Wie man mit dem Informationsfluss kompetent umgeht: Infotention

In seiner Enzyklopädie dachte Denis Diderot schon 1755 über Informationsüberfluss nach:

As long as the centuries continue to unfold, the number of books will grow continually, and one can predict that a time will come when it will be almost as difficult to learn anything from books as from the direct study of the whole universe. It will be almost as convenient to search for some bit of truth concealed in nature as it will be to find it hidden away in an immense multitude of bound volumes. When that time comes, a project, until then neglected because the need for it was not felt, will have to be undertaken.
[zitiert nach der Übersetzung von Baker et al., deutsche Übersetzung phw:] Mit den Jahrhunderten wird die Zahl der Bücher kontinuierlich wachsen, und man kann eine Zeit voraussehen, in der er es ebenso schwierig sein wird, von Büchern etwas zu lernen wie durch das Studium des ganzen Universums. Es wird fast gleich umständlich sein, nach einem Stück Wahrheit zu suchen, das von der Natur versteckt wird, wie nach einem, das sich in einer Unzahl von Bändern verbirgt. Wenn diese Zeit kommt, wird ein Projekt nötig sein, das man bisher vernachlässigt hat.

In seinem Buch Net Smart hält Howard Rheingold fest, dass wohl jeder Wandel, der zu effizienteren Kommunikation führt, folgende Reaktionen mit sich bringt:

  1. Alarmismus aufgrund der Überlastung durch die verfügbare Information.
  2. Entwicklung von Werkzeugen zum Umgang damit (z.B. stilles Lesen, Interpunktion, Kodex-Form des Buches etc.).
  3. Eine neue Generation von Menschen, die fähig ist, die neuen Werkzeuge einzusetzen.

Rheingold entwickelt in seinem Buch ein Konzept, das er »Infotention« nennt. Es geht aus von der fundamentalen Einsicht, dass sich Information und Aufmerksamkeit komplementär verhalten: Je mehr Informationen gleichzeitig verfügbar sind, desto weniger Aufmerksamkeit kann ihnen gewidmet werden. Rheingolds Konzept besteht aus drei Bestandteilen:

  1. Die Fähigkeit, in jedem Moment die zur Situation passende Aufmerksamkeit aufbringen zu können.
  2. Filter und Dashboards einrichten zu können, die Informationen bereit halten.
  3. Die Pflege eines sozialen Netzwerkes, das mit sinnvollen Empfehlungen das Rauschen der Informationen durchbrechen kann.
Bild aus Rheingold: Net Smart.

Es geht also darum, die eigenen Gewohnheiten in Bezug auf Aufmerksamkeit mit entsprechenden Werkzeugen zu koppeln. Am Anfang steht für Rheingold die Formulierung eines Ziels, das man auf einem Stück Papier notiert und gut sichtbar neben oder an den Bildschirm klebt. Es hilft einem dabei, jede Online-Aktivität zu prüfen.

Man kann seine Infotention-Fähigkeit einfachen Fragen üben:

  • Was will ich gerade tun oder erreichen? (Z.B., wenn ich mich an den Computer setze oder das Smartphone hervorhole.)
  • Wo klicke ich gerade drauf?
  • Wie gehe ich damit um?

Die letzte Frage führt zu einem einfachen Triage-Modell: Links, Inputs etc. müssen abgelegt werden, wenn sie mittel- oder langfristig wichtig sein könnten – aber dürfen nicht zu einer Ablenkung führen. Es ist also nötig, dafür entsprechende Tools zu haben.

Ich benutze einen einfachen Mechanismus:

  • Was kurzfristig interessant sein könnte, öffne ich in einem Browser-Tab.
  • Was ich mittelfristig lesen werde, speichere ich mit Instapaper ab.
  • Was langfristig wichtig sein könnte, lege ich in einem Lesezeichen-Ordner im Browser ab.

Rheingold fordert nun die Entwicklung einer Kompetenz, Filter und Dashboards managen zu können. Damit meint er Tools, die Informationen durchsuchen und Relevantes hervorheben und Irrelevantes ausblenden. Er fordert, dass diese Kompetenz in der Schule einen prominenten Platz einnehmen muss. Wichtig sei es, in den Strom der Information eintauchen zu können: Eintauchen als eine gezielte, bewusste Tätigkeit, die auch das Auftauchen einschließt und mit der niemand Gefahr läuft, vom Strom mitgezogen zu werden oder darin zu ertrinken.

