. Offenheit für neue Inhalte, Umgang mit anderen Perspektiven, Assoziationen formulieren, Verdichtungen vornehmen, Modelle verstehen, Abstraktionen erklären, eigene und fremde Meinungen kritisch befragen und echte Formen von Zusammenarbeit erleben und reflektieren sind wesentliche Kompetenzen für wirksames Lernen im 21. Jahrhundert – ein Lernen, das längst eine große Bedeutung in der Berufswelt hat und sich nicht mehr auf die Schule beschränkt. Die Kompetenzen können im Netz erworben werden, sie sind aber auch eine Voraussetzung, um im Netz wirksame Lernprozesse voranbringen zu können.
Die differenzierte Schonraumkonzeption geht von diesen Vorstellungen aus und schafft in der Schule ein Klima, in dem echte Auseinandersetzungen mit Fragen und anderen Personen möglich sind. Dazu ist digitale Kommunikation nicht unbedingt notwendig. Ein Beispiel dazu ist das Integral-Programm des Saint Mary Colleges:
Es ist ein Beispiel für ein »Great Books Program«, also Universitätslehrgänge, die sich an einem Kanon wichtiger Werke als Grundlagenausbildung orientieren. Diese Kanonisierung kann in sich gewisse Probleme aufweisen, die didaktische Umsetzung der Auseinandersetzung und die Rolle der Lehrpersonen – »we don’t teach, we don’t profess« ist jedoch beachtlich. Es geht letztlich darum, dass die Lernenden eigene Wege finden, Fragen stellen, einander konfrontieren.
Nicht jede Schule soll sich an diesem Modell orientieren. Aber ich wundere mich, dass nicht innovative Gymnasien oder Grundschulen diesen Weg stärker einschlagen, ein klares Profil formulieren und sich aufs Lernen fokussieren, statt auf die Frage, mit welchen Geräten das geschehen soll.
Ich frage mich, warum diese Methode digital angewendet werden soll. Sollte sie nicht erstmal analog funktionieren? Mir wird der Vorteil des Digitalen aus Ihrem Artikel nicht klar. Schließlich setzt diese Methode ein hohes Maß an Kommunikationskompetenz, Refklexionsfähigkeit, Diskussionsfähigkeit und Toleranz für die Meinung anderer voraus. Zudem benötigt es erworbene Arbeitstechniken, wie Textanalyse und -verständnis. M.E. eher etwas für ältere SchülerInnen oder Studierende, die in kleine Kursen lernen, für Klassen it bis zu 30 Schüler nicht realisierbar..
Ein Schonraum Schule wäre hinsichtlich mehr Fehlertoleranz, Akzeptanz von Unterschieden, weniger Mobbing auf jeden Fall wünschenswert.
Der Lehrplan 21 ist, ob wir dies wahrhaben wollen oder nicht, im Dunstkreis der SVP entstanden. Keine andere Partei hat sich während der letzten Jahre derart konsequent dafür eingesetzt, dass die SchülerInnen in der Schule lernen sollten, was sie später brauchen können.
Der Begriff Kompetenz impliziert, dass ich etwas kann, dass dieses Können ein fester, absoluter Wert ist – und verschweigt, dass Kompetenz eine unzuverlässig messbare Grösse im Moment ist.
Dass die Schule das vermitteln soll, was für das Leben wichtig ist, überzeugt mich – Auch wenn Leute aus dem Dunstkreis der SVP-Hasser jetzt den Lehrplan 21 zum SVP-Bashing missbrauchen.
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Dass Wissen, Können, Kompetenzen usw. nicht mit physikalischer Genauigkeit messbar sind macht diese Begriffe nicht weniger wichtig.
Hat dies auf Bildungsdesign rebloggt und kommentierte:
„Eine differenzierte »Schonraum«-Konzeption orientiert sich an der Auseinandersetzung als Voraussetzung, in Lernnetzwerken teilnehmen zu können. Offenheit für neue Inhalte, Umgang mit anderen Perspektiven, Assoziationen formulieren, Verdichtungen vornehmen, Modelle verstehen, Abstraktionen erklären, eigene und fremde Meinungen kritisch befragen und echte Formen von Zusammenarbeit erleben und reflektieren sind wesentliche Kompetenzen für wirksames Lernen im 21. Jahrhundert – ein Lernen, das längst eine große Bedeutung in der Berufswelt hat und sich nicht mehr auf die Schule beschränkt. Die Kompetenzen können im Netz erworben werden, sie sind aber auch eine Voraussetzung, um im Netz wirksame Lernprozesse voranbringen zu können.“
In welcher Berufswelt?