Als Beispiel zitiert er eine Lehrerin, Meredith Stewart, die ihre Schülerinnen und Schüler im sechsten Schuljahr gerade solche Fähigkeiten lehrt:

Wie aus Medienkonsum Lernprozesse entstehen

Ich lese im Moment Net Smart von Howard Rheingold – ein Buch, in dem es darum geht, welche Kompetenzen es braucht, um in einer Informationswelt, die von sehr schnellem Informationsaustausch und sozialen Netzwerken geprägt ist, den Überblick zu behalten, die Kontrolle zu erlangen und lernen zu können. Eine Rezension folgt.

Howard Rheingold in Amsterdam, 2010.

Rheingold erwähnt Dan Gillmors Buch Mediactive (hier online lesbar als CC-BY-NC-SA), in dem fünf Prinzipien entwickelt werden, wie Inhalten auf Social Media begegnet werden soll. Die Prinzipien sind schöne Beispiele dafür, wie sorgfältiger Konsum von medialen Inhalten eine breite Palette von Lernprozessen auslösen kann – eine der wichtigsten Thesen Rheingolds. Er erwähnt beispielsweise im Internet engagierte Jugendliche (z.B. Bloggerinnen, Youtuber, Gamerinnen), die trotz ausgiebigem Konsum einer Reihe von Fragestellungen explorativ nachgehen und eigenständig lernen. Rheingold zitiert Mizuko Ito:

Themen autonom nachzugehen aufgrund eines persönlichen Interesses, indem man zufällige Suchprozesse durchführt und ausprobiert, führt dazu, dass Jugendliche mehr Verantwortung für ihr Lernen übernehmen.

Hier Gillmors Prinzipien – in meiner Adaption – mit einem kurzen Kommentar:

  1. Sei skeptisch.
    Bevor man Informationen teilt, sollte man sie prüfen. Ideal ist die von Rheingold vorgeschlagene »Triangulationsmethode« – eigentlich reichen aber auch die klassischen zwei unabhängigen Quellen:  Wenn Informationen von drei bzw. zwei glaubwürdigen Quellen bestätigt werden, ohne dass die aufeinander Bezug nehmen, dann ist die Information glaubwürdig.
  2. Sei nicht allem gegenüber gleich skeptisch: Lasse dein Urteil walten. 
    Wer skeptisch ist, kann schnell dazu übergehen, dass Vertrauen in alle Information, die nicht von Freunden stammt, zu verlieren. Das ist gefährlich. Wir müssen Informationen beurteilen und riskieren, dass wir uns einmal getäuscht haben. Das ist weniger schlimm, als wenn wir keine Informationen mehr zur Kenntnis nehmen.
  3. Verlasse deine Komfortzone und deine Bubble.
    Suche immer auch nach Informationen, die deinen Haltungen widersprechen und widerlegen könnten, woran du und deine wichtigsten Bezugspersonen glauben.
  4. Stelle mehr Fragen.
    Gerade wenn man nach Informationen sucht, sollte man sich fragen, wie denn gute Antworten aussehen könnten. Das verbessert die Suche, ihre Resultate. Gleichzeitig helfen Fragen aber auch, eigene Lücken offen zu legen und ermöglichen in sozialen Netzwerken, von kompetenten Auskunftspersonen direkt wertvolle Informationen zu erhalten.
  5. Lerne Medientechniken verstehen und anwenden. 
    Seit einiger Zeit ist es unter JournalistInnen Mode geworden, das Programmieren zu erlernen. Sie lernen so eine Technik, die für den Umgang mit Daten entscheidend ist. Wenn sie sie aktiv beherrschen, sind sie auch in der Lage, zu verstehen, was mit Daten gemacht wird und wie man ihre Aufbereitung beurteilen kann.

Hier ein ganz einfaches Beispiel, wie spielerisches Konsumieren von Inhalten Lernprozesse auslösen können:

Das Wikipedia-Rennen. 

  1. Nimm einen aktuell relevanten Wikipedia-Artikel, z.B. »Gazastreifen«. Das ist der Start des Rennens.
  2. Versuche, von dort entweder zum Artikel des Tages zu gelangen (heute ist es »Dinosaurier«) oder zu einem zufälligen Artikel zu gelangen.
  3. Man darf nur immer auf einen Wikipedia-Link in einem Artikel klicken, um einen Schritt weiterzukommen.
  4. Jeder Link gibt einen Zug.
  5. Wer am wenigsten Züge benötigt, gewinnt.

(Mehr Beispiele gibt es in meinem Originalpost zum Spiel.)

Lösungsvorschlag Gazastreifen – Dinosaurier:  Gazastreifen – Liste deutscher Gemeinden nach Bevölkerungsdichte geordnet – BerlinMuseum für Naturkunde (Berlin) – Dinosaurier = 4 Züge.